Eine jüdische Familiengeschichte Vergessene Wurzeln: Das Speziallager Ketschendorf

14. September 2018, 09:26 Uhr

Ende des 19. Jahrhunderts geht Siegfried Hirschmann im wahrsten Sinne des Wortes ein Licht auf: Der Metzgersohn aus Berlin gründet eine Firma, die Kabel herstellt. Überall wird Strom gebraucht, technische Erfindungen wie Telegraphie und Telephonie schreien regelrecht nach Kabellieferanten. Hirschmanns Rechnung geht auf, die Firma floriert schon bald und zusammen mit seinem Bruder Bernhard gründet er die "Deutsche Kabelwerke AG".

Die Gebrüder Hirschmann expandieren rasant, sogar bis nach England und unweit von Berlin bei Fürstenwalde produzieren die Industriepioniere nicht mehr nur Kabel, sondern auch motorbetriebene Dreiräder und als erste weltweit Reifen aus synthetischem Kautschuk. Im Nachbarörtchen von Fürstenwalde, in Ketschendorf, bauen sie für die Mitarbeiter sogar eine Wohnsiedlung.

Der erzwungene Verkauf und wie es mit dem Werk weiterging

Unter dem Druck der Arisierungspolitik der Nazis verkaufen die Brüder ihre Firma: Die Hirschmanns sind Juden. Die Dresdner Bank übernimmt die Firma billig, verkauft die Aktienpakete für viel Geld an die (Hirschmann)-Konkurrenz, die "Rheydter Kabelwerke". Den damals alltäglichen Vorgang notiert die Berliner Börse am 17. Dezember 1935:

Bekanntermaßen hält die Dresdner Bank seit ein paar Jahren die Mehrzahl der Deutschen Kabelwerks Aktien. Ursprünglich hielt Firmenpersonal die Aktien, aber nach verschiedenen Firmen-Re-Organisationschritten gaben sie ihre Anteile an die Firma zurück.

Berliner Börsen-Notiz von 1935

Familie Hirschmann - nicht alle überleben

Firmengründer Siegfried Hirschmann und seine Frau Frieda brachten sich kurz vor Kriegsbeginn 1939 nach Guatemala in Sicherheit – dorthin hatte sich schon sein Sohn Ernst mit seiner Frau Lisa gerettet. Doch die ganze Familie Hirschmann konnte sich nicht retten - Siegfrieds Bruder Bernhard und drei weitere Schwestern wurden im KZ ermordet.

Was wird aus dem Werk und der Wohnsiedlung?

Während des 2. Weltkriegs wird das Fürstenwalder Werk zum Rüstungsbetrieb. Ab 1939 wird eine weitere Arbeitersiedlung gebaut, die nach 1945 zu einem der berüchtigten Speziallager der Sowjets umgewandelt wird, zur Entmilitarisierung der Deutschen. Um die Wohnhäuser werden Stacheldraht, Bretterwände hochgezogen, Bewachungstürme und Scheinwerfern gebaut. Eine Küchen- und eine Lazarettbaracke werden hochgezogen, ein Bunker, um die Toten zu sammeln, bevor sie außerhalb des Lagers verscharrt wurden. Etwa 10.000 Zivilisten, Männer, Frauen, Kinder und Jugendliche sind hier eingesperrt und 4620 sterben dort - an Hunger und Krankheiten. Sie werden hinter dem Lager in Massengräbern verscharrt. Erst 1952, als dort ein neues Wohngebiet erschlossen werden soll,  werden die Toten entdeckt - und klammheimlich in einen nahegelegenen Kriegstotenfriedhof umgebettet.

Das einstige Kabelwerk wird in der DDR zum "VEB Reifenwerke" und firmiert ab 1990 wieder als Pneumant GmbH. Ab 1990 wird auch über das Leid im Internierungslager gesprochen, was zu DDR-Zeiten strengstens verboten war. Überlebende des Lagers und Angehörige verschollener Insassen initiieren bis heute jedes Jahr Gedenkveranstaltungen für die Tausende, die in dem Lager starben oder litten. Die jüdischen Wurzeln der einstigen DEKA-Siedlung und des Reifenwerks, das zu DDR-Zeiten bis zu 5000 Mitarbeiter beschäftigte, sind lange vergessen.

Über dieses Thema berichtete der MDR auch im Fernsehen: Spur der Ahnen | 28.02.2018 | 21:15 Uhr

In einer früheren Version dieses Artikels wurden die von Siegfried Hirschmann errichtete Arbeitersiedlung und das Speziallager als eine Siedlung beschrieben. Dies trifft nicht zu und wurde berichtigt.