Zsolt Lengyel
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"Die Stimmung ist gereizt"

21. Oktober 2016, 13:12 Uhr

Am 23. Oktober 2016 jährt sich der Beginn des Volksaufstandes zum 60. Mal. Wie begehen die Ungarn die Ungarn diesen Festtag? - Ein Gespräch mit dem Historiker Zsolt K. Lengyel.

Wie ist die Stimmung in Ungarn kurz vor dem 60. Jahrestag des Volksaufstands?

Die Stimmung ist gereizt, weil einige innenpolitische Themen den Blick verstellen auf den eigentlichen Feiertag. Der Aufstand von 1956 wird gern dazu benutzt,eine Bühne aufzubauen für den innenpolitischen Kampf. Die ungarische Gesellschaft ist halt auch sehr zerstritten.

Welche innenpolitische Themen sind das?

Da ist zu allererst die Flüchtlingspolitik. Aber auch ganz allgemein soziale Fragen und die Medienpolitik der Regierung Orban überlagern den Gedenktag. Aber es wird auch die Frage gestellt, ob denn das System Ungarns, das jetzt vor allen mit den Namen von Fidesz und mit dem Viktor Orbán verbunden ist - ob denn dieses System das ist, was Ungarn sich einstmals erträumt hat.

Was hatte die Akteure des Volksaufstand 1956 gefordert?

Der Volksaufstand hat ja eine Rückkehr zu einem demokratischen Mehrparteiensystem gefordert. Es kam tatsächlich in den zehn Tagen des Aufstands zur Neubelebung einer kaum vorstellbaren Anzahl von Parteien. Es gab Pluralismus und hitzige Debatten und die Ziele des Aufstands. Und die "Nachgeborenen" dieser nach der Niederschlagung des Aufstands wieder verbotenen Parteien begehen heute jeweils ihre eigenen Erinnerungsfeiern. Aber an der Hauptbotschaft des Aufstands wird nie gerüttelt.

Welche war das?

Die Hauptbotschaft war, dass Ungarn unabhängig werden soll. 1956 dachte sich Ungarn absolut unabhängig – unabhängig gegenüber dem Osten, aber auch gegenüber dem Westen, also der von der Nato bestimmten Welt. Und das gab dem Aufstand eine besondere Note, eine Note  der politischen und geistigen Neutralität.

Diese Forderung wurde 1989 aber nicht eingelöst...

Tatsächlich hatten sich 1989 die Forderungen des Aufstands erfüllt. Mit einer Ausnahmen: Der Neutralität. Aber diese Frage stellte sich 1989 nicht. Die Ungarn wollten die Westbindung.

Gibt es denn in Ungarn noch Debatten über 1956 selbst?

Über 1956 wird nicht mehr gestritten. Das ist, salopp gesagt, ein in jeder Hinsicht abgegrastes Feld. Gestritten wird über Themen, die mit 1956 herzlich wenig zu tun haben: Wie ist man eingestelltt gegenüber dem Westen, gegenüber Flüchtlingen und Minderheiten...

Wird es eine zentrale Gedenkveranstaltung geben?

Ministerpräsident Viktor Orbán wird eine Rede halten. Das ist die Hauptveranstaltung aus Sicht der Regierung. Aber eine zentrale Gedenkveranstaltung mit allen Parteien und gesellschaftlichen Organisationen gibt es nicht. Orban wird seine Rede vor dem Parlament in Budapest halten. Natürlich sind Demonstrationen der Opposition angekündigt worden. Gegendemonstranten werden sicher versuchen, Orbán Rede zu stören. Aber da geht es nicht um 1956, sondern ausschließlich gegen Orbán Politik.

Nach Niederschlagung des Aufstands sind 200.000 Ungarn aus ihrem Land geflohen und haben im Westen eine neue Bleibe gefunden. Heute schottet sich Ungarn ab gegenüber Flüchtlingen. Spielt dieser Aspekt eine Rolle in den öffentlichen Debatten?

Über diesen Vergleich wird im Ausland viel geredet. In Ungarn wird dieser Vergleich deutlich weniger thematisiert. Bzw. von einer pol. Kraft thematisiert wird inzwischen und zwar von der tregierung selbst. Es gibt keine Diskurse über dieses Thema in der ungarischen Öffentlichkeit. Nur die Opposition hat sich gelegentlich gemeldet und sacht angemerkt, dass tatsächlich 200.000 Ungarn 1956, nach der Niederschlagung des Aufstands, aus Ungarn geflohen sind. Die meisten zunächst nach Österreich. Und sie erhielten allesamt Asyl.

Die Regierung Orbán hat einen klaren Standpunkt: "Die Grenzöffnung 1989 und der Grenzschutz heutzutage sind zwei Seiten einer Medaille. Heute schützen wir die Freiheit", sagte Viktor Orbán unlängst. "In der Wendezeit 1989 hätten die Ungarn für die Freiheit die Grenzen öffnen müssen. Und in den Jahren 2015 und 2016 habe Ungarn die Grenzen schließen müssen, um die Freiheit zu bewahren." Soweit Viktor Orbán. Und das ist demzufolge auch die offizielle regierungsamtliche Lesart. Und die meisten Ungarn sehen das ganz genauso.

Was wünschen Sie sich für den Festtag?

Ich wäre froh, wenn die Leidenschaften nicht so heftig durchgehen würden, dass sie das Wesentliche dieses Feiertags verdecken. Denn der Volksauftsand 1956 gehört zu den wenigen historischen Themen, die in Ungarn noch einigermaßen einvernehmlich betrachtet werden.

Prof. Dr. Zsolt K. Lengyel, 1960 geboren, ist Historiker und Politologe; seit 2015 ist er Direktor des Ungarisches Instituts der Universität Regensburg.