Brandkatastrophe von Kemerowo Nach der Trauer kommt die Wut

29. März 2018, 11:51 Uhr

Als säße der Schock über den Brand in dem Einkaufszentrum in Kemerowo mit über 60 Toten nicht tief genug, kommt nun auch noch die Wut über die Politiker hinzu. Die finden keinen angemessenen Umgang mit Angehörigen. Einige Hinterbliebene fühlen sich verhöhnt.

Als Igor Wostrikow das Wort ergreift, kochen die Emotionen der Menge hoch. Der Geschäftsmann aus Kemerowo erzählt, dass er seine ganze Familie bei dem Brand im Einkaufszentrum "Winterkirsche" verloren habe. Der Vize-Gouverneur der Region Kemerowo Wladimir Tschernow steht neben Wostrikow und fragt: "Junger Mann, wollen sie mit der Trauer jetzt PR betreiben?" Wostrikow, der deutlich kleiner ist als der Vize-Gouverneur, dreht sich zu ihm und faucht ihn an: "Meine Familie ist umgekommen, meine Schwester Aljona, meine Frau Jelena und meine drei Kinder: 7, 5 und 2 Jahre alt. Ich bin also gekommen, um PR zu machen, ja?!"

Politiker vergreifen sich im Ton

Diese Szene spielt sich zwei Tage nach der Katastrophe auf dem zentralen Platz von Kemerowo ab - festgehalten auf Dutzenden Videoaufnahmen, die nun im russischen Netz kursieren. Tausende Menschen waren gekommen, um der Opfer zu gedenken, aber auch, um ihrer Wut Ausdruck zu verleihen. Das Unglück wäre vermeidbar gewesen, meinen viele. Notausgänge waren verschlossen, der Feueralarm funktionierte nicht. Die Szene auf der Demo in Kemerowo zeigt, wie überfordert russische Politiker mit der Situation sind.

Mindestens 64 Menschen sind in dem Einkaufszentrum uns Leben gekommen. Viele Russen bezweifeln diese Zahl, gehen von mehreren hundert Opfern aus. Beweise gibt es dafür nicht, doch die Menschen trauen den Behörden nicht.

Putin macht sich Sorgen um die Demographie

Doch so oder so, jeder Tote ist einer zu viel. Das sieht auch Präsident Wladimir Putin so. Wenn auch weniger aus Mitgefühl mit den Familien, als mehr aus Sorge um das Schrumpfen der russischen Bevölkerung, wie es scheint. Auch Putin reist zwei Tage nach dem Brand nach Kemerowo. Für ihn hat der lokale Gouverneur Aman Tulejew Zeit. Zur Kundgebung der Opfer schickt er seinen Stellvertreter. Auch das stößt viele Menschen in Kemerowo vor den Kopf.  

Auch das Treffen zwischen Putin und Tulejew ist auf Video festgehalten. Putin sitzt am Kopf des Konferenztisches und rügt die Anwesenden: "Wir reden über Demografie. Und dann verlieren wir so viele Menschen. Und warum? Wegen verbrecherischer Nachlässigkeit und Liederlichkeit."

Die Wortwahl des Präsidenten wurde in vielen Medien in Russland aufgegriffen und kommentiert. Das Online-Portal "Snob" etwa schreibt: "Im Augenblick einer Tragödie klingen solche Aussagen grausam. Die Machthaber finden nicht zur Menschlichkeit zurück: Laut Putin besteht die Schuld der Beamten aus Kemerowo darin, dass der Staat eine Ressource verloren hat. Das ist auch ein Argument, aber im Fall von Massen von Opfern steht es an fünfter oder zehnter Stelle."

Gouverneur bezeichnet Hinterbliebene als "Unruhestifter"

Gouverneur Tulejew sah sich trotzdem veranlasst, sich beim Präsidenten zu entschuldigen, dass so etwas auf seinem Gebiet passiert sei. Zu den Opfern und ihren Angehörigen kein Wort. Warum auch? Auf dem zentralen Platz in Kemerowo protestierten seiner Ansicht nach sowieso keine Angehörigen, sondern die "üblichen Unruhestifter der Opposition".

Igor Wostrikow, der Vater, der seine Familie verloren hat, und viele andere tausend Demonstranten bleiben an diesem Tag noch lange auf dem Platz. Elf Stunden dauert die Kundgebung. Die anwesenden Politiker werden mit Beschimpfungen und Vorwürfen überschüttet. Der Vize-Gouverneur Wladimir Tschernow senkt nach seinem PR-Vorwurf betroffen den Blick. Für den Rest der Veranstaltung wird er schweigen.

(ele)

Über dieses Thema berichtete der MDR auch im TV: MDR aktuell | 27.03.2018 | 19:30 Uhr