"Schwalben" mit E-Motoren Wie die Kult-Vögel von Simson überlebten
Hauptinhalt
In Polen werden seit 2016 die legendären "Schwalben" von Simson Suhl mit E-Motoren ausgestattet. Die Zweiräder der inzwischen legendären "Vogelserie", u.a. bestehend aus Spatz, Schwalbe, Star und später aus S50 und S51, erfreuten nicht nur Teenager-Herzen, die darauf ein Gefühl von Freiheit genießen konnten. In den 1950er- und 1960er-Jahren war ein anderes Fahrzeug für die meisten Familien schlichtweg unerschwinglich.

Robust und langlebig war die Devise
Ein Kraftrad aus dem Hause Simson in Suhl machte viele Familien mobil. Da die Räder entscheidend waren für die Mobilität der DDR-Bürger, galten besondere Standards für die Konstruktion und Herstellung der Maschinen. Eine Anforderung für jedes Fahrzeug war, dass man damit mit 60 Stundenkilometern über die Straße düsen konnte oder - mit natürlich weniger Tempo - Feldwege bewältigen konnte. Außerdem sollten die Krafträder 40.000 Kilometer ohne Probleme laufen und erst dann zu einer Reparatur müssen.
Ein Minusgeschäft fürs Werk
"Robust, stabil sollten die sein und bis an den Balaton sollte man damit kommen", sagt Erhard Werner, der lange Zeit der Leiter des Konstruktionsbüros bei Simson war, über die Produktionsstandards. Der wichtigste Punkt: Erschwinglich sollte die Mobilitätsgarantie für den DDR-Bürger sein. Mit einem Verbrauch von drei Litern Sprit auf 100 Kilometer war zum Beispiel die "Schwalbe" kein Schluckspecht.
Die Simson-"Vögel" gingen für rund 1.500 DDR-Mark über den Ladentisch. Doch der Verkaufspreis bereitete der obersten Riege der Simson-Werke in Suhl schlaflose Nächte. Die Herstellungskosten lagen nämlich bei 2.000 DDR-Mark. Pro Zweirad wurde also ein Verlust von 500 DDR-Mark gemacht. Der Verkaufspreis wurde allerdings weit weg in Berlin vom Staat Seite festgelegt, ohne vorher Kalkulationen anzusehen. Ein höherer Verkaufspreis galt bei den Löhnen in der DDR als nicht durchsetzbar.
Nestproduktion gegen die Eintönigkeit am Band
Um wirtschaftlicher zu produzieren, führten die Werksleiter bei Simson die sogenannte Nestproduktion ein - ein Prinzip, dass heute noch in der modernen Fahrzeugproduktion eingesetzt wird. Das Ziel war, die Langweile vom Fließband zu verbannen und die Arbeiter für mehr und abwechslungsreichere Aufgaben zu befähigen. Daher wurden für jeden Motor sogenannte Nester gebildet, in denen die Arbeiter immer unterschiedliche Arbeiten verrichteten. Das wirkte sich positiv auf die Leistung aus und die Motoren wurden schneller fertig, die Produktion stieg. Trotzdem blieben die Herstellungskosten über dem Verkaufspreis.
Größter Betrieb der Region
Das Simson-Werk in Suhl war der größte Arbeitgeber der Region. 3.500 Arbeitnehmer standen hier in Lohn und Brot. Bis zur Übernahme des Werks durch Teile der Belegschaft 1991/92 wurden in Suhl mehr als sechs Millionen Schwalben und Co. produziert. Ein Viertel der Krafträder wurde exportiert, etwa 20.000 Stück pro Jahr gingen in sozialistische Brüderländer und etwa 30.000 Stück in den Westen. Dabei wurde hier und da eine Schiffsladung Simson genutzt, um beispielsweise zur Weihnachtszeit die Versorgung mit Orangen zu sichern.
Alleinstellungsmerkmal 60 Stundenkilometer
Nach der Wende war das Simson-Werk der erste Großbetrieb, der von der Treuhand abgewickelt wurde. Der Versuch, als GmbH zu überleben, scheiterte an der Konkurrenz aus dem Westen und aus Asien. Außerdem stiegen viele Ostdeutsche nun aufs Auto um. Diese gab es nun im Überfluss in allen Preisklassen, ob gebraucht oder neu.
Doch bald zeigte sich, dass sich die robuste Qualität der "Simson"-Vögel bewährt. Ein weiterer Grund für deren große Beliebtheit auch nach der Wende ist die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 60 Stundenkilometern in der 50ccm-Klasse. Nach den heutigen Vorschriften dürfen zweirädrige Kleinkrafträder nur noch eine zulässige Höchstgeschwindigkeit von 45 Stundenkilometern erreichen. Mit den Oldies von damals darf aber immer noch mit 60 Sachen über die Straßen gedüst werden.
Erfolgreiche Marktnische: Ersatzteile für die Kult-Räder
Ersatzteile für Schwalbe und Co. sind deshalb so gefragt, dass das Unternehmen MZA, das nach der Insolvenz des Traditionswerkes Teile von Simson übernommen hatte, unzählige Ersatzteile für die alten Kleinkrafträder produziert. Mittlerweile expandiert das Unternehmen sogar und baut rund 25 Kilometer entfernt von Suhl, in Meiningen, ein neues Logistikzentrum. Die Schwalbe und ihre Schwestern sind zum Kultobjekt avanciert und Simson hat sprichwörtlich mit der Produktion der robusten Krafträder den Vogel abgeschossen.
Die Schwalbe lebt weiter: jetzt als E-Schwalbe aus Polen
Im polnischen Breslau motzt Michał Koziołek seit 2016 Schwalben auf und stattet sie mit einem modernen Elektromotor aus. Seine Firma "RetroElectro" hat er mit Freunden gegründet. Trotz vieler Anfragen aus Polen verkauft er seine immerhin gut 4.000 Euro teuren Schwalben derzeit nur ins Ausland. Der Grund dafür: Oldtimer (als solche gelten die Schwalben aus Ostdeutschland) mit Elektromotor werden von den polnischen Behörden nicht zugelassen.
Besser hat es da die Münchner Firma "Govecs". Sie hat die Markenrechte für die E-Schwalbe und fertigt sie seit 2017 in Breslau in großem Stil. Allerdings verwendet das mittelständische Unternehmen keine Originalbauteile - und umgeht so den Behördenärger. Bei "Govecs" kostet eine E-Schwalbe "Made in Poland" rund 5.500 Euro.
(bb)
Über dieses Thema berichtet der MDR auch im TV: "Höhenflug eines Kultrollers" 29.09.2018 | 18:00 Uhr