Das ungarische Gesundheitssystem vor dem Zusammenbruch

11. Juli 2017, 09:38 Uhr

Das ungarische Gesundheitswesen steht vor dem Kollaps: Personalmangel, geringe Gehälter und schlechte Arbeitsbedingungen. Viele Mediziner zieht es deshalb zum Arbeiten ins Ausland und in Ungarn zum Protest auf die Straßen.

Die Öffnungszeiten sind mit Edding an die Glastür geschrieben, Putz und Kacheln fallen von den Wänden, elektrische Leitungen liegen offen, die Klos sind wegen ihres schlechten Zustandes ganz gesperrt. Willkommen in der Lungenambulanz eines Krankenhauses im Budapester Stadtteil Csepel.

Gravierende Zustände

Im Juni 2017 schlägt die ungarische Ärztekammer (MOK) mit deutlichen Worten Alarm: "In Ungarn findet die gesundheitliche Versorgung und deren Finanzierung praktisch auf dem selben Niveau wie zu Zeiten des zweiten Weltkriegs statt." Die Stellungnahme klingt verzweifelt, passt aber zu Fernsehbildern, die der ungarische Privatsender RTL Klub kurz zuvor ausstrahlte und die tausendfach geteilt wurden. Sie zeigen in aller Deutlichkeit, wie es um das ungarische Gesundheitssystem bestellt ist: katastrophal.

Ungarische Ärztekammer protestiert

Die Kammer fordert einen grundlegenden Paradigmenwechsel, ruft die Politik zu unverzüglichem Handeln auf und veröffentlichte eine Erklärung mit Änderungsvorschlägen. Seit Jahrzehnten sei das ungarische Gesundheitswesen in kritischem Zustand. Die Gesundheitsausgaben des Landes sind nach Ansicht der Mediziner im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt ein "moralisches Zeugnis" - aber kein gutes.

Gesundheitswesen unterfinanziert

Dass das ungarische Gesundheitswesen drastisch unterfinanziert ist, ist für jeden auf den ersten Blick sichtbar, der je das Pech hatte, in Ungarn krank zu werden. Die Krankenhäuser sind oft in einem erbärmlichen Zustand, es fehlt an Personal, Patienten müssen selbst grundlegende Dinge wie Toilettenpapier selbst mitbringen. Und immer wieder machen Horror-Geschichten Schlagzeilen: Ende vergangenen Jahres wurden binnen weniger Tage in gleich zwei ungarischen Krankenhäusern mehrere Tage alte Leichen gefunden – eine davon in einer Besuchertoilette neben der Frühchen-Station.

Doch vor allem der Personalmangel wird zum – für manche Patienten tödlichen – Problem, da er zu langen Wartezeiten führt. Besonders tragisch ist die Geschichte eines Lungenkrebspatienten. Der wurde ein Jahr lang von Arzt zu Arzt geschickt und starb schließlich, als es schon zu spät war, auf dem OP-Tisch. Ein anderer musste so lange auf die Entfernung eines Blutgerinnsels im Bein warten, bis er die Schmerzen nicht mehr ertrug und den Eingriff kurzerhand selbst vornahm. Das Video stellte er als DIY-OP ins Internet.

Reaktion der Politik

Der zuständige Minister, Zoltán Balog, beschuldigte indes die Medien, Fake News zu verbreiten um Stimmung zu machen: "Zeigen Sie mir ein Gesundheitswesen, egal wo auf der Welt, wo man nicht jeden Tag einen solchen Punkt, einen solchen Fall, eine solche Geschichte finden könnte, mit der man dann die öffentliche Meinung manipulieren könnte und zeigen kann, dass trotz bester Leistungen der Beschäftigten das Gesundheitswesen auf irgendeine Art untauglich ist".

Studie zum Gesundheitssystem

Insgesamt 32.000 Todesfälle hätten im Jahr 2014 vermieden werden können, wenn das Gesundheitssystem in einem besseren Zustand wäre, schrieb das Internetportal Napi.hu im Juni und beruft sich dabei auf eine Studie, die durch das Staatliche Zentrum für gesundheitliche Versorgung (Állami Egészségügyi Ellátó Központ - ÁEEK) koordiniert und in Zusammenarbeit mit dem Ministerium erstellt wurde. Innerhalb des Landes gebe es große Unterschiede in der Versorgung, im EU-Vergleich falle Ungarn weiter zurück, heißt es im Bericht.

Medizinische Ausbildung in Ungarn

Dabei ist die medizinische Ausbildung in Ungarn gar nicht schlecht, die Semmelweis-Universität in Budapest ist auch bei ausländischen Studierenden sehr beliebt. Doch die Gehälter und Arbeitsbedingungen für Ärzte sind in Ungarn derart miserabel, dass die Mediziner regelmäßig auf die Straße oder gleich ganz ins Ausland gehen. Beliebteste Ziele sind bisher Großbritannien, Deutschland, Österreich und Schweden, wo sie das acht- bis zehnfache verdienen. Manche flüchten auch vor einer ungarischen Eigenart: Dem sogenannten Dankesgeld (hálapénz), das Patienten zusätzlich direkt an den Arzt entrichten, in der Hoffnung eine bessere oder beschleunigte Behandlung zu kommen. Doch nicht nur die Patienten, auch viele Ärzte halten das für entwürdigend:

Es ist nicht derjenige ein guter Arzt, der drei Stunden lang den Kopf eines Kindes streichelt, damit er 5000 Forint bekommt. Wir haben ein anderes Verständnis. Wir machen die Untersuchungen und heilen, wenn wir können, und am Ende sagen wir, wo wir stehen.

Arzt Reportage des ungarischen Internetportals Index.hu

Ärzte, Schwestern und Pfleger wandern ab

Auch viele Krankenschwestern verlassen das Land, berichtet das ungarische Online-Portal Index.hu weiter. Jahr für Jahr würden hunderte Krankenschwestern Papiere beantragen, um im Ausland arbeiten zu können. Inzwischen gebe es in ungarischen Krankenhäusern rund ein Viertel weniger Krankenschwestern als im EU-Durchschnitt. Und auch die, die bleiben, sind nicht zufrieden. Immer wieder protestieren Krankenschwestern gegen miserable Arbeitsbedingungen, Überlastung und nicht bezahlte Überstunden, indem sie nicht in weiß, sondern in schwarz zur Arbeit erscheinen.

Inzwischen sind derart viele Ärzte abgewandert, dass Medienberichten zufolge (Quelle: Átlátzó) ganze Abteilungen von Krankenhäusern wegen des Ärztemangels schließen mussten. Inzwischen hat die Fidesz-Regierung über 5000 pensionierte Ärzte und Krankenschwestern reaktiviert, die nun neben ihrer Rente noch etwas arbeiten, um die ärgsten personellen Löcher zu stopfen. Doch alleine in Budapest stehen weitere 2000 Ärzte und Krankenschwestern kurz vor der Pensionierung.

Lebenserwartung in Ungarn Die Lebenserwartung der Ungarn ist im Vergleich der 28 EU-Mitgliedsstaaten mit am niedrigsten, Männer leben in Ungarn im Schnitt 72,3 Jahre, Frauen 79,4 Jahre. Damit liegen die Männer auf dem 24., die Ungarinnen sogar auf dem 26. Platz.   

Über dieses Thema berichtete MDR AKTUELL auch im TV: MDR | 03.03.2017 | 17:45 Uhr