Kindergeld für EU-Ausländer Warum die Debatte so hitzig geführt wird

31. August 2018, 16:43 Uhr

EU-Ausländer, die in Deutschland jobben, dürfen Kindergeld beantragen, auch wenn ihre Kinder weiterhin im Heimatland leben. Um die Höhe der Zuschüsse gibt es seit Jahren politischen Streit. Wie die Debatte ausgeht, ist offen.

Als Ionela Stefan vor vier Jahren nach München kam, konnte sie kaum ein Wort Deutsch. Ihren Sohn hat sie deshalb lieber bei ihrer Mutter im rumänischen Bukarest gelassen, weil sie bei Null anfing - beim Job, bei der Wohnung, bei den Sprachkenntnissen. "Ich habe anfangs täglich geweint, als mein Sohn mich am Telefon fragte, wann ich endlich zurückkomme", erzählt die Mutter. Ionela Stefan ist eine von Hunderttausenden osteuropäischen Arbeitnehmern, die alle irgendwie ähnlich handeln: Sie kommen nach Deutschland, um möglichst viel zu arbeiten, sie leben oft auf engstem Raum, damit sich die doppelte Haushaltsführung überhaupt lohnt. Ein Kind würde da nur stören, selbst wenn es das eigene ist.

Fast einjährige Bearbeitungszeit

Rund 300 Euro schickt die 29-jährige Mutter derzeit monatlich von ihrem Gehalt nach Bukarest, um ihren siebenjährigen Sohn zu unterstützen. Ionela Stefan arbeitet als Kassiererin in einem Münchner Supermarkt - mit einem unbefristeten Arbeitsvertrag. Erst im vorigen Jahr erfuhr sie bei der Münchner Arbeiterwohlfahrt, dass sie als steuerzahlende Arbeitnehmerin auch das Recht auf deutsches Kindergeld hat, selbst wenn ihr Sohn in Bukarest geblieben ist. Seit einem Jahr wird ihr Antrag nun von der zuständigen Familienkasse bearbeitet. Dass es so lang dauert, liegt nicht nur an der aufwendigen Antragstellung, sondern auch an der grenzüberschreitenden Überprüfung der Unterlagen.

Osteuropa

Eine Frau liest mit einem Jungen in einem Buch 3 min
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Höhe des Kindergeldes unterscheidet sich stark

Dass EU-Beschäftigte Anspruch auf Kindergeld des jeweiligen Landes haben, in dem sie arbeiten oder ihren Wohnsitz haben, sorgt seit Jahren für politische Debatten, auch weil sich die Zuschüsse innerhalb der EU stark unterscheiden. Wer beispielsweise in Rumänien arbeitet und lebt, bekommt monatlich rund 20 Euro pro Kind, in Deutschland fällt das Kindergeld hingegen fast zehnmal höher aus.

Seit Langem plädieren deshalb Union und SPD dafür, die Zahlung an die Lebenshaltungskosten im Wohnsitzland anzupassen, sollten die Kinder im Heimatland bleiben. In einem CDU/CSU-Fraktionspapier hieß es bereits Anfang 2016 über solche Antragsteller: "Leben ihre Kinder im Ausland, so muss die Höhe des Kindergeldes an den dort geltenden Lebensstandard und die dort üblichen Sozialleistungen angeglichen werden." Dadurch werde eine "unverhältnismäßige Besserstellung" behoben.

Debatte durch Betrugsfälle angeheizt

Osteuropäische Arbeitnehmer halten diese Pläne für äußerst ungerecht. In sozialen Netzwerken kommentieren rumänische Arbeitskräfte, beim Steuerzahlen würden sie wie Westeuropäer behandelt, beim Kindergeld wären sie plötzlich die Osteuropäer, die nicht zu viel Rechte bekommen dürften. Angeheizt wurde die Debatte zuletzt im Sommer von Betrugsfällen in Nordrhein-Westfalen, die es laut Bundesagentur für Arbeit nicht nur beim Kindergeld, sondern auch bei anderen sozialen Leistungen gegeben hat.

Doch stellt die Behörde auf MDR-Anfrage klar, die Betrugsfälle seien punktuell und ausschließlich bei Familien gewesen, die sich mit ihren Kinder in Deutschland niedergelassen hätten. Bei EU-Beschäftigten, deren Kinder im Heimatland leben und die deutlich mehr Unterlagen bei der Antragstellung einreichen müssen, sei hingegen kein einziger Betrugsfall bekannt. Man dürfe diese Gruppen nicht verwechseln, mahnt die Arbeitsagentur an.

"Das völlig falsche Signal"

Szabolcs Sepsi von der Beratungsstelle Faire Mobilität in Dortmund
Szabolcs Sepsi berät in Dortmund osteuropäische Arbeitnehmer. Bildrechte: Beratungsstelle „Faire Mobilität“

Doch in der politischen Debatte geschieht genau das: Da wird der Kampf gegen den Sozialbetrug von EU-Beschäftigten in einem Atemzug mit der Kindergeld-Kürzung für den Nachwuchs genannt, der weiterhin im Heimatland lebt. Sozialarbeiter Szabolcs Sepsi, der in Dortmund Beschäftigte aus Osteuropa berät, hält das für irreführend. Er warnt "vor dem völligen falschen Eindruck, dass Hunderttausende osteuropäischer Beschäftigte nach Deutschland kommen, um mittels Scheinarbeitsverträgen das deutsche Kindergeld zu kassieren".

Die Wirklichkeit sei eine ganz andere: Die Mehrheit der osteuropäischen Arbeitnehmer habe legale Jobs, angefangen von der Fleisch- oder Bauindustrie bis hin zur Pflegebranche - alles Bereiche, in denen dringend Personal gesucht werde. "Wer diesen Arbeitnehmern weniger Kindergeld für ihren daheimgebliebenen Nachwuchs zahlen will, behandelt sie wie Arbeitskräfte zweiter Klasse. Das ist wirtschaftspolitisch das völlig falsche Signal", meint Sepsi.

Kindergeld ist oft Nebensache

Razvan Rusan, Chef der Rekrutierungsfirma Silverhand in Timisoara (Rumänien)
Unternehmer Razvan Rusan vermittelt Arbeitskräfte nach Deutschland. Bildrechte: MDR/Annett Müller

Dass deutsche Arbeitnehmer derzeit händeringend in Osteuropa nach Personal suchen, bekommt auch Razvan Rusan zu spüren. Der 30-jährige Unternehmer vermittelt im westrumänischen Timisoara Arbeitskräfte in alle Teile Deutschlands - Klempner und Schlosser, aber auch IT-Spezialisten, die dort bis zu fünfmal mehr verdienen können als in der Heimat. "Wir bieten oft unbefristete Arbeitsverträge an, doch viele wollen nur für ein oder zwei Jahre nach Deutschland, bis sie das Geld für den Hausbau verdient haben oder ihren Kindern zu Hause ein Studium finanzieren können", sagt Rusan.

Den Bewerbern käme es zuallererst auf die Gehaltshöhe an und dass ihnen der Arbeitgeber eine Unterkunft nahe des Arbeitsortes finanziere. Dass sie mit ihrem Arbeitsvertrag auch Anspruch auf deutsches Kindergeld erwerben würden, sei für viele eine Nebensache, auch weil sie dafür zahlreiche Behördengänge zu erledigen hätten.

Wo die Regierung sparen will

Rund 424.000 rumänische sozialversicherungspflichtig und geringfügig Beschäftigte gab es laut Institut für Arbeits- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit im Mai in Deutschland. Nur knapp ein Fünftel von ihnen bezieht bislang deutsches Kindergeld, der große Rest weiß vermutlich gar nicht, dass ihm die Zuschüsse zustehen, auch weil den meisten die entsprechenden Deutschkenntnisse fehlen.

Dennoch war im Sommer in den Medien "von einer neuen Rekord-Zahl an Kindergeld-Empfängern im Ausland" zu lesen. So sei die Zahl binnen eines halben Jahres um mehr als zehn Prozent gestiegen. In der Tat eine deutliche Steigerung. Beim Blick auf die Gesamtzahlen machen die Kindergeldzahlungen ins Ausland jedoch den kleinsten Anteil aus: Lediglich rund 1,5 Prozent aller Zuschüsse fließt an den im Heimatland verbliebenen Nachwuchs - ausgerechnet dort will die Bundesregierung mit Sparen beginnen.

Kürzung war schon vor Brexit im Spiel

Zuletzt sprach sich Kanzlerin Angela Merkel Mitte August beim EU-Bürgerdialog in Jena für die sogenannte Indexierung des Kindergeldes aus, die sich an den Lebenshaltungskosten des Herkunftslandes orientieren soll. Für Osteuropa bedeutet das ganz klar weniger Kindergeld.

Die EU-Kommission lehnt bislang den Vorstoß kategorisch ab, weil sie ihn für diskriminierend hält: Arbeitnehmer müssten in einem Land gleich behandelt werden, ganz gleich, wo ihre Kinder lebten, heißt es aus Brüssel.

Doch hätte die EU-Kommission hier fast schon einmal eine Ausnahme gemacht: 2016 wollte Brüssel den Briten eine schrittweise Indexierung von Leistungen für Kinder von EU-Ausländern genehmigen, vorausgesetzt, sie hätten beim Brexit-Referendum für den Verbleib in der EU gestimmt. Das Votum fiel anders aus, die Ausnahme wurde ad acta gelegt. Befürworter einer Indexierung bringen dieses Beispiel gern ins Spiel.

Berlin könnte auch andere inspirieren

Doch wer glaubt, dass die Kindergelddebatte nur osteuropäische Arbeitnehmer und Zuwanderer treffen könnte, der irrt. Über 42.000 Deutsche pendeln täglich zur Arbeit nach Luxemburg - Tendenz steigend. Niemand wirft ihnen im Großherzogtum von politischer Seite "Sozialmissbrauch" oder eine "unverhältnismäßige Besserstellung" vor, wenn sie dort das lukrativere Kindergeld beantragen: Beim ersten Kind gibt es 71 Euro monatlich mehr als in Deutschland, für Familien mit drei Kindern gleich über 200 Euro mehr. Die Luxemburger Regierung könnte Millionen Euro sparen, sollte sie sich eines Tages von den Berliner Kürzungsplänen für im Ausland verbliebene Kinder inspiriert fühlen.

Über dieses Thema berichtet MDR AKTUELL auch im: TV | 31.08.2018 | 17:45 Uhr

Recherchestand von Ende August 2018