Leipziger Prozesse Nach dem Ersten Weltkrieg: Kriegsverbrecher vor Gericht in Leipzig
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10. Januar 2021, 05:00 Uhr
Bei den Nürnberger Prozessen werden nach dem Zweiten Weltkrieg erstmals Politiker und Militärs eines Staates wegen Kriegsverbrechen verurteilt. Diese Prozesse haben eine kaum bekannte Vorgeschichte: Nach dem Ersten Weltkrieg fanden auf Drängen der Alliierten ebenfalls Kriegsverbrecherprozesse statt. In Leipzig standen deutsche Armeeangehörige vor dem Reichsgericht.
Der Erste Weltkrieg ist 1918 vorbei. Wilhelm II. flieht nach Holland. Der Versailler Vertrag fordert seine Auslieferung und auch Hindenburg, Ludendorff und Tirpitz stehen auf der Liste. Sie sollen die Verantwortung für den Ausbruch des Krieges, sowie für die entstandenen Kriegsschäden übernehmen. So fertigen die Alliierten im Februar 1920 eine Auslieferungsliste mit 890 Namen an. Diese Liste löst eine Protestwelle aus. Es kommt zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen auf der Straße. Im Kaiserreich ist man sich einig: Es wird keine Auslieferung, keine Erniedrigung der Deutschen Nation geben.
Die Idee: Ein Kriegsverbrecher-Prozess
Statt dessen schlagen die Deutschen vor, die Angeklagten sollen vor das Reichsgericht in Leipzig gestellt werden. Die Alliierten willigen ein. Im Februar 1920 lässt der Oberreichsanwalt per Zeitungsanzeige verlauten:
...alle diejenigen Herren, denen bekannt ist, daß ihre Namen auf der Auslieferungsliste stehen, mir umgehend Aufenthaltsort und Wohnung anzuzeigen.
Allerdings melden sich - wie nicht anders zu erwarten - nur wenige Herren. So kommt es erst im Januar 1921 zum ersten Verfahren. Angeklagt sind drei Soldaten, die kurz vor Kriegsende einen belgischen Gastwirt beraubt haben sollen. Sie werden zu mehren Jahren Haft verurteilt, weil sie "die Soldatenehre in gröblichster Weise verletzt haben."
Demonstration deutscher Justizmacht
Die drei stehen auf keiner Auslieferungsliste der Alliierten. Gerade deswegen eignen sie sich für den Auftaktprozess. Die deutsche Justiz kann so demonstrieren, dass sie gewillt ist, auch ohne alliiertes Drängen durchzugreifen. Die ersten Militärs von der Alliiertenliste landen im Mai 1921 vor den Schranken des Reichsgerichts. Angeklagt der Misshandlung englischer Kriegsgefangener werden sie zu mehreren Monaten Gefängnis verurteilt.
Dann folgt ein Skandal dem anderen. Der Kapitänleutnant Karl Neumann wurde für den Angriff auf das das Lazarettschiff "Dover Castle" freigesprochen. Er hätte nur auf Anweisung gehandelt. Französische und italienische Beobachter und Zeugen reisen nach dem Freispruch aus Empörung aus der Messestadt ab.
Auch eine weitere Anklage entwickelt sich zum Fauxpas. Kapitänleutnant Helmut Brümmer-Patzig wird angeklagt, im Zuge des deutschen "U-Boot-Krieges" die "Llandovery Castle" - ein englisches Lazarettschiff - willentlich versenkt zu haben. Die "Llandovery Castle" liegt zum Zeitpunkt des Angriffs weit außerhalb der Sperrzone, als sie 1918 vom U-86 versenkt wird. Außerdem werden die Rettungsboote torpediert. Da Patzig nicht persönlich angeklagt werden kann, weil er sich bereits ins Ausland abgesetzt hat, stehen die Offiziere John Claus Boldt und Ludwig Dithmar vor Gericht. Sie werden zu vier Jahren Haft verurteilt, kurz darauf aber von "rechten Gesinnungsgenossen" befreit. Im Mai 1928 werden Dithmar und Boldt in einem Wiederaufnahmeverfahren vor dem Reichsgericht freigesprochen.
Milde Urteile
Von insgesamt 17 Verfahren im Rahmen der Leipziger Prozesse enden zehn mit Freisprüchen. Die Alliierten ziehen die Konsequenzen: Ab 1922 sollen die Deutschen vor einen internationalen Gerichtshof gestellt werden. Dazu kommt es nicht. Noch nicht. Denn als die Alliierten 1942 mit den Vorbereitungen für das Nürnberger Kriegsverbrechertribunal beginnen, berufen sie sich explizit auf die Leipziger Prozesse.
Die Vereinten Nationen dürfen nicht noch einmal darauf vertrauen, daß die Deutschen ihren Kriegsverbrechern gegenüber Gerechtigkeit walten lassen. In ihren Augen sind das Helden.
Leipzig bereitet somit Nürnberg vor. Nicht wegen der milden Urteile, sondern weil zum ersten Mal juristisch über die Grenzen von Befehlen und über die Verantwortung von Politikern für einen Krieg gestritten wird.