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Protest am 31.01.2023 im nordsächsischen Strelln gegen eine geplante Asylbewerberunterkunft. Bildrechte: IMAGO/Bernd März

Unter der Lupe – Die politische KolumneAsyldebatte: Die Politik muss dazulernen

05. Februar 2023, 05:00 Uhr

Mehr als eine Million Menschen flohen 2021 nach Deutschland. Proteste gegen Unterkünfte nehmen inzwischen zu, auch in Mitteldeutschland. Die Proteste sind legitim, sie drohen aber von Rechtsextremen gekapert zu werden. Will die Politik eine Eskalation wie 2015 verhindern, muss sie klüger handeln und besser kommunizieren, meint Torben Lehning.

Überforderte Landratsämter stellen Ultimaten, Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten warnen vor erreichten Kapazitätsgrenzen, die Regionalpolitik schreibt Brandbriefe, Bürgerinnen und Bürger schließen sich Protesten gegen Sammelunterkünfte an, die teilweise von Rechtsextremen organisiert werden. Im Frühjahr 2023 fühlt es sich ein bisschen so an, als wären wir alle gemeinsam in eine Zeitkapsel gestiegen und acht Jahre zurück in die Vergangenheit gereist.

Die Not ist groß, der Wille zu helfen, ist vielerorts erkennbar, doch der Politik fehlen oftmals Antworten. Es entsteht der Eindruck, als ob die Fehler aus den Jahren 2015 und 2016, von überhasteten, schlecht geplanten Unterbringungen für Geflüchtete, bis zur mangelhaften Kommunikation der Behörden mit Bürgerinnen und Bürgern, keinen Anlass gegeben hätten, nachzusteuern und es besser zu machen. Das wäre aber durchaus möglich.

Die große Herausforderung

Im vergangenen Jahr sind mehr Menschen nach Deutschland geflohen als 2015 und 2016 zusammengenommen. Über eine Million Ukrainerinnen und Ukrainer kamen nach Deutschland. Auch die Zahl von Asylanträgen, die von Geflüchteten aus anderen Herkunftsländern gestellt wurden, ist um knapp 30 Prozent auf 244.132 angestiegen.

Migrationsforscher führen das vor allem auf den Umstand zurück, dass viele Geflüchtete während der Corona-Zeit auf der Balkan-Fluchtroute festsaßen und im vergangenem Jahr einen weiteren Versuch starteten, nach Westeuropa zu gelangen.

Überhastete Sammelunterkünfte

Als hätte es das alles nicht bereits gegeben, zeigen sich auch 2023 Landesregierungen und Landratsämter von den steigenden Geflüchtetenzahlen überrascht und versuchen im Eilverfahren, Sammelunterkünfte in Gegenden aufzubauen, die dafür nicht geeignet sind. Kleine Dörfer mit 400 Einwohnern bieten selten die nötige Infrastruktur und Anbindung an größere Städte. Weder die Geflüchteten noch Anwohnerinnen und Anwohner sind mit derlei Planungen zufrieden.

Sammelunterkünfte sind dabei nicht immer alternativlos. In vielen Regionen Deutschlands, gerade im Osten der Bundesrepublik, gibt es einen großen Leerstand von Wohnungen. Vielerorts wäre eine dezentrale Unterbringung von Geflüchteten möglich. Diese Option wird aber nicht gezogen, weil sie politisch nicht gewollt ist.

Politisch gewollte Ausgrenzung

Die Hoffnung vieler politischer Verantwortlicher ist, dass sich die Geflüchteten nur temporär in ihren Bundesländern und Landkreisen aufhalten. Also wird alles getan, damit sie auch nicht bleiben werden. Geflüchtete werden von vornherein als Zumutung verstanden, mit der man irgendwie umgehen müsse.

Das führt zu einer Politik, die Geflüchtete isoliert statt integriert. Nicht nur Landrätinnen und Landräten, die seit über acht Jahren im Amt sind, sollten wissen, dass aus temporären Notunterkünften häufig dauerhafte Unterkünfte mit notdürftiger Ausstattung werden. Dabei sind es gerade größere Unterkünfte, die bei Anwohnerinnen und Anwohnern Vorurteile und Ängste auslösen.

Es ist schwer vorstellbar, dass eine Stadt wie Suhl in Süd-Thüringen, die alarmierend schnell schrumpft, eine Erstaufnahmeeinrichtung braucht, die über 1.200 Geflüchtete zählt. Eine zumindest in Teilen dezentrale Unterbringung wäre definitiv möglich.

Proteste können eskalieren

Bislang gibt es deutlich weniger Proteste gegen Geflüchtete als noch 2015 und 2016. Das liegt unter anderem daran, dass der Großteil der Geflüchteten aus der Ukraine stammt. Ein Krieg innerhalb Europas führt in Deutschland und der gesamten EU zu komplett anderen Debatten über die Aufnahme von Schutzsuchenden.

Trotzdem gibt es auch in diesem Jahr vielerorts in Deutschland Proteste und Anschläge gegen Sammelunterkünfte und Geflüchtete. Vor dem Kreistagsgebäude in Grevesmühlen (Nordwestmecklenburg) demonstrieren Ende Januar 700 Menschen gegen eine geplante Sammelunterkunft. Darunter sind bekannte Rechtsextremisten. Die Polizei muss ihre Einsatzstärke vergrößern und verhindert, dass Teile der Protestierenden den Kreistag stürmen.

In Loitz, Landkreis Vorpommern-Greifswald, greifen Unbekannte eine Unterkunft für 36 Geflüchtete an, im Netz drohen Menschen mit ihren Klarnamen Lynchjustiz an. Auch in Sachsen mehren sich Demonstrationen gegen neu geplante Sammelunterkünfte, Sozialministerin Köpping sieht bereits Parallelen zu den Protestwellen in den Jahren 2015/2016.

Kommunikation ist nicht alles, aber ein Anfang

Es sei noch einmal festgehalten: Proteste gegen Sammelunterkünfte sind legitim. Genauso wie die Debatte über den Bau von Unterkünften. Diese Debatten gilt es jedoch zu versachlichen und nicht Rechtsextremistinnen und Rechtsextremisten zu überlassen.

Für diese Versachlichung brauchen Behörden Hilfe. Wie, wann und wo rede ich mit Bürgerinnen und Bürgern über den Bau einer Sammelunterkunft oder den Einzug von Geflüchteten in eine Turnhalle. Wie verhindere ich, dass Rechtsextremistinnen und Rechtsextremisten eine Informationsveranstaltung kapern?

Jeder fruchtbare Austausch zwischen Behörden und Bevölkerung wird unterbunden, wenn rassistische Hetzerinnen und Hetzer die Veranstaltung durch Aufrufe zur Lynchjustiz stören. Wie damit umgehen? All das sind Fragen, die sich zurzeit viele Kreisämter stellen. Sie müssen nicht die Antworten kennen, sollten sich aber professionelle Hilfe holen, wenn es darum geht, Informationsveranstaltungen zu organisieren.

Auch in Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen gibt es Beratungsstellen, die genau hier tätig werden können und wollen. Beratungsnetzwerke gegen Rechtsextremismus können Behördenmitarbeiter schulen und helfen, Informationsveranstaltungen zu organisieren. Sie müssen nur frühzeitig mit eingebunden werden. Es braucht nur den politischen Willen, etwas am Status quo zu ändern

Europäische Abkommen für Abschiebungen

Nach einem tödlichen Messerangriff durch einen staatenlosen Straftäter in einem Zug in Schleswig-Holstein diskutiert Deutschland auch wieder verstärkt über Abschiebungen. Im Falle des aus dem Gazastreifen stammenden Angreifers im Zug, wäre eine Abschiebung nicht möglich gewesen. Der wiederholt straffällig gewordene Mann ist staatenlos. Es gibt keinen Staat, der ihn hätte zurücknehmen können.

Insgesamt sind über 300.000 Menschen in Deutschland als ausreisepflichtig registriert. Viele von ihnen kommen aus Ländern, die nicht dazu bereit sind, die Geflüchteten zurückzunehmen. Im vergangenen Jahr wurden unter anderem auch deswegen lediglich rund 13.000 Menschen abgeschoben.

Das ist Union und AfD zu wenig. Sie fordern die Bundesregierung dazu auf, konsequenter abzuschieben. Die Bundesregierung will jetzt auf Rückführungsabkommen mit den Herkunftsländern setzen und hat dafür eigens einen Sonderbevollmächtigten für Migrationsabkommen ernannt. Die Anstrengungen von Joachim Stamp (FDP) werden aber nur dann erfolgreich sein, wenn er sich Verbündete sucht.

Migrations- und Rückführungsabkommen sollte die EU gemeinschaftlich verhandeln. Die EU hat mit der Androhung, Visafristen für die Herkunftsländer zu verlängern oder zu verteuern, wenn diese nicht kooperieren, einen erheblich stärkeren Hebel als Deutschland allein.

Es geht auch anders

Es wird deutlich: Von der Bundesregierung bis zu Landesregierungen und den Landratsämtern gibt es viele Stellschrauben, an denen gedreht werden könnte, um nicht die gleichen Fehler zu machen wie 2015 und 2016. Die politischen Akteure müssen nur auch die Schraubenschlüssel in die Hand nehmen und loslegen.

Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 04. Februar 2023 | 16:00 Uhr