Interview Sexueller Kindesmissbrauch in der DDR größeres Tabu als in der BRD

06. März 2019, 14:51 Uhr

Der sexuelle Missbrauch von Kindern war in der DDR weitaus stärker tabuisiert als in der BRD. Zu diesem Ergebnis kommt eine nun veröffentlichte Studie der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Obwohl es auch ostdeutschen Betroffenen schwer fällt, über ihre Erlebnisse zu sprechen, wurden inzwischen 100 Berichte ausgewertet und in einer Fallstudie speziell zur DDR veröffentlicht. Wir haben mit Kommissionsmitglied Dr. Christine Bergmann gesprochen.

Die Unabhängige Kommission beschäftigt sich mit sexuellem Missbrauch in der Bundesrepublik und in der DDR. War es einfach, mit den Betroffenen ins Gespräch zu kommen?

Da gibt es schon Hürden bei vielen Betroffenen. Es ist hart, noch einmal zurückzugehen und sich mit seiner Geschichte auseinanderzusetzen, das zu erzählen. Und nach wie vor gibt es da größere Hemmnisse bei den Menschen der neuen Bundesländer, die mit staatlichen Institutionen nicht immer gute Erfahrungen gemacht haben. Aber es haben sich viele gemeldet. Auch vor allem nach einer öffentlichen Veranstaltung im Herbst 2017 – danach haben sich viele gemeldet, die gesagt haben: "Jetzt wissen wir, dass das bei uns genauso ein Thema ist wie im Westen. Und dass wir uns auch melden können." So dass wir doch eine ganze Menge Fälle aufgearbeitet haben. Und festgestellt haben, dass wir mehr in die Tiefe gehen müssen.

Wir haben gut 100 Geschichten für die Fallstudie ausgewertet: 75 Anhörungen und 27 schriftliche Berichte, die bei uns eingingen. Inzwischen haben wir weitere 50 Berichte aufgenommen, denn es ist ja immer weiter gegangen. Jetzt sind wir etwa bei 140 Anhörungen und schriftlichen Berichten zusammen, die sich auf Kindesmissbrauch in der DDR beziehen.

Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs Aufgabe der Kommission ist es, sämtliche Formen von sexuellem Kindesmissbrauch in der Bundesrepublik und in der DDR zu untersuchen - sowohl in Institutionen als auch im familiären Umfeld. Die Veranstaltungen der Kommission sollen auf das Tabuthema Kindesmissbrauch aufmerksam machen und den Dialog zwischen Betroffenen und der Gesellschaft fördern. Die Kommission hat im Mai 2016 ihre Arbeit aufgenommen. Im Juni 2017 wurde der erste Zwischenbericht veröffentlicht. Nun hat die Kommission eine neue Fallstudie vorgelegt.

Warum nehmen es die Betroffenen auf sich, nach oft vielen Jahrzehnten über ihre Erfahrungen zu sprechen?

Für die Betroffenen ist das schon nicht immer einfach, zu uns zu kommen. Aber sie sehen das als eine Art Anerkennung. Denn sie konnten ja damals, als das passierte, nirgendwo sprechen. Keiner hat ihnen geglaubt, und nach wie vor haben sie das Gefühl, gerade die Heimkinder, dass sie lieber nicht darüber reden sollten. Weil Missbrauch doch sehr stark tabuisiert und kriminalisiert wurde. Bei der unabhängigen Kommission können sie reden. Und einige haben es geschafft und von sich aus gesagt: ich bin bereit, auch beim öffentlichen Hearing zu sprechen.

Sie ordnen die Berichte der Missbrauchsopfer in den historischen Kontext ein, was genau heißt das?

Wir müssen uns anschauen, in welchem politischen Zusammenhang hat dieser Missbrauch stattgefunden? Wie war das Umfeld, wie waren die Strukturen in der Gesellschaft? Dann können wir das einordnen und auch sagen, was anders war als in der alten Bundesrepublik.

Also zum Beispiel die Heimeinweisungen in der DDR. Hier war ja die Familie ein kleines Kollektiv, das zu funktionieren hatte. Es sollte ja doch sozialistische Menschen erziehen. Und wenn das nicht funktionierte und es Probleme gab, gab es ja relativ schnell Heimeinweisungen. Diese dienten nicht der Hilfe von Kindern, sondern es ging um Umerziehung. Dann muss man immer das geschlossene System DDR sehen. Ich denke mal an die schlimmsten Fälle, die Jugendwerkhöfe oder Spezialheime. Aus diesem geschlossenen System war kaum ein Entkommen möglich. Die Heime bestanden ja bis 1990 fort in der DDR mit der Pädagogik und Gewalt, die auch sexuelle Übergriffe begünstigte. Denn nirgendwo gab es eine Stelle, an die man sich wenden konnte oder wo entsprechende Kontrollen stattgefunden hätten.

Wo liegen die Unterschiede bei der Aufarbeitung von Kindesmissbrauch in Ost und West?

Es gibt keine besondere Form von sexueller Gewalt in der DDR. Das, was erlebt wird, ist immer schrecklich. Was man aber beachten muss dabei ist die ganz starke Tabuisierung. Dass das eben kein Thema war. Dass die Gesellschaft überhaupt nicht sensibilisiert war, auch wenn einem etwas komisch vorkam. Und auch die Distanz zum Staatsapparat, mit dem man am liebsten gar nichts zu tun haben wollte – das ist auch ein Hinderungsgrund, irgendetwas zu melden. Das ist erstaunlich in diesem Überwachungsstaat, also jedes Kind war in der Krippe, Kindergarten, etc. - also in einem staatlichen Umfeld. Und überall gab es Leute, die mitguckten und hörten und trotzdem wurde ganz wenig angezeigt. Das hat auch damit zu tun, dass man das auch gar nicht haben wollte als Staat. Es wurde keine Statistik geführt. Denn der Staat empfand sich in seiner Ideologie als der bessere und hat lieber gar nicht erfasst, was nicht reinpasste. In der heilen sozialistischen Welt gibt es das einfach nicht. Und das führt auch dazu, dass die Betroffenen bis heute ohne Hilfe bleiben.

Eine weitere Besonderheit ist auch, dass es bis heute den Ostdeutschen schwerer fällt, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Die Heimkinder beispielsweise sprechen nach wie vor nicht gerne über diese Zeit. Sie treffen bis heute auf viele Vorurteile. Das macht es den Betroffenen schwer, zu sagen: ich war in so einem Heim. Und dann auch noch darüber zu sprechen, was sie dort erlebt haben.

Fand Kindesmissbrauch vor allem in den Heimen der DDR statt?

Es sind weniger Fälle von Missbrauch in den Institutionen als in den Familien. Wobei man wissen muss, dass es Kinder gab, die bereits in der Familie Missbrauch erlebt hatten und dann ins Heim kamen und dort das gleiche wieder erlebt hatten. Man hatte in den Heimen viele Kinder und Jugendliche, die im familiären Umfeld schon viel erlebt hatten und bei denen es dann im Heim weiter ging. Das meiste ist in den Familien passiert (74 Anhörungen). Da gibt es keinen Unterschied zwischen Ost und West da geht es bei den Tätern um den Vater, Stiefvater, Großvater, Stiefbruder bis hin zu Freunden der Familie etc.

Sie sprechen selbst regelmäßig mit Betroffenen in den Anhörungen. Was ist Ihnen in Erinnerung geblieben?

Ein Fall ist vielleicht typisch für die DDR. Da waren Geschwisterkinder, die in ihrer Familie alle Formen von Gewalt erlebt hatten bis hin zum Missbrauch. Sie sind dann ausgerissen und wurden von der Polizei mehrfach aufgegriffen. Dort haben sie erzählt, warum sie ausgerissen sind, und die Polizei schickt sie wieder in die Familie zurück. Die Polizei macht nichts, gar nichts. Das sind so Fälle, wo einem die Luft wegbleibt.

Was ist das wichtigste Ergebnis aus der Studie?

Das Wichtigste ist, dass wir die Gesellschaft sensibel machen können für alles, was passiert ist. Denn die Betroffenen leben noch unter uns. Damit man auch weiß, wie man damit umgehen kann. Die Betroffenen sind jetzt zwischen 40 und 60 Jahren alt. Und sie leiden unter teils schweren posttraumatischen Belastungsstörungen, psychischen und physischen Störungen. Viele sind längst erwerbsunfähig und leben unter teils sehr schlechten ökonomischen Bedingungen. Das zu erfahren und zur Kenntnis zu nehmen und dann auch Hilfe anzubieten, ist enorm wichtig. Und anzuerkennen, dass der sexuelle Kindesmissbrauch nicht irgendetwas war, was im Westen stattgefunden hat, sondern bei uns in der DDR in gleicher Weise. Und dass man daraus gut ableitet, wie es weitergehen muss.

Was sind die Forderungen?

Es muss sehr viel mehr in Bezug auf den Missbrauch in der DDR geforscht werden. Und dann geht es um die Anerkennung. Es muss klar sein, wo die Verantwortungen lagen. Denn die Betroffenen haben oft noch Schuldgefühle. Es geht um Anerkennung des Missbrauchs und wie man damit umgeht, beispielsweise auf Ämtern. Man kann mit einem Betroffenen nicht so reden, wie mit einem, der sich den Fuß gebrochen hat, wenn es um Maßnahmen geht. Die Betroffenen brauchen für lange Zeit Therapien. Selbsthilfegruppen sind eine wichtige Stütze, aber ein Betroffener muss auch einmal Reisekosten erstattet bekommen, beispielsweise zu einem öffentlichen Hearing. Wir brauchen wirklich eine unkompliziert erreichbare, unbegrenzt laufende Finanzierung, Therapien und Beratungsstellen. Wir haben da nach wie vor eine schlechte Versorgung.

Zur Person: Dr. Christine Bergmann ist seit 2016 Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Bergmann wurde 1939 in Dresden geboren und war in der DDR Mitarbeiterin am Institut für Arzneimittelwesen. Von 1998 bis 2002 war sie Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Sie sagt selbst von sich, dass der bessere Schutz von Kindern und Jugendlichen Herzensangelegenheit in all ihren politischen Ämtern war.

Weitere Informationen und die gesamte Studie gibt es hier: www.aufarbeitungskommission.de. Unter 0800 4030040 bietet die Kommission ein anonymes und kostenfreies Infotelefon an.

Dieses Interview wurde zuerst am 06. März 2019 veröffentlicht.

(dh)

Über dieses Thema berichtete der MDR auch im TV: MDR aktuell | 11.10.2017 | 17:45 Uhr