Ein Mann stützt seine Arme auf einen Tisch.
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"Der Westen muss in der 'Wertefrage' abrüsten"

08. März 2018, 14:29 Uhr

Matthias Middell ist Professor für Kulturgeschichte an der Universität Leipzig. Seiner Ansicht nach vergessen die Deutschen zu oft, dass sich Russland außenpolitisch schon lange nicht mehr nur mit Blick auf Europa orientiert, sondern global agiert.

Was ist Ihrer Meinung nach schiefgelaufen in den deutsch-russischen Beziehungen?

Das fing ja schon in den 90er-Jahren an. In Russland wurde die Hoffnung auf eine Modernisierungspartnerschaft enttäuscht. Es gab in den ersten Jahren nach dem Jelzin-Chaos in Russland die Vorstellung, dass man mit Europa und speziell mit Deutschland eine technologische und wissenschaftliche Modernisierung hinbekommt. Zudem hat Russland versucht, den westlichen Normen zu entsprechen. Dazu gehörten die Einhegung der Oligarchen und der Aufbau einer neuen Staatlichkeit.

Ab 2005 gab es dann in der russischen Außenpolitik neue globale Ambitionen. Europa hatte dann keine Priorität mehr, sondern es herrschte ein globaler Blick Richtung Lateinamerika, Asien und Südamerika. Und das kommt in der Diskussion hierzulande immer zu kurz, wo sich alle immer fragen, warum die Russen uns eigentlich nicht mehr so lieben, wie wir uns das wünschen und wie wir sie doch von Zeit zu Zeit anbeten. Das ist eine seltsame Verengung von der deutschen Seite, dass die Russen sich doch bitte nur für Europa interessieren sollten. Das tun sie aber nicht.

Aber wie findet man denn vor diesem Hintergrund nun einen Weg, die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland wieder zu verbessern?

Als ersten Schritt sollten wir mal zur Kenntnis nehmen, dass sich Russland anders in der Welt positioniert als nur mit Blick auf Europa. Wenn man sich die Weltkarte und die Größenverhältnisse vor Augen führt, ist einem schnell klar, dass der kleine Schwanz Deutschland nicht mit dem großen Hund Russland wackeln kann. Aber so wird ja bisweilen geredet, denn das ist eine populäre Vorstellung.

Eine zweite Frage ist die der Werteorientierung. Ich kann Umfragen machen, wie die der Körber-Stiftung, um die Differenzen herauszustellen. Sie können aber auch andere Umfragen machen und fragen, welche Modestile oder Musikstile interessant sind in den beiden Ländern, dann sind das sicher Werte, bei denen man sich näher ist. Ein Ansatzpunkt wäre der wissenschaftliche Bereich, für den ich sprechen kann. In Russland ist in diesem Bereich in den letzten Jahren viel geschehen.

Es gab Initiativen, die wir hier als Exzellenz-Initiativen bezeichnen würden. Das ist eine Basis für eine Kommunikation. Der Westen muss möglicherweise abrüsten bei der Frage, welche Werte gelten sollen. Und das heißt nicht, Werte für sich selbst zurückzunehmen, sondern zu akzeptieren, dass die anderen aus nachvollziehbaren Gründen eine bestimmte Werteentwicklung haben und mit der muss ich in Dialog treten. 

Mit Blick auf die Osteuropa-Berichterstattung: Was würden Sie sich denn von uns Medien für die Zukunft wünschen?

Die Medien sollten zunächst einmal berichten, was ist passiert und nicht gleich die Interpretation dazu liefern, wie wir es gerne hätten, dass es sein soll. Diese Interpretation kann man dem Zuschauer überlassen, wenn man ihm zuvor ein Bild der Lage vermittelt hat, wie sie ist. Medien sollten sich auch dessen bewusst sein, dass ihre Berichterstattung den Effekt der Dehumanisierung hat.

Das heißt, der Gegenüber wird nicht mehr als Mensch wahrgenommen, wenn über "die Flüchtlinge" berichtet wird. Gleiches gilt auch, wenn über "die Russen" oder "die Polen" berichtet wird. Viel mehr interessiert mich doch, wie die russische Gesellschaft funktioniert, als den ewig reitenden Putin mit nacktem Oberkörper zu sehen. Ich würde mir wünschen, dass Medien den Geschichten häufiger ein Gesicht geben, also über Individuen berichten.

Über dieses Thema berichtet MDR auch im: Fernsehen | 10. und 17.03.2018 | jeweils ab 18:00 Uhr