Halle-Attentat – Reportage zum fünfzehnten ProzesstagWiedersdorf – der vergessene Tatort
Am fünfzehnten Verhandlungstag wurde über den Ort gesprochen, der im Zusammenhang mit dem Halle-Attentat kaum Beachtung findet. Eine Zeugin aus Wiedersdorf beschrieb den Angeklagten mit klaren Worten.
"Hat er auf Ihren Oberkörper gezielt?" fragt die Vorsitzende Richterin den Zeugen. "Nein, aufs Gesicht eigentlich", antwortet dieser. Am 09. Oktober 2019 wollte der Wiedersdorfer Holz sägen, als jemand an sein Hoftor klopfte.
Und wo ich die Tür aufmache, gucke ich in eine Pistole.
Jens Z., Zeuge und Nebenkläger
Stephan B. will den Schlüssel für ein Auto, das draußen auf der Straße steht. Der Zeuge sagt, er habe entgegnet, er habe den Autoschlüssel nicht dabei und habe dann bemerkt, wie der Mann in Kampfmontur mit dem Finger an seiner Waffe "herumspielte". Er sei fortgelaufen und habe noch währenddessen gespürt, dass ihn ein Schuss traf.
Wiedersdorf: Ein "vergessener" Tatort
Es ist der fünfzehnte Verhandlungstag im Prozess gegen den Halle-Attentäter. Zum ersten Mal wird über die Geschehnisse in Wiedersdorf gesprochen. Zuvor hatte der Angeklagte in Halle versucht, in eine Synagoge einzudringen, hatte eine Passantin und einen jungen Mann in einem Döner-Imbiss getötet. Er hatte auf drei Polizisten geschossen und war von diesen am Hals angeschossen worden. Trotzdem hatte er in seinem Mietwagen davonfahren können – nach Wiedersdorf, wo er am Hoftor von Jens Z. klopfte.
Wiedersdorf ist ein "vergessener" Tatort, weil verhältnismäßig wenig über ihn berichtet worden ist. Die beiden Verletzten hatten nicht mit der Presse reden wollen. Auch MDR SACHSEN-ANHALT hatte mit den beiden Kontakt und respektiert ihre Entscheidung, keine Interviews geben zu wollen. Aus diesem Grund kann MDR SACHSEN-ANHALT aber auch erst nach den heutigen Zeugenaussagen detailliert über die Geschehnisse in Wiedersdorf berichten.
Schüsse in Nacken und Hüfte
Der Zeuge spricht in knappen Sätzen über seine Erinnerungen an den 9. Oktober 2019. Der Angeklagte habe direkt vor ihm gestanden, hielt die Waffe auf sein Gesicht gerichtet und habe mehrfach die Autoschlüssel verlangt. Als der Zeuge sich umgedreht habe und weggelaufen sei, habe der Angeklagte geschossen:
Der Zeuge wird im Nacken getroffen, die Kugel verletzt die Nerven, die dort verlaufen. Seine rechte Körperhälfte sei seit der Verletzung beeinträchtigt, sagt er. Die Frau des Zeugen hört den Schuss, kommt nach draußen.
Im Zeugenstand erklärt sie, sie sei plötzlich zu Boden gegangen – habe aber nicht realisiert, was passiert war. Der Angeklagte hatte der Frau in die Hüfte geschossen und sie schwer verletzt. "Als ich wieder aufstehen wollte, war der sehr dicht an mir dran und sagte, er braucht den Autoschlüssel. Ich hab gesagt: ich hab keinen Schlüssel." Dann beschreibt sie die Reaktion von Stephan B.:
Wie ein Muttisöhnchen. Er sagte, er muss weg, er ist verletzt. Er jammerte herum, wie ein Weichei. [...] Er ist dann vom Hof gegangen – wie ein bedröppeltes Kind.
Dagmar M., Zeugin und Nebenklägerin
Der Angeklagte verlässt das Grundstück der Anwohner – zu Fuß. Die Frau wählt den Notruf und sagt im Zeugenstand, die Polizeibeamten am Telefon hätten nicht geglaubt, dass sie und ihr Mann tatsächlich angeschossen seien. Erst als ein Nachbar, der zu Hilfe gekommen war, mit der Polizei gesprochen habe, sei ein Beamter zu ihnen geschickt worden.
Fahrzeug-Raub in einer Werkstatt
Am fünfzehnten Verhandlungstag wurden noch drei weitere wichtige Zeugen aus Wiedersdorf gehört: Zwei Taxifahrer und ein KfZ-Meister, die die Schüsse auf dem Nachbargrundstück gehört, aber nicht als solche erkannt hatten. Nachdem er von den Anwohnern kein Auto hatte rauben können, bedrohte Stephan B. auch diese drei Männer mit seiner Pistole: Er habe gesagt, er sei ein gesuchter Schwerverbrecher, habe bereits zwei Menschen erschossen und brauche ein Taxi.
Die drei Männer lassen sich nicht einschüchtern, bleiben ruhig. Einer der drei erkennt die Gefahr, übergibt einen Schlüssel. Stephan B. fährt davon. Der Taxifahrer Daniel Waclawczyk beschließt, in einem zweiten Taxi die Verfolgung aufzunehmen, während der KfZ-Meister Kai H. seinen Nachbarn erste Hilfe leistet. Daniel Waclawczyk holt den Attentäter bei Queis ein und folgt ihm bis zur Auffahrt auf die A9 bei Wiedemar.
Ein Taxifahrer hilft bei der Festnahme
Waclawczyk erklärt im Zeugenstand, er sei schon bei der Autobahnauffahrt auf eine Polizeistreife gestoßen und habe angehalten. Dem Beamten habe er gesagt: "Der da vorn hat mein Taxi geklaut. Fahrt hinterher! Und die: ‘Wir sind eine Polizeikontrolle für Halle.’ Ich sagte: ‘Leute, der hat gerade zwei Leute in Wiedersdorf erschossen!’"
Daniel Waclawczyk kommt auf die Idee, sein Taxi vom Hersteller orten zu lassen. Als das gelingt, weiß er: Der Täter hat die A9 nach Süden genommen, hat gerade die Autobahn verlassen, fährt auf der B91 in Richtung Zeitz.
Die Reaktion des Polizisten schildert Daniel Waclawcyz im Zeugenstand so: "Dann hat er mich angeschrien, woher ich das weiß, dass das seine Aufgabe sei. Und dann habe ich noch eine Rüge bekommen, weil ich aufgelegt hatte." Er habe den Mercedes-Mitarbeiter ein zweites Mal erreicht und dann das Telefon an die Polizei weitergegeben, sagt er. Viele Rechtsanwälte und Zuschauer im Saal schütteln fassungslos ihre Köpfe, als er das erzählt.
Wiedersdorf: Auch bei der Gedenkfeier vergessen
Unterstützung bei der Verarbeitung der Geschehnisse haben die Betroffenen aus Wiedersdorf erst sehr spät erhalten, sagen sie. "Die einzigen, die wirklich was gemacht haben, sind der Weiße Ring", sagt Dagmar M. Die Hilfsorganisation Weißer Ring unterstützt Opfer von Straftaten.
Viele Psychologen hätten sich für nicht zuständig für die Wiedersdorfer erklärt. Erst im Juni 2020 hätten sie und ihr Mann endlich einen Therapie anfangen können, sagt Dagmar M. Die Folgen des Anschlages, mit denen beide nun leben müssen, sind dieselben, mit denen auch die Betroffenen aus der Synagoge, des Kiez-Döners und der Magdeburger Straße zu kämpfen haben: Schlafstörungen und Ängste. Sie verlassen ungern ihre Häuser oder Wohnungen. Bei den Wiedersdorfern kommen körperliche Beschwerden durch die Schussverletzungen hinzu.
Dagmar M. sagt, sie habe Hilfe von einem Betroffenen aus der Synagoge erhalten, der anonym bleiben wolle. Der Mann habe ihr und ihrem Mann einen Gutschein für ein Hotel geschenkt. "Das ist die einzige Gruppe, die überhaupt gemerkt hat, dass es uns gibt", sagt sie.
Am 9. Oktober 2020 wird das Attentat ein Jahr her sein. Bei der zentralen Gedenkveranstaltung – die zeitlich übrigens auch auf die Betroffenen aus der Synagoge, die am Freitag, dem 9. Oktober Shabbat feiern werden, keine Rücksicht nimmt – wurden die Wiedersdorfer zunächst nicht eingeladen.
Der Weiße Ring hat für uns angerufen und gesagt: Es gibt drei Tatorte! Dann haben wir eine Einladung gekriegt.
Dagmar M., Zeugin und Nebenklägerin
Wie der Prozess fortgesetzt wird
Am 30. September folgt der sechzehnte Verhandlungstag im Prozess. Dann werden die Beamten aussagen, die Stephan B. schlussendlich auf der B91 festgenommen haben. Dann werden auch alle wesentlichen Tat- und Handlungsorte des Anschlages einmal besprochen worden sein. Das Urteil im Prozess wird, sofern es zu keinen weiteren Verzögerungen kommt, für den 18. November erwartet.
Über den AutorRoland Jäger arbeitet seit 2015 für den Mitteldeutschen Rundfunk – zunächst als Volontär und seit 2017 als Freier Mitarbeiter im Landesfunkhaus Magdeburg. Meist bearbeitet er politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Themen - häufig für die TV-Redaktionen MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE und Exakt – Die Story, auch für den Hörfunk und die Online-Redaktion. Vor seiner Zeit bei MDR SACHSEN-ANHALT hat Roland Jäger bei den Radiosendern Rockland und radioSAW erste journalistische Erfahrungen gesammelt und Europäische Geschichte und Germanistik mit Schwerpunkt Medienlinguistik an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg studiert.
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Quelle: MDR/pow
Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 23. September 2020 | 19:00 Uhr
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