Passierscheinabkommen 1963 – Das erste Loch in der Mauer

20. Dezember 2018, 11:12 Uhr

Der Bau der Mauer am 13. August 1961 und die damit verbundene Abriegelung der Grenze hatte ganz Berlin in eine tiefe Depression gestürzt. Familien, Freunde und Kollegen waren auseinandergerissen worden. Nach zähen Verhandlungen zwischen Ost- und West-Berlin gab es für die Bewohner Berlins einen ersten Hoffungsschimmer - ein Passierscheinabkommen ermöglichte es den West-Berlinern, am 20. Dezember 1963 wieder Ost-Berlin zu betreten.

Alle Briefe zwischen Ost- und West-Berliner Amtsinhabern wurden nach dem Mauerbau 1961 in der Regel ungeöffnet zurückgeschickt. Bis zum 5. Dezember 1963. An diesem Tag erhielt Willy Brandt, damals Regierender Bürgermeister von Berlin, ein Schreiben des stellvertretenden DDR-Ministerpräsidenten Alexander Abusch. Der bot Verhandlungen über eine Passierscheinregelung für einen begrenzten Zeitraum bis zum Januar 1964 an. Brandt und seine Berater, allen voran Egon Bahr, waren entschlossen, diese Chance zu nutzen, um den West-Berlinern den Besuch ihrer Familienangehörigen im Ostteil der Stadt zu ermöglichen. Der damalige Bundeskanzler Ludwig Erhardt hingegen warnte vor einem "Ausverkauf Deutschlands".

Zähe Verhandlungen

Willy Brandt bestimmte Senatsrat Horst Korber, einen gebürtigen Thüringer als Verhandlungsführer. Die DDR schickte Erich Wendt, einen eher als liberal geltenden Kulturpolitiker. Doch die unterschiedlichen Positionen beider Seiten schienen zunächst unüberbrückbar. Der Osten strebte eine Vereinbarung nach internationalem Standard an, der West-Berliner Senat wollte die Regelung nur auf der Verwaltungsebene ansiedeln, am liebsten nur in mündlicher Form. Die Lösung: die unterschiedlichen Auffassungen wurden in einem Protokoll festgehalten. Am 17. Dezember 1963 unterzeichneten die Unterhändler Wendt und Korber nach einer dramatischen Nacht um 11.45 Uhr schließlich das entsprechende Papier, in dem es hieß, dass "eine Einigung über gemeinsame Orts-, Behörden- und Amtsbezeichnungen nicht erzielt werden konnte." Das Abkommen trat am 18. Dezember in Kraft. Willy Brandt sprach vom "schönsten Tag meines Lebens".

Das lange Warten auf den Passierschein

Am 18. Dezember rückten Postangestellte der DDR in zwölf West-Berliner Schulen ein. Sie nahmen die Passierscheinanträge entgegen und bearbeiteten sie. Dass es sich dabei um verkleidete Stasi-Mitarbeiter handelte, wurde erst nach der Wende bekannt. Allerdings waren es deutlich zu wenig für den riesigen Andrang. Ursula Reinicke und ihre Tochter Regina Pritsche aus dem Berliner Stadtteil Neukölln standen zwei Tage lang Schlange, um das begehrte Papier zu ergattern. Im Schichtbetrieb, erinnern sie sich später. Anders war es in der eisigen Kälte bei Minusgraden nicht auszuhalten. Das Personal musste aufgestockt werden. 16 Stunden Anstehen war normal. Einmal für den Passierschein, einmal an einem der fünf Grenzübergänge und dann auf dem Rückweg. "Immer steckte man in Gedränge und Geschubse – die Menschenmassen waren beängstigend", so Regina Pritsche. Einige Wartende brachen vor Kälte und Erschöpfung zusammen, andere wurden bei Rempeleien verletzt.

Herzzerreissende Szenen

"Meine Lieblingstante Ursula, die Schwester meines Vater, lebte an der Chausseestraße", so erinnert sich die damals 13-jährige Regina Pritsche Jahre später. "Seit dem Mauerbau hatten wir uns nicht mehr gesehen und niemand wusste, ob das nun die einzige Chance war." Ähnlich empfanden es die meisten Berliner. In dem Menschengewühl spielten sich unglaubliche Szenen ab, Tränen des Wiedersehens und Tränen des Abschieds und Hoffnungen auf eine neue Gelegenheit.

Wie die Mauer die Menschen schon auseinander gerissen hatte, das zeigte sich auch an den Mitbringseln. So bekam eine verblüffte Ost-Berlinerin von ihrer Tante Koteletts mitgebracht, weil man im Westen glaubte, im Osten gäbe es nichts zu essen. Der RIAS gab seinen Hörern Tipps, was man in den Ostteil der Stadt mitnehmen könne.

Auch Egon Bahr, der entscheidend am Zustandekommen des Abkommens mitgewirkt hatte, erinnert sich später an das erste gemeinsame Berliner Weihnachten nach dem Mauerbau. Er besuchte eine Tante in Köpenick, die ihm eine mächtige Gans vorsetzte, an der er sich satt aß. Wie das denn möglich sei? "Na", so antwortete die Tante, "du glaubst wohl auch, dass wir hier alle am Hungern sind?"

Begrenzte Freudenzeit

Vom 20. Dezember 1963 bis zum 5. Januar 1964 dauerte die Zeit der Freude. 15.000 West-Berliner feierten Heiligabend bei den Angehörigen im Osten. An den Weihnachtsfeiertagen waren es 52.000 Besucher, Silvester und Neujahr 170.000 Menschen, die aus dem Westen in den Osten kamen, am letzten Tag noch einmal 280.000. Insgesamt machten an den 17 Tagen 700.000 West-Berliner 1,24 Millionen Besuche in Ost-Berlin. Für die restliche DDR galt das Abkommen nicht. Unerbittlich senkten sich in der Nacht zum 6. Januar die Schlagbäume, der letzte um 4.05 Uhr am Übergang Sonnenallee.

Dem ersten Passierscheinabkommen folgten drei weitere, bis Ostern/Pfingsten 1966. Dann war Schluss, weil sich die DDR nicht mehr mit Formelkompromissen zufrieden geben wollte. Erst das Viermächteabkommen 1971 brachte neue Regelungen über den Reise- und Besucherverkehr. Heute gilt das Passierscheinabkommen von 1963 als der Beginn einer neuen Ostpolitik die vor allem von Willy Brandt und Egon Bahr vorangetrieben wurde.

Über dieses Thema berichtet der MDR auch im Fernsehen: MDR aktuell | 18.12.2013 | 19:30 Uhr