Boltenhagen Der westlichste Strand der DDR
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19. Juli 2022, 13:40 Uhr
Boltenhagen war der westlichste Strand der DDR und deshalb von abends 20 Uhr bis morgens sechs Uhr für Besucher gesperrt und streng bewacht. Tagsüber war der Strand aber von Urlaubern besiedelt.
Vom Boltenhagener Strand aus war es möglich, gen Westen zu schwimmen oder mit Hilfsgeräten über die Ostsee zu fliehen. Die Grenzbrigade "Küste" bewachte die sogenannte "Nordgrenze". Wachtürme, Streifendienst, Scheinwerfer, das gesamte Arsenal der Grenzsicherung wurde eingesetzt. Vorsichtshalber ließ die DDR den bei Touristen so beliebten Schiffsverkehr zwischen den Inseln an der Küste einstellen.
Wassersport mit Sportgeräten wie Paddel- oder Ruderbooten oder gar Surfen waren untersagt, damit niemand unbemerkt über die See gen Westen verschwinden konnte. Die schon etwas baufällige Seebrücke von Boltenhagen wurde abgebrochen, so konnte man sich auch hier abends nicht unbemerkt ins Wasser schleichen. Dennoch zog der schöne Strand im Sommer zahlreiche Touristen an, die sich notgedrungen an die Beschränkungen gewöhnten.
Tagsüber Strand – nachts Grenze
Für die Urlauber, die Sonne und Strand genießen wollten, war es ein eigenartiges Gefühl. Der Strand war von abends 20 Uhr bis morgens 6 Uhr für Besucher gesperrt und wurde streng bewacht. Scheinwerfer tasteten Meer und Strand ab, um jeden Fluchtversuch zu entdecken und zu verhindern. Horst Günther aus Boltenhagen erinnert sich: "Das sah schon recht komisch aus, wenn Soldaten mit geschultertem Gewehr da spazieren gingen." In Doppelposten liefen Soldaten der "Grenzbrigade Küste" auf der Strandpromenade entlang, weiter über die Dünen, in der Vor- und Nachsaison dann auch direkt am Strand Patrouille. Außerdem half noch die Volkspolizei und auch örtliche Polizeihelfer waren zur Grenzüberwachung eingesetzt.
"In Boltenhagen selbst war es so, am Strand direkt spazieren gehen durfte man nicht. Da gingen ja dann die Scheinwerfer, da war ja dann die Grenze, da ging Polizei lang, da wurde man verwiesen, musste weg vom Strand", erinnert sich Marianne Rittweger, damals als FDGB-Urlauberin in Boltenhagen, an Versuche, in der Abendstimmung Strandspaziergänge zu unternehmen.
Der Leuchtturm von Dahme
Von Boltenhagen bis ins schleswig-holsteinische Dahme sind es 30 Kilometer Luftlinie. Für viele Flüchtlinge, die den Weg über die Ostsee versuchten, die kürzeste Strecke Richtung Freiheit. Bei gutem Wetter konnte man von Boltenhagen aus den Leuchtturm von Dahme sehen. Man hatte also eine Richtung, in die man schwimmen oder paddeln konnte, ohne Angst auf der Ostsee verloren zu gehen. So gelang beispielsweise am 20. September 1974 Erhard Schelter und Volker Hameister die Flucht. In der Dämmerung waren die beiden bei Boltenhagen ins Wasser gestiegen und waren immer den Leuchtturm von Dahme im Blick losgeschwommen. Allerdings wurden sie abgetrieben. Als eine Fähre sie am nächsten Morgen entdeckte und aufnahm, versuchten zwei Grenzboote der DDR dies noch zu verhindern.
Flucht übers Wasser
Wie viele Flüchtlinge genau von diesem Strand aus ihr Glück versucht haben, ist bis heute unbekannt. Schätzungen, wie sie etwa in einer in Schwerin und Lübeck 2001 präsentierten Ausstellung zugrunde gelegt wurden, gingen von 5.336 Fluchtversuchen zwischen 1961 und 1989 aus, nur 913 Bürgern gelang schließlich die Flucht über die im Spätsommer und Herbst hinreichend warme Ostsee. Doch viele haben ihr Leben verloren oder wurden von den Grenztruppen gestellt. Nach Unterlagen der "Erfassungsstelle Salzgitter" kamen bei der Flucht über die Ostsee wohl mindestens 189 Menschen ums Leben.