Eine Figur einer Gemeindeschwester in der Historischen Ausstellung Heile, heile, Gänschen in Erbstetten.
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Thüringer Gesundheitsmodell Das Revival der Gemeindeschwester: Kehrt Schwester Agnes zurück?

06. Dezember 2021, 11:17 Uhr

Sie halten die medizinische Versorgung in den Dörfern aufrecht: Fast 40 Jahre lang sind die Gemeindeschwestern unermüdlich in der DDR im Einsatz. Nach der Wende hinterlassen sie vielerorts eine Lücke im Gesundheitssystem. In Zeiten des akuten Ärztemangels gibt es immer wieder Bemühungen, diese zu schließen.

Sie wechselt Verbände, impft Kinder, misst den Blutdruck und leistet einsamen Dorfbewohnern Gesellschaft: "Schwester Agnes" fährt im gleichnamigen Defa-Film von 1971 mit ihrer Schwalbe von Dorf zu Dorf. So erreicht und versorgt sie diejenigen, die nicht selbst zu den Ärzten fahren können. In der Realität übernehmen zu DDR-Zeiten mehr als 7.000 Gemeindeschwestern diese Aufgaben und werden damit für Patient und Arzt unverzichtbar. Auch heute weist die medizinische Versorgung auf dem Land Defizite auf. Im Zuge des demografischen Wandels steigt der Anteil pflegebedürftiger Menschen vor allem in Ostdeutschland. Gleichzeitig sinkt die Zahl der Hausarztpraxen.

Corona-Pandemie offenbart Lücken im Gesundheitssystem

Bodo Ramelow
Bodo Ramelow, MP von Thüringen. Bildrechte: dpa

Durch die Corona-Pandemie stellte der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow im Oktober 2020 klar: "Corona zeigt nur auf, was vor der Krise schon falsch gelaufen ist". Er forderte in diesem Zug eine gesamtdeutsche Diskussion über die Rückkehr der Gemeindeschwester. Die thüringische Landesregierung könne sich durchaus die flächendeckende Einführung von Gemeindeschwestern vorstellen, um die Versorgung im ländlichen Raum zu stabilisieren, so Ramelow.

Im ländlichen Raum neue Wege gehen, die manchem DDR sozialisierten Bürger irgendwie bekannt vorkommen, das wäre auch hilfreich für ländliche Räume in Westdeutschland. Gemeindeschwester Agnes und Landambulatorien heißen jetzt halt "Vehra" und "MVZ", aber wie es letztlich heißt ist mir egal. Hauptsache wir können eine gute medizinische Versorgung im ganzen ländlichen Raum anbieten. Immerhin machen bei unserem Modellprojekt 26 solcher Praxen schon mit.

Bodo Ramelow Facebook-Post des MP vom 3. März 2019

Gemeindeschwester: Aus der Not zur Tugend gemacht

Die Gemeindeschwester wurde in der DDR aus der Not heraus etabliert. Bis 1961 wandern ungefähr 4.000 Ärzte in die Bundesrepublik aus. Um dem akuten Ärztemangel zu begegnen, werden Gemeindeschwestern etabliert. Sie führen in Absprache mit den Ärzten Untersuchungen durch, übernehmen zeitintensive Hausbesuche und haben ihre eigenen Sprechzeiten. Denn die Landambulatorien, in denen die Ärzte die medizinische Versorgung sichern sollen, sind chronisch unterbesetzt. Nach der Wiedervereinigung wird die medizinische Versorgung Aufgabe der Kommunen und privater Arztpraxen. Der Beruf der Gemeindeschwester wird abgeschafft.

Mehr als dreißig Jahre später hat sich die medizinische Versorgung auf dem Land nicht gebessert. Von den derzeit ungefähr 55.000 Hausärzten in Deutschland gehen vielerorts immer mehr ohne Nachfolger in Rente. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung schätzt, dass es bis 2030 bis zu 10.000 weniger Hausärzte geben wird. Um diesem Mangel vorzubeugen, gibt es seit 2006 Initiativen in den ostdeutschen Bundesländern, um an die Erfolgsgeschichte der Gemeindeschwestern anzuknüpfen.

Früher Agnes, heute Verah oder Agathe

"Es gibt auch heute wieder Gemeindeschwestern, sie heißen nur anders", erklärt Veit Malolepsy von der Kassenärztlichen Vereinigung Thüringen. Er meint damit die Versorgungsassistentinnen in der Hausarztpraxis, die in Anlehnung an Schwester Agnes den Namen "Verah" erhalten haben. Außerdem gibt es die nichtärztliche Praxisassistenz, die für die Arztpraxen in Thüringen im Einsatz sind. Dabei handelt es sich um Arzthelferinnen, die eine Zusatzausbildung absolviert haben. Diese qualifiziert sie, auf Anweisungen des Arztes Hausbesuche durchzuführen. Derzeit gebe es 462 nichtärztliche Praxisassistenzen in Thüringen, so die KVT.

Veit Malolepsy hofft, dass sich die Zahl weiter steigern wird, sieht jedoch noch Handlungsbedarf im fachärztlichen Bereich. "Die Gemeindeschwestern in der DDR hatten keine fachärztlichen Kompetenzen. Mittlerweile gibt es aber auch für Fachärzte die Möglichkeit, eine nichtärztliche Praxisassistenz auszubilden", erklärt er. Doch seien fachärztliche Hausbesuche sehr aufwendig, eine bessere Ausstattung mit Technik sei ein guter Schritt, um diese zu ermöglichen.

Hilfe zur Eigenständigkeit

Auch das Gesundheitsministerium in Thüringen begrüßt die Initiative der "Schwester Verah", merkt jedoch an, dass vor allem größere Arztpraxen diese Möglichkeit wahrnehmen. "Ein weiterer Ansatz ist es, den Kommunen direkt zu ermöglichen, Gemeindeschwestern einzustellen", heißt es weiter aus dem Ministerium. Für die Zukunft plant die Regierung in Thüringen das Projekt "AgaThe", das speziell auf alleinstehende Senioren ausgerichtet ist. In Thüringen leben laut Seniorenbericht von 2019 zufolge 287.000 Menschen, die 75 Jahre oder älter sind. Agathe soll Senioren über Möglichkeiten beraten, möglichst lange eigenständig zu bleiben und am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Dabei geht es etwa darum, Hilfe im Haushalt zu organisieren, Freizeit- und Ehrenamtsaktivitäten zu vermitteln.

Frau auf Moped 4 min
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Seelsorge, Pflege, Notfälle: Die Gemeindeschwestern in der DDR hatten alle Hände voll zu tun. Doch der Lohn für den Dorfdienst war mager. (Gesundheit DDR! | MDR FERNSEHEN 2011)

MDR FERNSEHEN Di 20.09.2011 22:05Uhr 03:44 min

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