Frau schläft im Gras.
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Sucht und Rausch in der DDR Medikamentenabhängigkeit in der DDR – besonders Frauen waren betroffen

25. November 2021, 10:00 Uhr

Konsum und Rausch waren lange Tabuthemen in der DDR. Die Suchthilfe lag deshalb bis in die 70er Jahre in den Händen der Kirche. Im Interview mit der "MDR Zeitreise" berichtet der Suchtberater Helmut Bunde von seinen Erfahrungen mit Medikamentenabhängigen bei der Inneren Mission in Riesa und Döbeln.

Das Klischee ist ja: Es wurde viel getrunken, es wurde viel geraucht in der DDR…

Viel getrunken, ja, geraucht auch – wobei sich die Zahlen, wenn man sie mit der Bundesrepublik vergleicht, beim Alkohol nicht so groß unterscheiden. Es wurden nur andere Alkoholika getrunken. Im Westen waren es mehr der Wein und Bier und bei uns waren es mehr Spirituosen – in der DDR war der Spirituosen-Verbrauch doppelt so hoch. Bier war nicht so sehr verbreitet, denn es war nicht so lange haltbar und man hat es auch nicht immer gekriegt.

Gab es Drogen in der DDR?

DDR-Suchtberater Helmut Bunde
Helmut Bunde war Suchtberater bei der Inneren Mission in Riesa und Döbeln. Bildrechte: privat/ Helmut Bunde

Was man im Westen hatte, Heroin, Cannabis, auch Ecstasy, das gab es hier nicht. Es waren Einzelne, die Beziehungen hatten und sich etwas beschaffen konnten. Aber hier wurden gewisse Sachen selbst zusammengemixt, auch Arzneimittel. Es gab dann so Kombinationen mit Faustan und anderen Medikamenten und auch Alkohol-Faustan und Alkohol, Faustan Cola zum Beispiel. Gelegentlich haben die Leute auch geschnüffelt. Aber es gab eben nicht diese Drogen, die es in den alten Bundesländern gab.

Faustan war ein Tranquilizer (Beruhigungsmittel), der gegen Angst- und Spannungszustände helfen sollte. Durch Alkohol wurde die Wirkung des Medikaments in nicht vorhersehbarer Weise verändert und verstärkt.

Weil es keine Drogen gab, schaffte man sich also Ersatz. Waren das nur junge Leute?

Die Jüngeren haben das eben punktuell im Partybereich gemacht, dass am Wochenende so einiges gemixt wurde. Besonders Faustan war da eben ein sehr gängiges Mittel. Zwar gab es das nur auf Rezept, aber das bekam man sehr leicht. Da hatte man dann eine Großmutter oder verschiedene andere Personen. Unter der Woche haben die dann aber wieder nichts genommen. Wenn Medikamente aber täglich in bestimmten Größenordnungen benötigt werden, reden wir von einer Abhängigkeit. Das waren dann meistens Schmerzmittel und Tranquilizer. Ich hatte Leute, vor allem Frauen, die damals medikamentenabhängig waren und die sich abends dann mit Pillen und Weinbrand oder ähnlichem ausgeglichen haben, um schlafen zu können. Und früh ging es dann mit Medikamenten weiter, um den Tag zu überstehen.

Medikamentenmissbrauch ist also nicht gleich Medikamentenabhängigkeit?

Ja, wo damals bei den Jugendlichen in den alten Bundesländern Ecstasy und Cannabis dranwaren, war es bei uns dann eben Faustan. Dieses Ausprobieren war zwar schon gefährlich, aber das sehe ich nicht als Medikamentenabhängigkeit. Das wird anders erlebt, da will sich der Konsument gewissermaßen aus der Situation rausbeamen und erlebt eine Gelassenheit in der Situation, in der er ist. Das ist Medikamentenmissbrauch oder Medikamentenfalschgebrauch. Eine Abhängigkeit liegt dann vor, wenn ohne Medikamente oder bestimmte Wechselwirkungen mit Medikamenten nichts mehr geht. Dazu kommt es, wenn Arzneimittel ein hohes Suchtpotenzial haben, länger als empfohlen eingenommen werden, mit anderen Medikamenten oder Alkohol gemischt werden. Die eigentliche Wirkung der Substanz lässt dann nach. In der DDR waren 94-95 Prozent der Süchtigen Alkoholabhängige, es gab also nur ein paar wenige Medikamentenabhängige.

Und das waren vor allem Frauen, die medikamentenabhängig wurden?

Das Verhältnis war schon etwa bei 85 Prozent Frauen. Es gab viele im Schichtsystem, die das nicht ausgehalten haben – Schichtsystem, Haushalt und so weiter, die sind mit dem Rhythmus nicht zurechtgekommen. Und Frauen neigen da eher dazu, eine Pille zu nehmen, als einen Schluck Cognac oder Wodka. Das war damals auch in Westdeutschland so und ist bis heute zu beobachten. Männer haben wir selten gehabt, die haben dann eher Alkohol genommen. Wenn, waren es oft Männer, die Bürotätigkeiten hatten, auch in leitenden Positionen.

Bis in die 70er bot nur die Kirche Suchthilfe an. Erst dann half auch der Staat. Wer kam in die Beratungsstellen?

Die Kirche hatte in jedem Kreis eine Zweigstelle der Inneren Mission wo ein oder zwei Fürsorger oder Fürsorgerinnen tätig waren und sich um alle möglichen Belange kümmerten. Auch Suchtkranke sind zu uns in die Beratungsstelle gekommen. Da musste es aber einen Ausschlaggeber gegeben haben. Führerschein war weg, Partner zog aus, oder der Betrieb sagte, jetzt ist Schluss. Man musste also erst an einen Punkt kommen, an dem es nicht mehr ging, oder jemand anderes half. Man bemerkte jedoch oft nur an der Vernachlässigung sozialer Beziehungen, beziehungsweise an einer gewissen Isolation, dass etwas mit der betroffenen Person nicht stimmte. Ein Großteil der Abhängigen ging ja auch seiner Arbeit nach, oder war nicht so auffällig. Außerdem hatte ja auch ein Arzt die Medikamente verschrieben – nur die Menge und die Kombination hatte er eben so nicht verordnet. Deswegen kamen Medikamentenabhängige nur schwer und selten in Behandlung und das ist auch heute noch so. Viele wollten sich damals übrigens auch nicht in der Klinik behandeln lassen, weil sie dafür in die Psychiatrie mussten. Das wollten sie nicht, diese Bezeichnung hat sie natürlich auch davon abgehalten, zu gehen.

Haben die Medikamente, die damals auf dem DDR-Markt waren, den Missbrauch begünstigt? Waren die besonders stark oder gab es weniger strenge Auflagen als im Westen?

Eigentlich nicht. Das wurde in den Apotheken kontrolliert. Und was frei verkäuflich war, gab es nur in bestimmten Mengen. Und auch die Stoffe – die haben einfach andere Namen heute. Es gibt Sachen, die es damals auf Rezept gab, die jetzt frei verkäuflich sind – das sind ganz einfache Schmerzmittel, Analgetika. Da werden von der Pharmaindustrie einfach der Name und die Stoffsubstanz geändert, aber die Abhängigkeit und die Wirkung bleiben gleich. Was es in der DDR nicht gab, war die Werbung für Arzneimittel. Das ist heute gang und gäbe und das war es auch damals im Westen. Damit wurde die Schwelle, etwas zu nehmen, runtergesetzt.

Welche Erfahrung mit einer medikamentenabhängigen Person ist Ihnen am meisten im Gedächtnis geblieben?

Eine Frau aus der Energieversorgung, sie hatte einen guten Job und war gut integriert. Sie hatte in ihrer Schublade im Schreibtisch verschiedene Medikamente, als Cocktail, die sie tagsüber nahm. Und ihre Mitarbeiterinnen haben sie immer bedauert, wegen ihrer "Rücken- und Kopfschmerzen". Abends musste sie immer sehen, wo sie Nachschub herbekommt, weil nicht alles frei verkäuflich war und man nicht immer in diesselbe Apotheke gehen konnte, das wäre aufgefallen. Da musste sie dann kreativ werden, wo sie was herbekommt. Sie ist dann zum Gynäkologen und hat dort nach Schmerzmitteln gefragt. Dann ist sie zum nächsten Facharzt gegangen, zum Orthopäden, wegen angeblicher Rückenschmerzen. Und das ging dann im Prinzip so von Arzt zu Arzt, oder von Apotheke zu Apotheke, soweit es frei verkäuflich war, oder sie hat bei der Mutter nachgefragt. Abends hatte sie dann auch Alkohol getrunken und der Mann ist dann irgendwann darauf aufmerksam geworden. Dann kam sie zur Beratung und auch in die Klinik. Der Fall endete tragisch, sie ist dann eines Tages an einer Überdosis gestorben, von Medikamenten kombiniert mit Alkohol.

Was hat sich am meisten geändert seit der Wende?

Dass der Alkohol jetzt auch in größeren Mengen verfügbar ist, besonders Bier. Und die Möglichkeit, jetzt auch Drogen aus dem illegalen Bereich zu bekommen und zu konsumieren. Nach der Wende kam dann die Spielsucht dazu, 1992/1993 die Kombination von Alkohol und pathologischem Glücksspiel. 1994/1995 ging es dann langsam mit den illegalen Drogen los. Die damals Medikamentenabhängigen waren ihre Substanzen aber schon so gewöhnt, die sind selten noch zu harten Drogen gewechselt.

Spielt der Mischkonsum von Alkohol und Medikamenten heute immer noch eine Rolle?

Ja, das hat nach der Wende noch eine Rolle gespielt und spielt heut auch noch eine Rolle. Ich denke, diese Größenordnung ist auch damals in beiden Teilen, also BRD und DDR, gleich gewesen und ist auch heute in Gesamtdeutschland gleich. Wir rechnen da mit einem sehr hohen Anteil, das sieht man auch an den Daten der Krankenkassen und Pharmafirmen. Die Abhängigkeit von Medikamenten ist in Deutschland fast genauso hoch wie die von Alkohol. Wir gehen davon aus, dass es heute zwischen 1,4 bis 1,9 Millionen Medikamentenabhängige in Deutschland gibt. Und das endet körperlich auch sehr negativ, von Nierenversagen bis zu vorzeitiger Berentung, weil die Erwerbsfähigkeit nicht mehr da ist.


Zur Person: Helmut Bunde begann 1975 seine Arbeit als Fürsorger bei der Inneren Mission in Riesa. Ab 1981 bildete er ehrenamtliche Suchthelfer aus. Von 1982 an war er außerdem Ansprechpartner für Suchtkranke in einer Beratungsstelle in Döbeln. Nach der Wende leitete er die Suchtberatungsstelle in Döbeln, 1995 wurde er Referent für Suchtkranken- und Straffälligenhilfe beim Diakonischen Werk Sachsen sowie Vorsitzender der Sächsischen Landesstelle gegen Suchtgefahr.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR um 4 u. a. mit Mediziner Dr. Thomas Dietz: Medikamentensucht - in Abhängigkeit geraten | 07. Januar 2021 | 17:00 Uhr

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