Blick auf das Eingangstor des ehemaligen deutschen Konzentrationslagers Auschwitz mit dem Schriftzug 'Arbeit macht frei'
Bildrechte: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Robert Michael

Eduard Wirths Der oberste Lagerarzt von Auschwitz begann seine Nazi-Karriere in Jena

17. Januar 2022, 17:27 Uhr

In der Frauenklinik in Jena begann für Eduard Wirths, den späteren obersten Arzt des Vernichtungslagers Auschwitz, seine Nazi-Karriere. Erst 2020 wurde durch Unterlagen, die in den National Archives London liegen, bekannt, dass Wirths in Jena mindestens einer Zwangssterilisation beiwohnte. Außerdem fand sich ein 21-seitiger Brief des Nazi-Verbrechers, in dem sich Wirths von der Verantwortung reinwäscht und für sich reklamiert, das Schicksal der Häftlinge verbessert und viele Menschenleben gerettet zu haben. Er versteigt sich sogar zu der Bemerkung, dass es einzig und allein ihm zu verdanken sei, "wenn in Europa heute Juden überhaupt noch am Leben sind".

Es bedurfte Ende letzten Jahres einer langwierigen Suche in den Beständen des Jenaer Universitätsarchives, bis schließlich in einer von der Frauenklinik angelegten Akte eine eher unscheinbare Eintragung entdeckt wurde: "St". Das Kürzel bedeutet Sterilisation. Unter den Namen von Ärzten, die solche Operationen ausführten, ist dort auch "Wirths" lesbar. Es gab nur einen Arzt dieses Namens in Jena der 1930er-Jahre.

Dr. Eduard Wirths war der spätere Standortarzt des Vernichtungslagers Auschwitz. Die Operation, an der er teilnahm, war nur eine der vielen Zwangssterilisationen von Frauen, die an der Klinik zwischen 1934 bis 1945 ausgeführt wurden - den Akten zufolge rund 1.200 in Jena. Doch das war nur eine Etappe auf dem Weg Wirths, der zu einem beispiellosen Täter im Holocaust werden sollte.

Jena: Die "braune Universität"

"Kämpferische Wissenschaft". So lautet der Titel eines 2003 erschienenen, voluminösen Werkes von fast 1.200 Seiten, in dem Wissenschaftler der Friedrich-Schiller-Universität Jena die Ergebnisse ihrer breit angelegten Untersuchungen zur Geschichte der Hochschule in der Zeit des Nationalsozialismus darlegten.

Die These von der "braunen Universität" wird unter anderem durch ein frühzeitig auf "Rassekunde" angelegten Forschungslehrstuhl gestützt. Die reichsweit erste Professur, besetzt von dem Schriftsteller Hans F. K. Günther, wurde bereits 1930 mit Unterstützung des ersten NS-Innenministers in Thüringen, Wilhelm Frick, etabliert. Hitler und Göring wohnten im November jenes Jahres persönlich seiner Antrittsvorlesung bei. Drei Jahre später konnte der Sportmediziner Karl Astel in Weimar ein "Thüringisches Landesamt für Rassewesen" einrichten. Längst konnte er sich auf NS-Netzwerke aus Politik und Wissenschaft stützen, mit deren Hilfe er 1939 als Rektor, Jena zu einer "SS-Universität" umzustrukturieren begann.

Einer dieser Netzwerkstränge Astels geht auf Würzburg zurück - und damit auch zu Eduard Wirths. Astel hatte hier in den 1920er-Jahren Medizin studiert, promoviert und in dieser Zeit die Studentenverbindung Deutsche Hochschulgilde "Bergfried" mitgegründet. Astel war zudem bereits 1919 dem im thüringischen Ohrdruf gegründeten, rechtsnationalen Freikorps des Ritters von Epp beigetreten, das unter anderem am Kapp-Putsch 1920 beteiligt war. Nur wenige Jahre später schloss sich Wirths während seines 1930 begonnenen Medizinstudiums in Würzburg Astels nationalsozialistisch geprägter Gilde an.

Zwangssterilisation für Rassenreinheit

Am 1. Mai 1933 trat Wirths in die NSDAP und die SS ein. Unmittelbar nach seiner Promotion 1936 bewarb er sich bei Astels Rasseamt für ein dreimonatiges Praktikum. In seiner Bewerbung betonte er sein "stärkstes Interesse" für Erbgesundheit und Rassehygiene. Astel war durch Kontakte zu einem Gauleiter ohne Vorliegen der üblichen Voraussetzungen zum Professor der Medizin und zum Leiter des neugegründeten - und mit dem Rasseamt gekoppelten - Instituts für menschliche Züchtungslehre und Erbforschung an der Medizinischen Fakultät der Jenaer Universität ernannt worden. Wirths erhielt nun nach Zwischenstationen in Greiz und Sonneberg ab März 1937 eine Stelle als Assistenzarzt an der Jenaer Frauenklinik.

Hier engagierte er sich nicht nur auf seinem Fachgebiet, sondern auch in der im gleichen Jahr an der Universität unter Dr. Heiner Jörg aufgebauten Thüringer Gauführung des Nationalsozialistischen Deutschen Dozentenbundes. Jörg, Oberarzt in der Frauenklinik, besetzte die Führungsstelle "Verwaltung/Kasse" mit Wirths. Der Oberarzt war es auch, der gemeinsam mit Wirths eine seiner Zwangssterilisationen durchführte.

Wirths hätte indes seine Jenaer Zeit bereits frühzeitig für einen Aufstieg auf der Karriereleiter nutzen können: Am 20. Juli 1937 hatte die Reichsleitung der NSDAP Jörg in seiner Funktion als Gauführer darüber unterrichtet, dass die Reichsärztekammer "drei junge Mediziner zur Bearbeitung von Fragen der Sterilisation" benötige. Der Zusatz des Gesuchs: "Bezahlung sehr gut". Wirths erfüllte sicher alle Voraussetzungen wie Mitgliedschaft in der NSDAP und Promotion, doch er plante offenbar, mit Ende seiner Assistenzzeit im Oktober 1938 eine Landarztpraxis in der Nähe von Würzburg zu übernehmen. Der Kriegsbeginn am 1. September 1939 und sein Eintritt in die Waffen-SS lenkten seine berufliche Laufbahn in eine ganz andere Richtung.

Selektion an der Rampe in Auschwitz

Wirths sammelte in den nächsten zweieinhalb Jahren "Erfahrungen" an mehreren Fronten, darunter mit einem SS-Totenkopf-Regiment, ehe er wegen eines Herzleidens ab Frühjahr 1942 zunächst in die KZ Dachau und Neuengamme versetzt wurde. Im Anschluss wurde er als SS-Obersturmführer der Reserve zum 1. September 1942 in der Funktion des Standortarztes in das KZ Auschwitz kommandiert. Wirths schilderte nach dem Krieg, was ihn dort erwartete:

Vor Antritt meines Dienstes wurde mir vom Leiter der KZ-Lager, Gruppenführer Glücks, und dem leitenden Arzt der KZ-Lager, Lolling, erklärt, dass meine ausschließliche Aufgabe in Auschwitz die Bekämpfung einer schweren Fleckfieber- und Typhusepidemie bei der Truppe sei, um andere Dinge hätte ich mich nicht zu kümmern. Dies tat ich doch, fand unvorstellbare Verhältnisse für die Gefangenen vor und hatte schon nach 14 Tagen die Überzeugung gewonnen, mit meinen schwachen Kräften hier nichts ausrichten zu können, da es an jeglichen hygienischen und sanitären Einrichtungen fehlte. Es gab kein fließendes Wasser, keine ordentlichen Aborte, keine Bademöglichkeit. […] Ich war seelisch derart belastet, dass ich bald den einzigen Ausweg aus diesen schweren Gewissenskonflikten, den des Selbstmordes sah.

Eduard Wirths

Als oberstem Arzt des Konzentrationslagers Auschwitz unterstanden ihm neben den SS-Ärzten auch Häftlingsärzte und Sanitätspersonal im gesamten Lager-System, inklusive aller Außenlager. Der berüchtigte Lagerarzt Dr. Josef Mengele war sein Untergebener. In Wirths Zuständigkeit fielen auch die Selektionen. Wirths reklamierte kurz nach dem Krieg für sich, die Beteiligung von Ärzten an den Selektionen neuangekommener Häftlinge auf der Rampe eingeführt zu haben. Dadurch habe er, so schrieb er später, ungezählte Leben vor dem Tod in den Gaskammern retten können. Zugleich überwachte er jedoch auch den "korrekten" Mordablauf in den Gaskammern mittels Zyklon B. Tatsächlich ging die Forderung nach ärztlicher Anwesenheit auf der Rampe nicht auf Wirths, sondern Heinrich Himmler zurück, der angesichts der sich stetig verschlechternden Kriegslage eine effektivere Nutzung des Häftlings-Arbeitskräftepotentials forderte.

Bau des SS-Lazaretts im KZ Auschwitz

Während sich die Verhältnisse für die Häftlinge kaum änderten, rechnete sich Wirths ebenso als sein großes Verdienst an, den Bau eines modernen SS-Lazarettes durchgesetzt zu haben. Zu dessen Einweihung am 1. September 1944 reisten neben Offizieren aus dem SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt (WVHA) auch SS-Ärzte aus anderen KZ an. Tatsächlich aber ging das einjährige, mittels Häftlings-Kommandos realisierte Bauvorhaben, für das zuvor das alte Dorf Birkenau weichen musste, auf einen Befehl des SS-Gruppenführers und Generals der Waffen-SS Hans Kammler vom Juli 1943 zurück. Kammler, der von Himmler mit einer großen Machtfülle ausgestattet war und u.a. seit 1941 für den Ausbau von Auschwitz verantwortlich zeichnete, musste sich bei den Baustoffzuteilungen für die KZ jedoch Rüstungsminister Albert Speer beugen. Das hatte eine unverhältnismäßig lange Bauzeit des Lazarettes von einem Jahr zur Folge, ungeachtet der Tatsache, dass beim Bau in großer Zahl Häftlinge eingesetzt wurden.

Wirths letzte Wirkungsstätte: KZ-Arzt in Mittelbau-Dora

Im Januar 1945 musste Auschwitz mit Herannahen der Roten Armee von der SS aufgegeben werden. Wirths fand bald darauf, vom 1. Februar bis 23. März 1945, noch einmal in Thüringen ein Wirkungsfeld - jedoch nicht wieder in Jena, sondern als Standortarzt im KZ Mittelbau-Dora, wohin auch Auschwitzkommandant Richard Baer und sein Stab beordert wurden. Tausende Häftlinge produzierten dort im Frühjahr 1945 die "Wunderwaffe" V2 unter unmenschlichen Bedingungen.

Wirths sah sich aber auch hier als Retter in der Not: Er habe gegen die furchtbaren Zustände in Dora angehen wollen, so mit Höhensonne für alle unter Tage arbeitenden Gefangenen. Doch zu dieser geradezu absurden "Rettungsaktion" kam es nicht mehr. Als der Krieg sein Ende genommen hatte, stellte sich Wirths in Hamburg im Juli 1945 der Kriminalpolizei, die ihn an die britischen Militärbehörden übergab. Im 5. Civil Internment Camp, einem britischen Internierungslager in Paderborn, beging er am 17. September 1945 einen Suizid-Versuch. An dessen Folgen verstarb er drei Tage später.

Die London-Akte von Eduard Wirths

Über die anschließenden Untersuchungen der britischen Behörden existiert eine Akte in den National Archives London, die der Autor einsehen konnte. Demnach glaubte man, Wirths sei in Wirklichkeit der wegen Kriegsverbrechen gesuchte Auschwitz-Arzt Josef Mengele, von dem die Briten seinerzeit nicht mal den korrekten Namen kannten. Die Akte enthält unter anderem eine von Wirths selbst verfasste 21-seitige Rechtfertigungsschrift in deutscher und englischer Sprache, mit eigenhändigen handschriftlichen Ergänzungen, datiert auf den 20. Juli 1945. Die Schrift enthält die oben genannten Behauptungen über Wirths' angeblich segensreiches Wirken im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz sowie Aussagen seines vertrauten Häftlingsschreibers Hermann Langbein, die Wirths' Aussagen im Grundsatz stützen. Dieser trug nach dem Krieg wesentlich dazu bei, den SS-Arzt und Kriegsverbrecher Wirts nachhaltig zu entlasten und ihn als Menschen zu stilisieren, der dem Widerstand im Lager nahe gestanden habe und selbst vom Tode durch die Gestapo bedroht gewesen sei.

Jena indes taucht in dem Rechtfertigungsschreiben erst auf der letzten Seite in der letzten Zeile auf. "Dr. med. Mestwerdt, Univ. Frauenklinik Jena" könne für seine Haltung und Gesinnung bürgen, versicherte Wirths. Dass sein Denken und Handeln ihn mitverantwortlich machten für millionenfachen Tod, kam ihm wohl erst in der Haft zu Bewusstsein. Bis dahin wähnte er sich immer noch als der "gute Mensch" von Auschwitz, wie aus seinem Schreiben hervorgeht: "Es ist sicher nicht überheblich, wenn ich heute ausspreche, dass es wohl mein Verdienst ist, wenn in Europa heute Juden überhaupt noch am Leben sind."

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Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR ZEITREISE | 29. Januar 2023 | 22:20 Uhr