Querelen um den Thüringer Ministerpräsidenten Die Wahl von Thomas Kemmerich und der historische Vergleich zur NSDAP

23. Februar 2021, 20:00 Uhr

Erstmals in Deutschland wurde 2020 in Erfurt ein Ministerpräsident mit den Stimmen der AfD gewählt. Es war ein Tabubruch mit historischen Parallelen. Vor 90 Jahren übernahm die NSDAP im Thüringer Landtag Regierungsverantwortung. Es war für Hitlers Partei ein Testlauf zur "legalen Machtübernahme" mit Hilfe liberaler und bürgerlicher Parteien in ganz Deutschland.

Es war schon ein bemerkenswerter Tag gestern im Thüringer Landtag. Thomas Kemmerich von der FDP, dessen Partei bei den Landtagswahlen gerade einmal fünf Prozent ergattert hatte, wurde zum neuen Ministerpräsidenten des Landes gewählt. Und das mit den Stimmen der rechten AfD. Ein ungeheuerlicher Vorgang, der in ganz Deutschland umgehend Entsetzen und Proteste auslöste. Dabei hatte Kemmerich, die "Glatze, die in Geschichte aufgepasst hat" (FDP-Wahlwerbung), stets erklärt, mit der AfD keine gemeinsame Sache machen zu wollen.

"Deutscher Tabubruch"

Dass ausgerechnet in Erfurt der erste Ministerpräsident Deutschlands mit den Stimmen der AfD ins Amt gehievt wurde, ist tatsächlich heikel. Und so war es nicht weiter verwunderlich, dass umgehend historische Vergleiche bemüht wurden. "Genau 90 Jahre, nachdem es in Thüringen schon mal passiert ist", sagte der abgewählte Ministerpräsident Bodo Ramelow noch sichtlich schockiert. "Eine widerliche Scharade. Ein deutscher Tabubruch." Am Abend wurde er deutlicher. Ramelow twitterte einen Ausspruch Hitlers vom Februar 1930: "Den größten Erfolg erzielten wir in Thüringen. Dort sind wir heute wirklich die ausschlaggebende Partei. Die Parteien in Thüringen, die bisher die Regierung bildeten, vermögen ohne unsere Mitwirkung keine Majorität aufzubringen."

NS-Machtübernahme in Thüringen

Bei den Landtagswahlen in Thüringen am 8. Dezember 1929 konnte die NSDAP ihre Stimmenanteil verdreifachen und zog mit sechs Abgeordneten in den Landtag ein. Die Regierungsbildung gestaltetete sich ähnlich wie heute schwierig - es gab keine klaren Mehrheiten. Und so wurde die NSDAP zum Zünglein an der Waage. Für Hitler und die Reichsleitung seiner Partei eine wunderbare Gelegenheit, die "legale Machtergreifung" in der Provinz zu testen. Anderthalb Monate dauerten die Koalitionsverhandlungen. Am 23. Januar 1930 übernahm eine aus fünf Parteien bestehende rechtsbürgerlich-nationalsozialistische Koalition die Regierungsgeschäfte. An der Beteiligung der NSDAP störte sich bei den Koalitionspartnern niemand. Vorsitzender des Thüringer Staatsministeriums wurde Erwin Baum vom Landbund. Wilhelm Frick von der NSDAP übernahm das Innen- und Volksbildungsministerium. Die Nationalsozialisten waren damit erstmals an einer Regierung in Deutschland beteiligt.

"Wider die Negerkultur"

Reichsminister des Inneren Wilhelm Frick und Joseph Goebbels
Reichsminister des Inneren Wilhelm Frick (2. v.r.) Bildrechte: imago/Arkivi

Zwei Monate später, im März 1930, erließ die Baum-Frick-Regierung ein sogenanntes "Ermächtigungsgesetz". Unter Berufung auf das "Verfassungsnotrecht" konnte sie mit einfacher Mehrheit Verordnungen mit Gesetzeskraft erlassen. Durch Zentralisierung und Schaffung neuer Behörden wurden so zum Beispiel sozialdemokratische Beamte entlassen und durch nationalsozialistische ersetzt. Auch wurden überall in Thüringen kommunistische Bürgermeister und Lehrer aufgrund von Notverordnungen entlassen. Volksbildungsminister Wilhelm Frick, der am Hitler-Putsch in München teilgenommen hatte, nutzte sein Amt vor allem, um nationalsozialistisches Gedankengut salonfähig zu machen. So erließ er etwa den Erlass "Wider die Negerkultur - für deutsches Volkstum", um gegen eine "Verseuchung durch fremdrassige Unkultur" vorzugehen. Überdies ließ er zahllose Filme und Theaterstücke wegen ihres vermeintlich pazifistischen Inhalts verbieten.

Damit war die Baum-Frick-Regierung in Thüringen gewissermaßen der Testlauf für eine Machtübernahme und Machtausübung der Nationalsozialisten in ganz Deutschland. Nach einem Jahr allerdings zerbrach die Koalition in Thüringen auch schon wieder. Frick wechselte nach Berlin und wurde später Reichs-Innenminister von Hitlers Gnaden.

FDP wählte keinen AfD-Kandidaten

Soweit der Ausflug in die Geschichte. Doch sind die Vergleiche mit 1930 wirklich statthaft? Nicht ganz. Am Mittwoch hat die AfD in Erfurt lediglich gemeinsam mit der CDU den FDP-Abgeordneten Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten Thüringens gewählt. FDP und CDU haben keineswegs einen AfD-Kandidaten zum Ministerpräsidenten bestimmt. Der neugewählte Ministerpräsident Kemmerich erklärte nach seiner Wahl auch umgehend, dass er eine "Minderheitsregierung aus der Mitte der Gesellschaft" bilden möchte. Eine Regierung unter Beteiligung der AfD schloss er kategorisch aus: "Die Brandmauern gegenüber der AfD bleiben bestehen!" Und weiter: "Ich bin Anti-AfD, ich bin Anti-Höcke."

Historische Parallele angebracht

Wenn man sich nun aber wirklich einmal ausmalt, dass etwa der AfD-Rechtsaußen Björn Höcke Minister in einer Thüringer Landesregierung würde, dann wirkt die historische Parallele zur Baum-Frick-Regierung vor 90 Jahren allemal angebracht. Und genauso sahen es auch viele Demonstranten vor dem Erfurter Landtag. Auf einem Plakat stand etwa: "FDP und CDU: Steigbügelhalter des Faschismus."

Mittlerweile hat der frisch gewählte Ministerpräsident Thomas Kemmerich jedoch seinen Rücktritt angekündigt. Dies sei "unumgänglich", sagte er am 6. Februar 2020, nur einen Tag nach seiner Wahl.

Über dieses Thema berichtete der MDR im TV in "Aktuell" 05.02.2020 | 19:30 Uhr