Erfahrungsbericht Mit Roma Tür an Tür

12. Juni 2014, 15:42 Uhr

Meist leben Roma und Tschechen in unterschiedlichen Vierteln, Berührungspunkte im Alltag gibt es wenige. Andrea und ihr Mann haben in Ústí nad Labem knapp zehn Jahre Tür an Tür mit Roma gelebt. Wie geht es zu in einem tschechischen Roma-Viertel? Was ist dran an den Vorurteilen?

Sie haben in Předlice, einem von Ústís berüchtigten Roma-Viertel, gewohnt. Welche Erfahrungen haben Sie macht?

Andrea: Mein Freund und ich sind 1997 nach Předlice gezogen, allerdings an den Rand und nicht direkt ins Zentrum des Stadtteils. Wir studierten damals beide und suchten eine billige Wohnung, die es dort gab. Am Anfang hatte ich vor allem Angst vor Kriminalität, aber diese Angst ist mit der Zeit verschwunden. Mein Freund, der inzwischen mein Ehemann ist, wurde damals Lehrer in einer Grundschule in Předlice, die zu 100 Prozent von Roma-Kindern besucht wird. Die Schüler und ihre Eltern respektierten meinen Mann. Wie eine hoch angesehene Person wurde er mehrmals von Familien seiner Schüler eingeladen (einmal sogar zu Heiligabend) und gelegentlich besuchten uns seine Schüler und liehen sich bei uns Bücher aus.

In unserem Haus lebten anfangs nur wenige Roma-Familien, aber nach und nach verließen die "weißen" Familien das Haus, sie suchten andere, komfortablere Wohnungen, sodass wir schließlich das letzte "weiße" Paar im Haus waren. Je mehr Roma-Familien im Haus lebten, umso mehr verschlechterten sich die hygienischen Bedingungen. Dinge, die verwerteten werden konnten, etwa Türbeschläge aus Metall, Treppengeländer oder sogar ein komplettes Blechdach verschwanden nach und nach. Auch die gemeinsam genutzten Räume wurden nach und nach zerstört. Roma-Familien haben ein aktives Gemeinschaftsleben – sie feiern sehr oft und laut. Als mein Freund und ich nach dem Studium arbeiten gingen, begann uns das zu stören, weil wir uns oft einfach nicht entspannen konnten.

Wie schätzten Sie die Bildungschancen für Roma-Kinder ein?

Was die Bildung von Roma-Kinder betrifft, muss man zwischen dem staatlichen Ansatz und den tatsächlichen Möglichkeiten der Kinder unterscheiden. Der Staat bemüht sich um gleiche Bedingungen und Bildungschancen für Roma-Kinder. Mit Hilfe verschiedener Subventionen und Entwicklungsprogramme werden Roma unterstützt, man spricht auch von "positiver Diskriminierung". Doch auch diese staatliche Hilfe kann nicht wirklich gleiche Bildungschancen schaffen. Denn die Ausgangsposition der überwiegend sozial und kulturell stark benachteiligten Kinder ist auf einem ganz anderen Niveau als die der anderen tschechischen Kinder, so dass es für Roma praktisch unmöglich ist, ein höheres Bildungsniveau zu erreichen. Roma-Kinder kommen unvorbereitet in die Schule, sie sind es nicht gewohnt, dass sich jemand für sie interessiert. Sie sind dankbar für jede Zuwendung. Wesentlich schwieriger gestaltet sich die Arbeit mit den Eltern der Kinder - die meisten von ihnen begreifen die Schulen als "weiße" Institutionen, die ihnen nur Schwierigkeiten bringt. Die Erfahrungen meines Mannes haben gezeigt, dass eine Grundschule mit 100 Prozent Roma-Kindern keinen positiven Einfluss auf die Integration hat. Es wäre besser, wenn Roma-Kinder gemischte Schulen besuchen.

Wie lange haben Sie in Předlice gelebt?

2006 sind wir aus Předlice weggezogen, nachdem wir uns ein Haus auf dem Land gekauft hatten. Wir wollten eine Familie gründen und Předlice war dafür schlicht ein völlig ungeeigneter Ort – angefangen von den hygienischen Bedingungen in den Gemeinschaftsräumen und auf der Straße, bis hin zum Lärm in den Abend- und Nachtstunden und der Unmöglichkeit, seine Freizeit rings um das Haus zu verbringen. Mein Mann arbeitete noch bis 2011 dort im Viertel, bevor er Direktor an einer anderen Schule wurde. Das Roma-Problem beschäftigt ihn aber weiter, denn auch an der neuen Schule sind 15 Prozent der Schüler Roma.