Ferienausflug Warum Pouch-Faltboote wieder im Trend sind
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19. Juli 2022, 08:20 Uhr
Ferien im restlichen Europa oder in der Heimat? Am liebsten aber in der Natur – das ist angesagt. Ein Trend, der auch junge Leute ein Kultobjekt aus DDR-Zeiten wiederentdecken lässt: Faltboote aus Pouch. Seit bald sieben Jahrzehnten prangt der Name auf den legendären Kajaks aus Holz bespannt mit azurblauem Segeltuch, heute aber auch in Moosgrün oder Anthrazit zu haben. Und wer sein Faltboot selber abholen kommt, kann unweit der alten Produktionsstätte nun in die "Goitzsche-Wildnis" eintauchen.
- Schon zu DDR-Zeiten Kult: Junge Leute entdecken das Faltboot "RZ 85" aus Pouch für sich.
- Der letzte Faltboot-Boom fiel in die 50er und 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts –jetzt liegt Urlaub im Freien wieder voll im Trend.
- Produziert werden die Faltboote heute in Bitterfeld.
Einfach aufbauen, dann Zelt, Ausrüstung, Proviant im Boot verstauen und die Reise kann losgehen: an der Müritz oder im Spreewald, in den Masuren oder im Donaudelta. Scheinbar grenzenloses Abenteuer in der Natur – dafür steht zu DDR-Zeiten der Name Pouch. Die Welt vom Faltboot aus gesehen, ist eine andere, weit weg vom Alltag und man selber mittendrin in der Wildnis. Für Generationen sind die Ferien im azurblauen "RZ 85" unvergesslich.
Revival für den "RZ85": Der "Reisezweier" als Kultobjekt aus Holz und Stoff
Heute entdecken junge Leute den "Reisezweier" wieder: 85 Zentimeter breit, um die fünf Meter lang, geeignet für zwei bis drei Personen, handlich zu verpacken und mit etwas Übung schnell aufgebaut – ein nachhaltiges Kultobjekt aus Holz und Stoff: "Ich denke, das fühlt sich einfach besser an, als in so einem Plastikboot zu sitzen", sagt David Dang. Über Monate hat der junge Leipziger mit seiner Freundin Michelle einen Van für die erste große Fahrt nach Schweden ausgebaut.
Bei einer Outdoor-Messe haben beide nun das Do-it-Yourself-Boot entdeckt, das noch gut in den Van passen würde: "Super, das wir das ausprobieren können", sagt Michelle Wehnert und meint den Aufbau, der wie das Paddeln im Reisezweier Teamarbeit erfordert – und beim ersten Mal leichter fällt, wenn man professionelle Hilfe vom Faltboot-Chef Helmar Becker persönlich bekommt. Der sagt, Frauen könnten besser damit umgehen, weil sie vorher anders als viele Männer die Anleitung lesen oder eins der Youtube-Tutorials nutzen.
Naherholung und Faltboot im Trend
Ferien in der Natur – das ist der große Urlaubstrend. Davon profitiert auch Helmar Becker, der seit 2018 Eigentümer der Traditionsfirma ist: "Man kann das schon so beschreiben, dass jetzt eine neue Generation von Faltbootfahrern, Interessenten und Käufern, da ist. Da gab es ja mal diese Zeit des Booms in den 1950er- und 1960er-Jahren, als viele Leute aufs Wasser wollten, um Urlaub zu machen für relativ wenig Geld, da noch nicht jeder ein Auto hatte. Und jetzt gibt es den neuen Trend zurück zur Natur, zurück zum Urlaub auch in Deutschland oder irgendwo in der Nähe des Wohnorts", erklärt Becker.
Becker ist selbst passionierter Wassersportler, segeln lernte er schon mit vier, trainierte dann beim SV Pouch auf dem Muldestausee, der 1974/75 mit der Flutung des Tagebaus Muldenstein entstand. Nach der Wende gründete er eine eigene Werft für Segelboote im zehn Kilometer entfernten Bitterfeld. Dorthin verlagerte er auch die Produktion der Faltboote. Die gibt es inzwischen in sechs Modellen, sogar mit Segel und Elektromotor, nicht mehr nur Azurblau, sondern auch in Sand, Moosgrün oder Anthrazit, bespannt nicht mehr mit Baumwollstoff, sondern Acryl, das Wasser, Sonne, aber auch Schimmel besser trotzt, wie Becker erklärt: "Und um die Boote in die Zeit zu holen." Daran werde im Team fortlaufend getüftelt. Die Nachfrage sei hoch. Wer heute bestelle, bekomme sein Boot im September, Oktober. Gefertigt wird nach wie vor in Handarbeit. Und wer sein Faltboot selber abholt, kann es heute unweit der Produktionsstätte in der Goitzsche zu Wasser lassen.
Stichwort: Faltboote aus Pouch
- In Pouch, einem Ortsteil der Gemeinde Muldestausee im Landkreis Anhalt-Bitterfeld, werden seit 1953 die Faltboote in markantem Blau gebaut und weltweit verkauft.
- Zu DDR-Zeiten stellen im VEB Wassersport und Campingbedarf 180 Beschäftigte pro Jahr 7.000 Boote und Zelte her, nachdem private Manufakturen verstaatlicht und die Produktion von Faltbooten in Pouch zentralisiert worden war.
- Zusammengesetzt werden die Boote "RZ85" und "E65" aus mehr als 1.000 Einzelteilen in Handarbeit. Und handlich lassen sie sich auch verpacken, damals zur Mitnahme im Trabi, Anhänger oder per Bahn.
- Ein Teil der produzierten Boote geht zu DDR-Zeiten in den Westen, mit einem kleinen feinen Unterschied. Statt Massivholz muss aufgrund von Materialmangel für den Osten Presslagenholz reichen, was Feuchtigkeit nicht verträgt und deswegen "gut im Lack" sein muss.
- Nach der Wende übernimmt eine Gruppe von Mitarbeitern den Traditionsbetrieb.
- Bis zum Insolvenzantrag im November 2015 werden jährlich bis zu 300 Faltboote von rund 10 Beschäftigten in Pouch gefertigt.
- 2018 übernimmt Helmar Becker als Eigentümer. Er tritt damit in die Fußstapfen von Ingolf Nitschke, der das Traditionsunternehmen von 1990 bis 2016 führte. Gefertigt werden neben dem "RZ 85" und dem Einer "E65" heute noch vier weitere Modelle. Es gibt zehn Mitarbeitende. Die Nachfrage nach den Faltbooten ist hoch, wie Becker erklärt, die Materialkosten noch nicht das Problem, da mit Holz gearbeitet wird, das vor vier, fünf Jahren in Bestellung ging. Becker blickt mit etwas Sorge auf die steigenden Energiekosten im Herbst und kündigt auf der Website der Firma auch eine Preisanhebung an.
Goitzsche: In Rekordzeit vom Tagebau zu einem der größten Seen in Mitteldeutschland
Dass sich eine der dreckigsten Regionen Europas in ein Zentrum der Naherholung verwandeln würde, hätte in den 1950er und 1960er-Jahren wohl kaum einer zu hoffen gewagt. Nicht idyllisch auf einer schmalen Landzunge zwischen Muldestausee und Goitzsche, sondern "auf dem Trockenen" liegt Pouch, als die Faltboot-Produktion dort 1953 beginnt. Braunkohle- und Bernsteinabbau machen aus der Umgebung eine Mondlandschaft. Aus Bitterfeld und Wolfen ziehen giftige Wolken herüber. Wer kann, sucht am Wochenende und im Urlaub das Weite.
Mit der Wende wird zwar die Luft besser, dafür stellt sich die Existenzfrage, Tausende verlieren ihre Arbeit in Tagebau oder Chemiekombinat. Auch die Poucher Faltboot-Werft steht kurz vor dem Aus. Doch eine kleine Gruppe von Mitarbeitern um den Geschäftsführer Ingolf Nitschke kämpft um das Unternehmen – und steht vor neuen Herausforderungen: Die Menschen entdecken Fernreisen, zudem können die Boote nun nicht mehr zum subventionierten Preis angeboten werden, für rund 500 Mark.
Einen Schub für den Wandel und die Renaturierung der geschundenen Landschaft bringt die erfolgreiche Bewerbung als Expo-Referenzstandort 2000, was Kräfte und Mittel für die Region freisetzt. Schließlich passiert während des August-Hochwassers von 2002 binnen weniger Stunden das, was noch Jahre hätte dauern sollen: Bei Pouch bricht ein Damm und die Goitzsche wird in Rekordzeit von der Mulde geflutet – innerhalb von zwei Tagen steigt der Pegel um sieben Meter bis weit über das Soll, das nahe Bitterfeld wird teilweise unter Wasser setzt. Nachdem die Schäden unter großen Anstrengungen beseitigt sind, wird aus dem Tagebaurestloch einer der größten Seen in Mitteldeutschland.
Wolf und Fischadler in der "Goitzsche-Wildnis"
Die Region hat noch immer mit den Chemie-Altlasten aus mehr als 100 Jahren zu kämpfen. Dennoch ist an der Goitzsche in den letzten beiden Jahrzehnten ein Lebensraum selbst für seltene Arten wie Biber, Fischotter oder Fischadler entstanden. Der größte wilde Teil des ehemaligen Tagebaugebiets gehört heute der BUND-Stiftung. Dass sie dafür im Grundbuch steht, soll die erneute "Vernutzung" der Landschaft verhindern.
Auf einer zusammenhängenden Fläche von rund 1.300 Hektar soll die Natur sich selbst überlassen bleiben, deswegen ist die Rede von der "Goitzsche-Wildnis". Entdeckt werden kann sie zu Fuß, auf eigene Faust oder bei Führungen, die auch Carol Höger übernimmt. Ihr Berufsleben startete in der Filmfabrik Wolfen, heute arbeitet sie als Umweltpädagogin für den BUND und staunt noch immer: "Das war einst die Auenlandschaft der Mulde, durch den Tagebau wurde hier in den letzten rund 100 Jahren alles einmal umgedreht." Jetzt sei die Renaturierung "eine richtig große Chance", wenn auch für eine "Wildnis aus zweiter Hand". Aber wild genug für Wölfe. Einer ging gerade in die "Fotofalle", wie Carols Kollege Ralf Meyer auf seinem Laptop zeigt. Vor Ort in der "Goitzsche-Wildnis", aber auch per Webcam lassen sich außerdem drei Fischadler-Junge beobachten, in ihrem Horst auf einem alten Strommast:
"Der sollte eigentlich abgerissen werden im Zuge des Rückbaus aller Bergbauaktivitäten. Dann kam uns Naturschützern aber schnell der Gedanke, der sollte doch stehenbleiben, weil inzwischen bekannt war aus Mecklenburg und Brandenburg, dass der Fischadler als sehr seltene Greifvogelart heutzutage bevorzugt auf solchen Strommasten brütet."
Sich ruhig verhalten, nur gucken, das gilt in der "Goitzsche-Wildnis" ebenso auf dem Wasser. Auch einige Uferstreifen gehören zum BUND-Naturschutzgebiet. Dort, wo Vögel brüten, darf nicht gepaddelt werden. Darauf weisen Bojen hin. Doch andere Ziele gibt es an der Goitzsche inzwischen genug, gut zu erkunden mit dem Faltboot, das in Pouch vor bald sieben Jahrzehnten zunächst "auf dem Trockenen" gebaut wurde.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Der Osten - Entdecke wo du lebst | 19. Juli 2022 | 21:00 Uhr