Wer braucht den Osten?
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Wer braucht den Osten?

12. Mai 2020, 11:45 Uhr

Als die DDR 1990 der Bundesrepublik beitrat, sollte alles so werden wie im Westen. Die gleiche Währung, die gleiche Wirtschaftsordnung, gleiche Parteien, gleicher Wohlstand - und das möglichst schnell. Doch heute ist klar: Deutschland ist nicht einfach größer geworden. Der Osten hat das gesamte Land verändert. Deutschland wählt anders, lebt und streitet unterschiedlich. Liegt es am Osten, dass es die Wahrheiten der alten Bundesrepublik heute so nicht mehr gibt?

Ostdeutschland als Vorreiter

Ostdeutschland ist Vorreiter für ein verändertes Wahlverhalten und vielerorts heftig artikulierte Unzufriedenheit, aber auch für gewaltige Veränderungen von Lebens- und Arbeitswelten. Bleibt der Osten das ewige Sorgenkind der Nation oder bietet sich durch ihn die Chance, alte Denkmuster zu überwinden, Neues zu etablieren? Weckt der Osten gerade den Westen auf? Wer braucht diesen Osten? Die dreiteilige Dokumentation geht diesen Fragen nach.

Teil 1: Politik

Bei den Bundestagswahlen 2017 haben Ost und West so unterschiedlich gewählt wie noch nie. Während 1990 in der ganzen Bundesrepublik ähnliche Koalitionen bevorzugt wurden, wäre jetzt eine große Koalition alleine mit den Ergebnissen in Ostdeutschland ebenso wenig machbar wie "Jamaika". Der Osten hat mit fast 50 Prozent eine Mehrheit aus CDU und AfD gewählt.

Im Stammland der Ost-CDU, im einst von "König Kurt" Biedenkopf mit fast 60 Prozent Stimmen regierten Sachsen, fuhr die AfD mehr Stimmen ein als die CDU. Der 88-jährige Biedenkopf mag nicht mehr nur zusehen, wie "sein Sachsen" sich entwickelt und zieht nun wieder von Bayern nach Dresden, um aufzurütteln.

Der Westen lernt vom Osten

Anders als allgemein angenommen, hat der Osten Westdeutschland in den vergangenen 25 Jahren stark geprägt. Einige gesamtdeutsche Entwicklungen haben sich zuerst in Ostdeutschland gezeigt: Betrachtet man nur den Osten, so hätten die Wähler dort bei den Bundestagswahlen schon viel früher mehr Parteien ins Parlament gewählt. Hätten nur Ostdeutsche abgestimmt, wären Koalitionsmodelle wie Schwarz-Gelb oder Rot-Grün schon seit 1990 kaum möglich gewesen. 2017 haben nunmehr auch die Wähler im Westen Deutschlands deutlich breiter gewählt.

Bundestag - weniger Redeanteil bei Ostdeutschen

Blickt man auf die Abgeordneten im Deutschen Bundestag, zeigt sich ein Ungleichgewicht. Politiker aus dem Osten haben anteilmäßig seltener Reden gehalten, als ihre Kollegen aus dem Westen der Republik. Auch inhaltlich gibt es Unterschiede: Die gehaltenen Reden verteilen sich der Auswertung zufolge nicht gleichmäßig auf die politischen Sachthemen. Demnach hielten ostdeutsche Politiker verhältnismäßig oft Reden in den eher als "weich" geltenden Gebieten wie Kultur; Sport, Freizeit und Tourismus sowie Bildung. Dafür treten sie relativ seltener bei den "harten" Themen, wie etwa Verteidigung, Außenpolitik und Verkehr ans Plenarmikrofon.

Was ist geschehen im Osten?

Die Parteienbindung in den neuen Bundesländern ist deutlich geringer als im Westen, die Gesellschaft überaltert. Und es ist die Vergangenheit, die immer wieder zur Gegenwart wird: die Sehnsucht nach "Runden Tischen" wie damals in den Wendemonaten, nach mehr direkter Demokratie, die Skepsis gegenüber "denen da oben". Experten halten den Osten Deutschlands für einen Seismographen gesellschaftlicher Beben, die bald ganz Deutschland erreichen könnten.

Teil 2: Wirtschaft

1990 scheint die Wirtschaft des Ostens für den Westen so unbrauchbar wie der Trabant. Alles wird neu geordnet – nach den politischen und wirtschaftlichen Vorgaben des Westens. Doch der Osten bleibt attraktiv, und zwar als Markt, den die gut aufgestellte Westwirtschaft problemlos mit versorgen kann. Die Folgen der kompletten Deindustrialisierung Ostdeutschlands sind bis heute spürbar. Die Ostwirtschaft ist kleinteilig, schwach, forschungsfern - die Steuereinnahmen der Länder und Kommunen reichen an den meisten Orten für kaum mehr als die Hälfte der notwendigen Ausgaben. Ein Ende der Transferleistungen in den Osten ist nicht in Sicht. Ost- und Westwirtschaft sind weit voneinander entfernt.

Fehler und Chancen der Wendezeit

Doch es gibt auch gute Nachrichten: Es haben sich mehr Unternehmen entwickelt als viele denken. Kleinere, mittelständische Strukturen prägen das wirtschaftliche Gesicht des Ostens. Allerdings hätten es noch viel mehr sein können.

Einer der Star-Ökonomen dieses Landes, Professor Hans-Werner Sinn, kann bis heute seine Erregung kaum zurückhalten, wenn es um die Politik von Staat und Treuhand nach dem Ende der DDR geht. Noch heute bedauert er aus ökonomischer Sicht die fatalen Fehler und vertanen Chancen der Wendezeit, weil das Eigentum der DDR eben nicht an Ostdeutsche verteilt und nur selten an sie verkauft worden ist. Das Ergebnis war eine in der Menschheitsgeschichte einmalige Deindustrialisierung, die am Ende  zum Umbau von Arbeitswelt und Gesellschaft im gesamten Land führt: Leiharbeit, prekäre Beschäftigung und Hartz IV wären ohne das Labor Ost kaum denkbar.

Trotz der widrigen Wettbewerbsbedingungen haben Menschen im Osten sich durchgesetzt: Es gibt sie, die Helden des Aufbaus Ost. Menschen, die heute dafür sorgen, dass Raumschiffe an die ISS andocken und Autos mit Wasserstoff fahren können, Hidden Champions, die auf dem Weltmarkt gesucht werden, die der Inbegriff dafür sind, wie sehr ein Landstrich kreative Köpfe braucht. Sie zeugen von Selbstbewusstsein, Dynamik, Konkurrenzfähigkeit und von Stolz auf das Geleistete.

Teil 3: Gesellschaft

Der Umbruch in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft in Ostdeutschland war umfassend und radikal. Oberflächlich betrachtet sieht der Osten heute aus wie der Westen. Wenig blieb von den Strukturen der alten DDR. Doch 30 Jahre nach der Einheit wird deutlich, dass der Osten noch immer anders tickt, ganz Eigenes hervorgebracht hat, und dass mehr geblieben ist, als der grüne Pfeil an der Ampel.

Manches, was zunächst als gestrig abgelehnt wurde, hat heute Eingang in den Alltag des gesamten Landes gefunden: Die Diskussion um einheitliche Bildungsstandards, Kitas und Krippen, die Selbstverständlichkeit, dass Frauen auch mit Kindern in Vollzeit arbeiten, die professionelle Sportförderung oder die neuen Medizinischen Versorgungszentren, die seit 2004 per Gesetz den Geist der alten Polikliniken der DDR zum Leben erwecken.

Annäherung des Westens an den Osten

Der Einfluss des Ostens wird immer öfter sichtbar: Waren in Westdeutschland in den 1980ern nur sechs Prozent aller Kinder unter drei Jahren in der Krippe, sind es heute fast ein Drittel. Auch bei den Lebens- und Arbeitsverhältnissen gab es in einigen Bereichen eine bemerkenswerte Annäherung des Westens an den Osten. Sprachen sich in einer Studie von 1991 noch die Hälfte aller Westdeutschen für die klassische Rollenverteilung zwischen Mann und Frau aus, wünschten sich die 2016 nur noch 26 Prozent der Westdeutschen. Auch in Sachen Frauenbeschäftigungsquote holt der Westen auf, sie wuchs in den letzten 20 Jahren von 42 auf 53 Prozent. Im Osten liegt sie heute bei 59 Prozent.

Prägend für das gesamte Land ist auch die reiche Kultur- und Naturlandschaft Ostdeutschlands. Die Straße der Romanik, das Meißner Porzellan, die Uhrentradition in Glashütte, Weimar und Dresden, zahllose mittelalterliche Burgen. Von den 16 Nationalparks liegen allein sieben im Osten. In der Müritzregion, in der Anfang der 1990er-Jahre eine hohe Arbeitslosigkeit herrschte, sind der Nationalpark und der Tourismus heute die wirtschaftliche Basis. Durch Umbrüche ist Neues entstanden.

Dieser Osten wird gebraucht

Bei allen politischen Differenzen, kulturellen Eigenheiten und wirtschaftlichen Ungleichgewichten - Ost und West nähern sich an, in Lebensstil und Einstellungen. Und doch brauchen und bewahren die Menschen in Ostdeutschland auch die Erinnerungen an ihr untergegangenes Land. Der Osten ist Heimat und Identität.

Stand: Juni 2018


Über dieses Thema berichtet der MDR auch in der TV-Doku "Wer braucht den Osten?" am: 12.05.2020 | 22:05 Uhr