Der Stehaufmann oder die vier Leben des Marschall Schukow

29. April 2021, 09:30 Uhr

Als "Marschall des Sieges" und "Held der Sowjetunion" lebt Georgi Schukow bis heute im offiziellen russischen Gedenken und in der Erinnerung der letzten noch lebenden Kriegsveteranen, die Jahr für Jahr Kränze niederlegen an seinem Denkmal auf dem Roten Platz.

Es soll sein großer Triumph werden, als er Oktober 1957 den Zerstörer "Kuibyschew" besteigt und zum Staatsbesuch in Jugoslawien und Albanien aufbricht. Er will die beiden abtrünnigen Länder wieder enger ans Sowjetreich zu binden. Er, Georgi Konstantinowitsch Schukow, Verteidigungsminister der zweitgrößten Militärmacht der Welt. Was er nicht weiß, während er mit Tito jagt und mit Enver Hodscha speist, wird im fernen Moskau an seinem Stuhl gesägt. Er wolle Partei und Armee entzweien und betreibe einen Personenkult, der an den von Stalin grenze. Er beanspruche den Mammutanteil am Siegesruhm im Großen Vaterländischen Krieg für sich. Sogar auf die Herstellung eines Dokumentarfilms nehme er Einfluss, um sich als Architekt des Sieges von Stalingrad herauszustellen. Drei Tage nach seiner Rückkehr sieht sich Schukow all seiner Ämter enthoben.

"Marschall des Sieges"

Georgi Schukow ist mit Abstand der bekannteste sowjetische General des Zweiten Weltkriegs. Gerade bei uns Deutschen. Seine Truppen schlugen die Schlacht um Berlin. Er ließ die Sowjetfahne auf dem Reichstag hissen. In seiner Anwesenheit wurde die Urkunde der bedingslosen deutschen Kapitulation unterzeichnet. Er organsierte das letzte Treffen der Alliierten in Potsdam. Er stand als erster an der Spitze des sowjetisch besetzten Teils Deutschlands. Auf dem Rücken eines weißen Araberhengstes nahm er im Juni 1945 die Siegesparade in Moskau ab.

Dabei ist der "Marschall des Sieges" ein Mann, an dem sich die Geister scheiden. Feiern ihn die einen als den größten Feldherrn aller Zeiten, verdammen ihn andere als brutalen Menschenschlächter und düsteren Büttel Stalins. Nur in einem sind sich fast alle einig. Wie kaum ein anderer verfügte Schukow über Stehaufqualitäten. Sei es seine robuste körperliche Verfassung, die ihn schwere Verletzungen und tödliche Krankheiten überstehen ließ. Sei es seine schier unermüdliche Energie, die ihn auch nach schweren Niederlagen auf dem Schlachtfeld nie verzweifeln ließ oder seine psychische Härte, die ihm nach tiefem Fall immer wieder zum Comeback verhalf.

Vom Kürschnergesellen zum Soldaten

Sein erstes Leben beginnt der 1896 im zentralrussischen Dörfchen Strelkowka geborene Georgi Konstantinowitsch Schukow als Zivilist. Es ist die Welt der Pelze, die den jungen Kürschnergesellen begeistert. Doch dann bricht der Erste Weltkrieg aus und ändert alles. Schukow wird Soldat und bleibt es letztendlich bis zu seinem Tod. Bald ist er Unteroffizier, glänzt mit der Gefangennahme eines deutschen Offiziers und erhält das Georgskreuz. Wenige Wochen später gerät er mit seinem Pferd in ein Minenfeld und landet schwer verletzt im Lazarett.

Bevor er wieder Attacken reiten kann, übernehmen die Bolschewiki die Macht im Land. Der bis dahin völlig unpolitische Sohn vom Lande schließt sich nicht der neu gegründeten Roten Armee an, sondern fährt nach Hause zu seinen Eltern. Erst nach überstandener Typhuskrankheit entscheidet er sich für die Streitkräfte der Kommunisten, wie viele Unteroffiziere der Zarenarmee. So sichert sich Schukow ein gutes Einkommen und Chancen auf Karriere. Im März 1919 stellt er den Antrag auf Parteimitgliedschaft und erhält den Kandidatenstatus. Dann geht es schnell. Schukow kämpft gegen Weißgardisten und aufständische Bauern, überlebt eine zweite schwere Verletzung und erhält seine erste Sowjetauszeichnung – den Rotbannerorden. Er ist tapfer vor dem Feind, lernwillig und vor allem bereit, Verantwortung und Führung zu übernehmen. Außerdem profitiert er von der Bevorzugung von "Proletariern" in der Roten Armee und der Entlassung tausender ehemals zaristischer Offiziere.

Zügige Karriere

Inzwischen vollwertiges KP-Mitglied, besucht Schukow die höhere Kavallerieschule, wird Regimentskommandeur und bewährt sich als Politkommissar. Ende 1930 ist er stellvertretender Inspekteur der Kavallerie. In seiner Beurteilung heißt es: "Willensstark. Entscheidungsfreudig. Beweist Initiative, Disziplin, verlangt ständig nach Leistung von seinen Leuten. Im persönlichen Umgang kalt und wenig rücksichtsvoll. Eigensinnig. Übertrieben stolz." Getrieben vom Ehrgeiz stürzt sich auf die Arbeit, reorgansiert die Ausbildung höherer Offizierskader, lässt ein Handbuch der Kavallerie schreiben und verbessert das Kampftraining der ihm unterstellten Einheiten. Bei Großmanövern der schnell wachsenden Roten Armee zeichnet er sich aus, erhält den Leninorden und übersteht – wieder einmal – eine lebensgefährliche Infektionskrankheit. Und noch wichtiger: Er übersteht die Stalinschen Säuberungen. Vermutlich gibt es nicht ausreichend überzeugende Denunziationen gegen ihn. Im Gegenteil, der brutale Raubbau an der militärischen Elite des Landes bringt den Unverwüstlichen auf der Karriereleiter schneller voran. So wird er 1938 Kommandeur des Weißrussischen Militärbezirks. Wie rund tausend Offiziere aus seinem Geburtsjahrzehnt, gehört er zur berühmten "Klasse von 1940", das heißt zu denjenigen, die in jenem Jahr den Generalsrang erreichen und aus deren Kreis die großen Figuren im Krieg gegen Hitler hervorgehen.

"Marschall der Sowjetunion"

Als die Wehrmacht in der Sowjetunion einrückt, ist Georgi Schukow Chef des Generalstabs und stellvertretender Verteidigungsminister – mit bestem Draht zu Stalin. Doch auch Schukows Elan kann die anfängliche, hausgemachte Schwäche der Roten Armee nicht überdecken. Er macht Fehler. Brutal verheizt er Tausende Soldaten in sinnlosen Gegenangriffen. Erst die Verteidigung Moskaus und die von ihm im Dezember 1941 erfolgreich angeführte Gegenoffensive an der Westfront begründet seinen militärischen Ruhm. Dann geht es Schlag auf Schlag. Schukow gehört zu den Planern der großen Umfassungsoperationen bei Stalingrad. Am Kursker Bogen, 1943, hat er den Oberbefehl über die größte und letztendlich für die Sowjets siegreiche Panzerschlacht der Weltgeschichte und präsentiert sich 1944 als Mastermind der Operation Bagration, in der die letzten noch intakten Heeresverbände der Deutschen vernichtet werden. Auch für diese Siege ist der Preis eine astronomisch hohe Zahl gefallener Soldaten. Da kennt Schukow keine Gnade, wie auch bei Verstößen gegen die Dienstvorschriften. Der Choleriker rastet aus, feuert Kommandeure oder steckt sie in Strafbatallione, ist beleidigend und verletzend. So verschafft er sich Respekt und macht sich viele Feinde. Klar, dass der Siegreiche, inzwischen zum Marschall Beförderte als erster die höchste sowjetische Militärauszeichnung erhält – den Siegesorden. Sein weiterer Weg führt nach Berlin und zurück zur Siegesparade in Moskau.

Degradiert und befördert

Alles bestens, könnte man denken, als der Kriegsheld im März 1946 seinen neuen Job als Oberbefehlshaber der Landstreitkräfte antritt. Weit gefehlt. Die Intrigen gegen ihn sind bereits voll im Gang. Er wolle nur seinen Ruhm mehren, spiele die Rolle anderer bei den Siegen herunter, habe sich ungesetzlich bereichert und sich respektlos gegenüber dem Generalissimus geäußert. Sein einstiger Förderer degradiert ihn erst zum Kommandeur von Odessa und zwei Jahre später zum Verwalter des unbedeutenden Militärbezirks Ural. Noch schlimmer, Stalin lässt die Geschichtsbücher umschreiben und den Anteil Schukows an den Kriegserfolgen praktisch auf Null setzen. Der Gedemütigte selbst glaubt nicht ans Comeback – bis zum 4. März 1953. Er soll schnell nach Moskau, hört er am Telefon. Stalin sei schwer krank. Als der Diktator am nächsten Tag stirbt, befördert die Parteiführung Schukow erst zum stellvertretenden und zwei Jahre später zum Verteidigungsminister. Es beginnt seine dritte, recht kurze Lebensphase als Politiker.

Endgültig in Pension

Den neuen Parteichef, Nikita Chrustschow, kennt er noch vom Kampf um Stalingrad. Der hält ihn zwar für machtbewusst, aber loyal und damit kontrollierbar. Doch unterschätzt er die Popularität des Marschalls. So stiehlt Schukow bei der Abrüstungskonferenz in Genf 1955 Chrustschow die Show, als er sich dort mit „seinem alten Kumpel“ Eisenhower trifft und sogar auf dem Titelbild des TIME-Magazine landet. Außerdem wagt er es, den Kremlchef zu kritisieren. So passiert, was passieren muss. Obwohl er Chrustschow im Juni 1957 vor einer Entmachtung bewahrt, schickt der seinen Minister noch im selben Jahr in Pension. Schukow ist wieder mal hart getroffen, fällt aber weich. Er behält seine Privilegien und schreibt seine Memoiren. Darin zementiert er seine Sicht auf den Verlauf des Großen Vaterländischen Krieges und natürlich seine Rolle als "Marschall des Sieges" – und liefert damit den Stoff für eine neue Saga, nämlich die nach seinem Tod.

Schukow-Kult

Noch in Schukows Todesjahr 1974 erhält eine Stadt nahe seinem Gebutsort seinen Namen, 1980 auch ein neu entdeckter Planetoid. Durch die Decke geht der Schukow-Kult allerdings erst nach dem Untergang der Sowjetunion. Man prägt Münzen mit seinem Konterfei, stellt ein Reiterdenkmal auf den Roten Platz und benennt eine ganze Ordensklasse nach ihm. Es erscheinen Dokumentarfilme und Kinostreifen, Lieder, Gedichte und unzählige Bücher, die dem "großen Marschall" huldigen. Anlässlich seines 100. Geburtstags eröffnet in Schukow ein Museum zu seinen Ehren und kurz darauf hebt Präsident Boris Jelzin per Dekret alle je gegen den "Helden" erhobenen Vorwürfe auf. Es ist das letzte, bis heute andauernde Leben des Georgi Konstantinowitsch Schukow.

Über dieses Thema berichtete MDR im TV auch in "Der Krieg. Sieg und Niederlage" 15.03.2010 | 21.00 Uhr