"Die wechselten die Straßenseite, wenn sie mich sahen..."

Mitte 1991 versuchte die Rotkäppchen Sektkellerei, die mittlerweile als GmbH unter dem Dach der Treuhand arbeitete, in einer verzweifelten Kraftanstrengung, den Betrieb zu retten. Knapp viereinhalb Jahre nach dem Erfolgsbericht der Aktuellen Kamera kämpfte Rotkäppchen um die Existenz.

Keine Lust mehr auf DDR-Sekt

Unvergessen sind die Bilder der jubelnden Menschen am Grenzübergang Bornholmer Straße in der Nacht des Mauerfalls am 9. November 1989. Viele winkten mit einer Flasche Rotkäppchen in der Hand den Journalisten in West-Berlin zu. Aber den Sekt aus Freyburg traf von dieser Stunde an das gleiche Schicksal wie Trabant, Wartburg und Knusperflocken. Die Nachfrage brach ein. Statt DDR-Sekt sollten auf einmal perlende Köstlichkeiten aus dem Westen die heimischen Feiern  verschönen. Der Dezember 1989 wurde zum schlechtesten Verkaufsmonat des gesamten Jahres, trotz Weihnachten und rauschender Silvester Feiern.          

Schlimmer geht's nimmer

Der Einbruch setzte sich nach Jahresbeginn 1990 fort. Zu allem Unglück brach auch noch der gesamte Großhandel zusammen. Mitarbeiter fuhren mit Lieferwagen auf Märkte und verkauften die einstige Premium Marke wie Ramsch von der Ladefläche. Mit Währungsunion und Übernahme der Kellerei durch die Treuhand im Juni 1990 verschärfte sich die Situation. Der Preis von 22 DDR-Mark pro Flasche war nach der Währungsunion Vergangenheit. Die Wettbewerber aus dem Westen verlangten für vergleichbare Produkte fünf bis sechs D-Mark, und das bei wesentlich geringeren Produktionskosten aufgrund moderner Fertigungslinien und viel geringerer Personalkosten. Rotkäppchen war nicht konkurrenzfähig. Im zweiten Halbjahr 1990 verkaufte die Kellerei ganze 1,8 Millionen Flaschen. Und es ging weiter bergab bis auf eine Million Flaschen im Jahr 1991.

Gefürchtete Briefe

Die Sektkellerei war zu DDR-Zeiten  der größte Arbeitgeber am Ort. Viele Einwohner hatten den überwiegenden Teil ihres Berufslebens hier verbracht. So auch Geschäftsführer Joachim Worch, der 1958 bei Rotkäppchen als 28-Jähriger begonnen hatte. Von ehemals 360 Mitarbeitern waren jedoch Anfang 1991 nur noch etwa 180 in Lohn und Brot. Jeder, der gehen musste, erhielt einen persönlichen Brief der Geschäftsleitung. Gunter Heise, zu DDR-Zeiten technischer Leiter des Betriebs, wurde kurz nach diesem Fernsehbericht als Nachfolger von Worch zum neuen Geschäftsführer berufen. Heise erklärte Jahre später der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung": " Diese Briefe zu schreiben, war das schwierigste, was ich je gemacht habe. Die Betroffenen und ihre Angehörigen wechselten die Straßenseite, wenn sie mich sahen. Hier kennt ja jeder jeden."

Die Braut wird aufgehübscht

Die Versuche der Treuhand, die Sektkellerei zu privatisieren, schienen erst einmal vielversprechend. An Interessenten aus dem Westen mangelte es nicht, wie im Beitrag berichtet wird. Der Reporter kritisiert, wie sich die meisten diesen Einkauf offenbar vorstellten: als Schnäppchen praktisch zum Nulltarif.

Die Vorbehalte in der Bevölkerung gegen solche Formen der Privatisierung waren beträchlich. So wird auch die Bemerkung des Reporters verständlich, der in Bezug auf die anreisenden Investoren die Grimm'schen Märchen bemüht und von " Wölfen" spricht.

Zum Glück war die Treuhand im Fall von Rotkäppchen von der Überlebensfähigkeit des Unternehmens überzeugt. Sonst hätte sie nicht sieben Millionen D-Mark für die Hochleistungs-Abfüllanlage bereitgestellt, die im Beitrag in Betrieb genommen wird. Und auch keine neue Produktlinie für Piccolo-Flaschen genehmigt. Zwar bedeutete dies noch einmal  die Entlassung von Mitarbeitern, wie Worch bedauert. Aber nun konnte günstiger produziert und schließlich auch wieder mehr verkauft werden. 1992, ein Jahr nach diesem Fernsehbericht, stieg der Verkauf von Rotkäppchen auf 5,7 Millionen Flaschen an - eine Trendwende. Und die Treuhand war konsequent. Statt das Traditionsunternehmen zu veräußern, suchte sie eine Mannschaft mit dem besten Konzept für das Unternehmen. Die fand sich schließlich 1993 in einer Gruppe leitender Mitarbeiter von Rotkäppchen, die in einem sogenannten "Management Buy Out" den Zuschlag erhielten. Einer von ihnen: Günter Heise, der geschäftsführender Gesellschafter wurde und aus dem Sanierungsfall Rotkäppchen endgültig eine deutsch-deutsche Erfolgsgeschichte machte.