Interview mit Barbara Böttger Eine Familientragödie in Großenhain 1945
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05. Januar 2018, 09:22 Uhr
Kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges wird die Villa Römer in Großenhain zum Schauplatz einer Familientragödie. Der Tuchfabrikant tötet in der Nacht zum 22. April 1945 - kurz vor dem Einmarsch der Roten Armee - seine Frau Herta und seine fünf Kinder. Hergang und Hintergründe der scheinbaren Wahnsinnstat recherchierte die Autorin Barbara Böttger und ging damit auf die Spur ihrer eigenen Ahnen.
Sie rollen den Fall Römer auf - 70 Jahre nach dem Ereignis: Wie sind Sie darauf gestoßen?
Letztlich durch Briefe und Fotos aus dem Nachlass meiner Mutter Renate Böttger. Sie war die Schwester von Joachim Römer. Insofern erzähle ich auch ein Stück Familiengeschichte, wohl den dramatischsten Teil. Ich habe mich erst im reiferen Alter daran getraut - im Zusammenhang mit meinen Recherchen für ein Buch und einen längeren Dokumentarfilm über die Geschichte der Familie meines Vaters und meiner Mutter, die jeweils mehrere Textilfabriken in Sachsen und Böhmen gründeten. Sie reicht vom Beginn des 19. Jahrhunderts und über fünf Generationen, sie zeigt, wie aus einem Handwerk eine Industrie wurde, handelt von Politik, Liebe und Leichtsinn und liefert letztlich den Stoff für ein überaus facettenreiches Sittenbild einer deutschen bürgerlichen Familie.
Wie schwer war es für Sie, auf Spurensuche zu gehen, mit dem Wissen, dass es beim Fall Römer um die Vergangenheit der eigenen Familie geht? Ihr Bruder Lutz hat seinen Onkel Joachim ja noch erlebt ...
Auch wenn es weh tut, wollten wir diesen Teil der Familiengeschichte endlich rückhaltlos aufklären. Es war mir wichtig, dass auch die Enkel- und Urenkel-Generation - also Christoph und Franziska Reichl, die mit mir auf Spurensuche gehen - ein klares Bild bekommt. Als Jugendliche, in der DDR aufgewachsen, stand ich faschistischem Gedankengut einfach nur ablehnend gegenüber. Dann habe ich gesehen, ohne den Versuch, einen Menschen in all seinen Facetten zu verstehen, komme ich nicht weiter.
Das heißt nicht, dass ich nun Verständnis habe für einen Mann, der sich angemaßt hat, über das Leben anderer zu entscheiden. Und das nicht etwa aus dem Affekt heraus, sondern ganz planvoll. Es gibt Briefe von Joachim Römer, in denen er schon Wochen vor der Tat von der Selbsttötung spricht.
Es bleibt nicht beim Fall Römer, der im "Ahnen"-Film ergründet wird. Noch am 8. Mai 1945, also dem Tag des Kriegsendes, lässt sich Joachims Schwester Gerda, die im sächsischen Sachsdorf lebt, mit ihrem drei Monate alten Baby von ihrem Mann - Wissenschaftler an der TU Dresden, aber auch Mitglied der Waffen-SS - erschießen. Deren Schwester Renate, Ihre Mutter, entscheidet sich für das Leben. Was unterscheidet sie von ihren Geschwistern, dass sie so völlig anders handelt? Welche Haltung hatte sie zu der politischen Karriere ihres Bruders?
Es gibt einen Brief von ihr, darin schreibt sie, der Tod wäre die einfachere Lösung: "Wir müssen weiterleben." Obwohl sie in einer ganz ähnlichen Situation war wie Joachim. Sie lebte mit ihre Familie in Leisnig, auf dem Gelände einer Tuchfabrik, wusste nicht, was kommen würde ...
Was sie unterschied? Ihr Bruder Joachim, Jahrgang 1908, war schon mit 16 fasziniert von der Rassentheorie. Das war damals gar nicht so außergewöhnlich, dieses Interesse gab es selbst bei Intellektuellen der Weimarer Republik. Direkt nach der Machtergreifung Hitlers wurde er Mitglied der NSDAP und 1936 auch der SS. Später trat er auch aus der evangelischen Kirche aus und wurde "gottgläubig" - eine Art Ersatzreligion der Nazis. Seine Mutter Hildegard, die der Bekennenden Kirche nahestand, hatte vergeblich versucht, ihn davon abzuhalten. Seine Schwester Renate, also meine Mutter ist nicht in die NSDAP eingetreten und sie teilte auch nicht seine rassenpolitischen Überzeugungen.
Und sie hat - wie gesagt - diesen geplanten kollektiven Selbstmord bzw. Mord an den Kindern vehement abgelehnt. Sie hat versucht, ihn und seine Frau davon abzubringen, angeboten, die fünf Kinder zu den vier eigenen zu übernehmen. Es sollte nicht dazu kommen. Joachim Römer sah sich als Patriarch, der für die ganze Familie entscheidet. Er war völlig mit sich im Reinen. Die drei erwachsenen Frauen, die er erschossen hat, wollten seinem Beispiel folgen und sterben. Das ist gut dokumentiert, aber seine fünf kleinen Kinder konnten nicht selbst über ihr Schicksal entscheiden. Es ist und bleibt Mord und eine hoch zu verurteilende Tat.