"Wir waren auf dem östlichen Auge blind"

02. März 2018, 15:41 Uhr

Gabriele Woidelko ist Historikerin und Slawistin und leitet bei der Körber-Stiftung den Bereich „Russland in Europa“. Eine Studie der Stiftung hat überraschende Gemeinsamkeiten zwischen Russen, Polen und Deutschen offenbart.

Sie haben eine Umfrage unter Deutschen, Polen und Russen zu verschiedenen Fragen der Beziehungen zueinander durchgeführt. Welche Ergebnisse fanden Sie am überraschendsten?

Historikerin Gabriele Woidelko (Körber-Stiftung)
Historikerin Gabriele Woidelko Bildrechte: Körber-Stiftung/Claudia Höhne

Wir haben unter anderem die Frage gestellt, ob Russland ein Teil Europas ist, da wir unser Projekt innerhalb der Körber-Stiftung ja "Russland in Europa" genannt haben und das "in" ist dabei nicht naiv gemeint, sondern durchaus wörtlich. Wir haben also diese Frage gestellt und knapp jeder zweite Russe hat sie mit "ja" beantwortet, 56 Prozent der Deutschen und 57 Prozent der Polen. Allerdings zielen diese Zustimmungswerte nur noch auf die geografische Zugehörigkeit zu Europa. Gemeinsame europäische Werte spielen keine Rolle mehr in diesem Punkt. Daran schließt sich aber die Frage an, wie dann folgende Ergebnisse unserer Umfrage zu interpretieren sind: In allen drei Ländern, also Polen, Deutschland und Russland herrscht Einigkeit darüber, dass eine unabhängige Justiz wichtig ist. Und es herrscht auch Einigkeit darüber, dass eine starke Opposition wichtig ist für eine funktionierende Demokratie. Wir scheinen also durchaus ähnliche Begrifflichkeiten für bestimmte Werte zu verwenden. Allerdings stellt sich hier die Frage, ob sich die Definition der Begrifflichkeiten nicht vielleicht unterschiedlich entwickelt hat in den drei betrachteten Ländern.

Die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland sind ja vor allem seit der Ukraine-Krise sehr schwierig. Dennoch zeigt Ihre Studie, dass sich die Menschen in den beiden Ländern einander wieder annähern wollen. Welche Wege für so eine Annäherung sehen Sie denn?

Ich stelle mir ganz ernsthaft die Frage, inwiefern es uns hilft, zum Beispiel das gegenseitige Visa-Regime aufrecht zu erhalten. Ich weiß, dass das eine politische Entscheidung ist und solange die Krim russisch bleibt, sich daran nichts ändern wird. Aber ich weiß, dass es den Jugendlichen und Wissenschaftler, die mit Deutschland zu tun haben, das Leben verdammt schwer macht. Diejenigen, die wir eigentlich damit bestrafen wollen, die haben kein Problem, aus- und einzureisen. Die Zahl der Schengen-Visa unter den reichen Russen ist eklatant hoch. Ich würde mir wünschen, dass wir politischen Mut haben an dieser Stelle, um die Beziehungen auf der zivilgesellschaftlichen Ebene leichter zu machen.

Mit Blick auf die Osteuropa-Berichterstattung: Was würden Sie sich denn von uns Medien für die Zukunft wünschen?

Ich glaube, wir in Deutschland waren lange Zeit auf dem östlichen Auge blind. Die Osteuropa-Berichterstattung ist eigentlich erst wieder richtig in Gang gekommen mit dem Ausbruch der Ukraine-Krise. Die Ukraine hatte vorher niemand so richtig auf dem Schirm in Deutschland und ganz ehrlich: Es hat auch niemanden richtig interessiert. Das hat sich 2014 geändert und ich würde mir wünschen, dass es Berichterstattung nicht nur in Zeiten der Krise gibt. Und wenn es um den Inhalt geht, würden mich vor allem mehr Original-Beiträge aus den osteuropäischen Medien interessieren. Also, nicht, dass ein deutscher Journalist mit seinem deutschen Blick die Fragen stellt. Sondern dass zum Beispiel auch mal der Chefredakteur der polnischen Zeitung Rzeczpospolita seine Ansicht in einem deutschen Medium wiedergeben kann, völlig ungefiltert. Auch auf die Gefahr hin, dass die mir vielleicht nicht immer gefällt. Aber sie würde mir helfen zu verstehen, wie diese Gesellschaften ticken. 

Über dieses Thema berichtet MDR auch im: Fernsehen | 10. und 17.03.2018 | jeweils ab 18:00 Uhr