Lars Eidinger als Zar Nikolaus II. und Luise Wolfram
Szene aus dem umstrittenen Film "Mathilde" Bildrechte: Rockfilm

Russland Nach Brandanschlägen: Kinos verzichten auf umstrittenen Zarenfilm "Mathilde"

14. September 2017, 14:09 Uhr

Der Streit um den Historienfilm "Mathilde", der die voreheliche Beziehung des letzten Zaren Nikolai II. mit einer Primaballerina des Mariinski-Theaters thematisiert, eskaliert weiter. Nach einer Serie von Brandanschlägen kündigten zwei große Kinoketten an, den Film aufgrund von Sicherheitsbedenken nicht zu zeigen. Hinter den Brandanschlägen wird die ultraorthodoxe Sekte der "Zareboschniki" – auf Deutsch "Zarenverehrer" – vermutet.

Aufgrund der rechtswidrigen Übergriffe der Filmgegner, die in den letzten Tagen in verschiedenen russischen Städten stattgefunden hätten, sowie der zunehmenden Drohungen gegenüber Kinobetreibern, habe man sich entschlossen, von der Aufführung des Films "Mathilde" abstand zu nehmen, ließen die gemeinsam betriebenen Ketten "Cinema Park" und "Formel Kino" mitteilen. Wie es weiter heißt, gehe es dabei einzig und allein darum, die Sicherheit der Kinobesucher zu gewährleisten.

Mehrere Brandanschläge

Die Sorge scheint nicht unbegründet. Die Atmosphäre rund um den Film ist inzwischen so aufgeheizt, dass es zu Gewalttaten kommt. Bereits zum Geburtstag des Filmregisseurs Aleksej Utschitel am 31. August wurden Brandsätze in sein Filmstudio in Sankt Petersburg geworfen. Am 11. September brannten in Moskau vor der Kanzlei seines Anwalts Konstantin Dobrynin zwei Autos aus. Auf den Flyern, die am Ort des Geschehens verteilt wurden, stand geschrieben: "Für 'Mathilde' sollt ihr brennen".

Landesweit für Aufsehen sorgte aber vor allem ein Brandanschlag in Jekaterinburg, der Stadt, in der die Zarenfamilie ermordet wurde, Anfang September. Ein Mann steuerte dort am frühen Morgen, einen Kastenwagen voller Gasflaschen und Benzinfässer in ein örtliches Kinotheater und zündete ihn an. Da das Gebäude zum Zeitpunkt der Tat leer war, ist niemand zu Schaden gekommen. Auch der Brand konnte schnell gelöscht werden. Bei der Vernehmung soll der mutmaßliche Täter ausgesagt haben, dass er den Anschlag verübt hatte, weil das Kino plante, "Mathilde" zu zeigen.

Die Reaktion des Bürgermeisters von Jekaterinburg, Evgenij Roisman, fiel eindeutig aus. Wenige Stunden nach dem Vorfall twitterte er: "Für mich ist das ein Terroranschlag. Grüße an Poklonskaja." Die angesprochene Politikerin, Natalja Poklonskaja, ist das Sprachrohr der Filmgegner – und wird in der Zarenverehrer-Sekte "Zareboschniki" verortet.

Voreheliches Verhältnis eines Heiligen unvorstellbar

Als Poklonskaja Ende 2016 begann, gegen den Historienstreifen "Mathilde" zu protestieren, da war dieser noch nicht einmal geschnitten. Damals amüsierte sich die Internetgemeinde über die Ausfälle der frischgewählten Duma-Abgeordneten, doch mittlerweile gibt es kaum noch Zweifel, dass es Poklonskaja und ihren Anhängern bitterer Ernst ist – sie wollen die Vorführung des Films um jeden Preis verhindern.

Ihrer Ansicht nach verunglimpft der Film den heiliggesprochenen Monarchen Nikolaus II., weil er dessen voreheliche sexuelle Beziehung mit der Ballerina Mathilda Kschessinskaja thematisiert. Dies würde die "Gefühle von Hunderttausenden von Gläubigen verletzen", schrieb Poklonskaja erst jüngst wieder auf ihrer Facebook-Seite. Den Behörden wirft sie Untätigkeit vor. Anstatt auf die Interessen der Wähler zu hören, würden letztere sogar als "orthodoxe Fanatiker" bezeichnet.

Amtskirche reagiert gelassen

Der Kreml und die Russisch-Orthodoxe Kirche reagieren verhalten. Nach dem Brandanschlag auf das Kinostudio des Regisseurs Utschitel rief Putins Pressesprecher Dmitrij Peskow dazu auf, die "hässlichen Ausfälle" gegen den Film zu unterbinden. Auch die offizielle Kirche distanziert sich vorsichtig vom religiösen Eifer der tiefgläubigen Poklonskaja. Zwar wurde im Jahr 2000 nach langen und heftigen Diskussionen die ganze Zarenfamilie aufgrund ihres qualvollen Todes heiliggesprochen, doch den Anspruch, Nikolaus II. habe ein sündenfreies Leben geführt, erhebt die Kirche nicht – und bleibt auch in Bezug auf den Film, von einzelnen Geistlichen abgesehen, relativ gelassen.

Zarenverehrer vergleichen Nikolaus II. mit Jesus

Ganz anders sehen es die Zarenverehrer, in Russland unter dem Namen "Zareboschniki" bekannt. Es handelt sich dabei um eine erzkonservative, ultraorthodoxe Sekte, die stark zu Nationalismus und Antisemitismus neigt. Nach Überzeugung der "Zareboschniki" kommt Nikolaus II. eine besondere sakrale Rolle zu. Sein Tod wird metaphysisch aufgeladen und als heiliges Opfer zur Tilgung der Sünden des – angeblich auserwählten – russischen Volkes gefeiert. Der Monarch wird sogar stellenweise auf eine Stufe mit Jesus Christus gestellt. Und auch die Behauptung, hinter seiner Ermordung würde die jüdische Weltverschwörung stecken, kann man in den Schriften der Zarenverehrer finden.

Prominente Duma-Abgeordnete als "Gesicht" der Sekte

Den "Zareboschniki" sollen inzwischen mehrere Hunderttausend Menschen angehören. Darunter befinden sich nach Aussagen von Kirchenvertretern auch ranghohe Geheimdienst-Mitarbeiter und Politiker. Eines der prominentesten und aktivsten Sektenmitglieder ist die bereist erwähnte Duma-Abgeordnete Poklonskaja. Sie scheint vom letzten Zaren geradezu besessen.

Wenn Tausende Russen bei der jährlichen Aktion "Das unsterbliche Regiment" zum Tag des Sieges am 9. Mai auf der Straße ihrer im Zweiten Weltkrieg gefallenen Vorfahren gedenken, taucht sie zum Beispiel mit einer Zaren-Ikone auf. Sie hat viel Zeit, Energie und unzählige Behördenanfragen darauf verwandt, die Ehre des Monarchen rein zu halten. Im März 2017 hat sie schließlich verkündet, die Zaren-Büste neben ihrer angestammten Kirche auf der Krim würde Tränen vergießen. Das russische Kultusministerium, das dem Film "Mathilde" eine Kinolizenz erteilte, bezichtigte sie des Extremismus. Besonders kurios wirkte auch, dass die Sekte Gläubigen, die den Streifen sehen werden, ein halbes Jahr Kirchenbann und Ausschluss von Gottesdiensten angedroht hat, ohne auch nur den Hauch einer entsprechenden kirchlichen Kompetenz dafür haben.

Verurteilter Mörder baut Frauenkloster in Jekaterinburg

Ein weiterer einflussreicher Vertreter der Sekte ist Vater Sergij, der als der geistliche Vater von Poklonskaja gilt und ausgerechnet den weltlichen Namen Nikolai Romanov tragen soll. Einer Recherche der Zeitung "Novaja Gazeta" zufolge hat der ehemalige Polizist insgesamt 15 Jahre Haft wegen Mord und Raub hinter sich. Nach seiner Freilassung wandte er sich umso eifriger dem Glauben zu und stellte sein Organisationstalent beim Bau eines Frauenklosters bei Jekaterinburg unter Beweis. Dieses Kloster soll an jener Stelle stehen, wo nach dem Glauben der "Zareboschniki" die Leichname der Zarenfamilie verscharrt wurden und zählt heute zu den beliebtesten Pilgerstätten Russlands. Mehr als 300 Nonnen leben dort, die ein Hospiz für Krebskranke führen. Außerdem werden regelmäßig Exorzismen durchgeführt, um böse Geister aus angeblich besessenen Menschen auszutreiben.

Zu seinen geistigen Schützlingen zählt Vater Sergij, der nach kirchlichem Recht wegen seiner kriminellen Vergangenheit eigentlich gar kein Geistlicher sein darf, zahlreiche erfolgreiche und einflussreiche Unternehmer, Bankiers, Politiker und sogar Kriminelle, so die "Novaja Gazeta". Manche von ihnen sollen sogar ihren Besitz veräußert und den Erlös dem Kloster gespendet haben.

Nationalistische Ideologie

Überflüssig zu sagen, dass diese "Jünger" auch die Ansichten ihres geistigen Vaters teilen. Diese Vorstellungen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Als einzig legitime Macht wird die Zarenherrschaft anerkannt, die Völker Russlands, Weißrusslands und der Ukraine werden als Einheit gesehen. Der Ukraine als Staat wird jegliche Existenzberechtigung abgesprochen. Steuernummern und biometrische Pässe werden grundsätzlich abgelehnt. Irgendwann, so glaubt die Sekte, werde wieder ein Monarch Russland regieren, der das Land für "eine kurze Zeit" zu neuem Glanz verhelfen werde, bevor wenig später das Ende der Welt komme. Bis es soweit ist, veranstalten die Zarenverehrer regelmäßig ihre Gottesdienste. Der wichtigste Ritus dabei ist die sogenannte "Volksbitte um Vergebung der Sünden".

Sektenmitglied dreht Gegen-Film

Eine solche Sünde stellt in ihren Augen auch der Film "Mathilde" dar. Doch nicht alle Anhänger der Sekte greifen zu derart rabiaten Methoden wie Brandanschläge. Ein gewisser Sergej Aliew, ebenfalls Anhänger der Sekte, dreht gerade einen Gegen-Film mit dem Titel "Die Lüge der Mathilde". In einem Interview des kirchennahen ultrakonservativen TV-Senders "Tsargrad" sagte er, dass nach seinem Film niemand mehr "Mathilde" wird sehen wollen. Er wolle die wahre Geschichte zeigen und den "Mythos rund um die Ermordung der Zarenfamilie" zerstören. Denn die sei, so Aliew, keine simple Erschießung durch die Bolschewiki gewesen, sondern ein Ritualmord der Zionisten. Die berühmt-berüchtigten "Protokolle der Weisen von Zion", eine antisemitische Hetzschrift vom Anfang des 20. Jahrhunderts, die gerne von der Propaganda im Nazi-Deutschland benutzt wurde und heute in Russland als extremistisch verboten ist, spielen dabei eine entscheidende Rolle.

Osteuropa

Mathilde - ein Film als Politikum

Lars Eidinger spielt in "Mathilde" den Zaren Nikolaus II. Die polnische Schauspielerin Michalina Olszanska mimt die polnische Tänzerin und Salonlöwin Mathilde Kschessinskaja. Auch dabei: Luise Wolfram als Zarenfrau.

Lars Eidinger als Zar Nikolaus II.
Lars Eidinger spielt in dem Kostümfilm des russischen Regisseurs Alexej Utschitel die Hauptrolle des letzten Zaren. Bildrechte: Rockfilm
Lars Eidinger als Zar Nikolaus II.
Lars Eidinger spielt in dem Kostümfilm des russischen Regisseurs Alexej Utschitel die Hauptrolle des letzten Zaren. Bildrechte: Rockfilm
Michalina Olszańska als polnische Tänzerin Mathilda-Marie Feliksovna Kschessinskaja
An seiner Seite gibt es gleich zwei Frauen: als "Affäre" und Prima-Ballerina die polnische Schauspielerin Michalina Olszanska. Sie spielt die historische Figur der polnischen Tänzerin Mathilde Maria Felixowna Kschessinskaja. Sie galt damals als Salonlöwin und soll mehrere Affären mit anderen Großfürsten gehabt haben ... Bildrechte: Rockfilm
Lars Eidinger als Zar Nikolaus II. und Luise Wolfram
Die Krönung zum Zaren: Eidinger und Wolfram in historischer Kulisse des 25 Millionen Dollar teuren russischen Films. Bildrechte: Rockfilm
Lars Eidinger als Zar Nikolaus II. und Luise Wolfram
Gläubige in Russland stoßen sich an Szenen wie dieser – immerhin wurde Zar Nikolaus II. von der russischen Kirche heiliggesprochen. Der Film über die Affäre des Zaren verletze deshalb die Gefühle der Orthodoxen, heißt es immer wieder. Bildrechte: Rockfilm
Frauen tragen historische Kostüme
Filmstart für "Mathilde" soll am 25. Oktober 2017 sein. Einige Regionen Russlands wollen den Film aber verbieten. Bildrechte: Rockfilm
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Über dieses Thema berichtete der MDR auch im: TV | 10.02.2016 | 18:10 Uhr