Ein Orchester auf der Bühne, die blau angestrahlt wird.
Klassisch geht es bei den Stelzenfestpielen zwar auch zu, das Festival hat aber auch Theater, Workshops und sogar Fußball im Programm. Bildrechte: Gert Mothes

23. bis 25. Juni 2023 Stelzenfestspiele bei Reuth: Originelles Festival in Thüringen feiert 30-jähriges Jubiläum

23. Juni 2023, 09:20 Uhr

Als 1993 die ersten Stelzenfestspiele im thüringischen Vogtland stattfanden, war es wie ein Tauschhandel: Teilhabe am Dorfleben gegen Kultur. Bis heute ist es so geblieben. In diesem Jahr feiert das Festival in dem 180-Seelen-Dorf Stelzen vom 23. bis 25. Juni sein 30-jähriges Jubiläum. Zum Auftakt gibt es wie immer die Landmaschinen-Sinfonie – das allerdings zum letzten Mal.

Ein selbstgebasteltes Schild weist im Dorfkern von Stelzen den Weg zur Festspielscheune, der Spielstätte der Stelzenfestspiele. Die Scheune liegt auf einem Hügel oberhalb des Ortes, umgeben von weiten Wiesen, einem Birkenwäldchen und einer selbst angelegten Streuobstwiese. In der Luft hängt der Geruch von frisch gemähtem Gras.

Henry Schneider steht vor einem flachen Gebäude, in dem Technik und Instrumente lagern. Draußen sind Fotos von all den Menschen aus dem Dorf angebracht, die das Festival über die Jahre begleitet und durch ihr Engagement überhaupt erst möglich gemacht haben. "Hier zum Beispiel der Priester vor seiner Kirche", erläutert Schneider.

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Bei den Stelzenfestspielen helfen alle im Dorf mit

Henry Schneider, früherer Gewandhaus-Bratscher, ist der Erfinder der Stelzenfestspiele. 1993 hatte er die fixe Idee, mal ein größeres Konzert in seinem Heimatdorf zu organisieren. Dass sich dadurch jährliche Festspiele entwickeln, das war nie der Plan. Doch das Dorf habe so viel Spaß an den Festspielen gehabt, dass es immer weitergegangen sei, erklärt Schneider.

Bis heute helfen fast alle Dorfbewohner in irgendeiner Form mit. Manche nehmen sich extra Urlaub. Nach all den Jahren haben sich natürlich Routinen gebildet: "Jeder ist einer Abteilung zugeordnet", sagt Schneider. Und am Ende füge sich alles irgendwie zusammen zu einem Festival: "Wie das genau funktioniert, das kann ich Ihnen gar nicht sagen. Auch für mich ist es jedes Mal wieder ein kleines Wunder".

Der Intendant der «Stelzenfestspiele bei Reuth», Henry Schneider, zersägt am 08.07.2011 zum Auftakt des Festivals in dem kleinen Vogtlanddorf Stelzen ein Didgeridoo mit einer Kettensäge auf der Bühne.
Festspiel-Intendant Henry Schneider mischt auch selbst im Programm mit: Hier zersägt er bei der Landmaschinen-Sinfonie ein Didgeridoo mit einer Kettensäge auf der Bühne. Bildrechte: picture alliance / dpa | Hendrik Schmidt

Die Stelzener Jugend rückt nach

Seit den Anfängen des Festivals sind Dorfbewohner gestorben, dafür aber auch junge nachgerückt. Zum Beispiel der 34-jährige Pascal, der an diesem Nachmittag wenige Tage vor dem Festivalwochenende auch auf dem Gelände unterwegs ist. Er kümmert sich vor allem um Technik und Logistik. Gerade hilft er, einen Efeuzweig an einem Laubbläser zu befestigen, ein Requisit für ein Theaterstück, das gerade geprobt wird.

Der 34-Jährige kennt sein Heimatdorf Stelzen gar nicht ohne die Stelzenfestspiele. Obwohl er zwischenzeitlich auch mal woanders gewohnt hat, für das Festival war er immer vor Ort:

Dieses Gemeinschaftsgefühl ist einfach schön. Wenn es um die Stelzenfestspiele geht, springt sofort jeder auf.

Pascal, Einwohner von Stelzen

Die Festspiele vereinen alles: klassische und experimentelle Klänge, Theater, Ausstellungen

Bei der Gestaltung des Programms sind die Stelzener rund um Henry Schneider den Ursprüngen treu geblieben. Die Stelzenfestspiele sollen nicht nur einen kleinen, elitären Kreis erreichen. Neben Performances und Ausstellungen gibt es vor allem Musik zu hören, von klassisch bis hoch experimentell in Form der Landmaschinen-Symphonie. Auch in diesem Jahr wird sie zum Auftakt am Freitag zu hören sein. Musikfreunde können sich außerdem unter anderem auf ein Akkordeon-Konzert, Vivaldis "Die Vier Jahreszeiten" in Streicher-Besetzung, ein Streichquartett aus der Mongolei und das traditionelle große Abschlusskonzert am Sonntag freuen.

Letzter Auftritt der Landmaschinen-Symphonie

Mit der Landmaschinen-Symphonie soll nach dem Jubiläumsfest allerdings Schluss sein, zumindest in der bisherigen Form. Schneider ist da unsentimental: "Ich wollte das Projekt nicht ausbluten lassen oder nur aus Geschäftssinn weiterführen." Bisher war der Anspruch, jedes Jahr wieder neue Maschinen umzubauen. Das Konzept hat sich aus Sicht Schneiders nach all den Jahren erschöpft. Jetzt freut er sich darauf, die Köpfe für Neues frei zu machen. Trotzdem sollen die in der Scheune festverbauten Landmaschinen-Instrumente, wie die Gülleorgel oder die Melkspinne, auch danach noch gespielt werden. Nur eben anders.

Ein Mann macht in einer Scheune Musik mit Landmaschinen.
Musiker Gareth Lubbe probt in der Festscheune für die Landmaschinen-Symphonie an einer Scheibenegge. Bildrechte: picture alliance/dpa | Bodo Schackow

Inklusive Theaterproduktion "Die Vier(einhalb) Jahreszeiten"

Neben dem Kultkonzert der Landmaschinen-Symphonie gibt es seit 2006 außerdem die Tradition, alle zwei Jahre eine inklusive Theaterproduktion unter der Leitung des Theatervereins "Inselbühne" aus Leipzig auf die Beine zu stellen. Dabei stehen Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam auf der Bühne. Die diesjährige Produktion heißt "Die Vier(einhalb) Jahreszeiten" und ist am Samstagabend zu sehen. 28 Frauen und Männer aus einem Wohnheim für Menschen mit Behinderung, das die Diakoniestiftung Weimar Bad Lobenstein am Rand von Stelzen betreibt, nehmen teil.

Regie führt – zum mittlerweile achten Mal – Volker Insel, Mitbegründer der Inselbühne. Nach Adaptionen von Winnetou, dem "Fliegenden Holländer" oder der Geschichte der Arche Noah soll in diesem Jahr das eigene Leben und Erleben der Spielerinnen und Spieler im Mittelpunkt stehen, wie Insel erzählt: "Was verbinden sie mit Kindheit, Jugend, Erwachsensein und Tod?". Symbolisch für den Lebenskreislauf stehen die vier Jahreszeiten. Frühling, Sommer, Herbst und Winter.

Mischung aus Tanz, Musik und Text

Konzipiert ist der Abend als Mischung aus verschiedenen Elementen, wie Tanz, Musik, Gedichten und Spielszenen. Neben den Spielerinnen und Spielern aus der Wohngruppe für Menschen mit Behinderung singt ein Chor aus der Region auf der Bühne. Die Dorfbewohner aus Stelzen tauchen in diesem Jahr in kurzen Videos auf, die auf eine Leinwand projiziert werden. Regisseur Insel hat sie dafür zu ihrem Leben und prägenden Ereignissen befragt.

Auch in den Endproben verläuft auf der Probe zu "Vier(einhalb) Jahreszeiten" Vieles nicht nach Plan. Und das werde auch so bleiben, sagt Regisseur Volker Insel. Dafür entstünden andere, manchmal vollkommen ungeahnte Momente, die eben nicht gespielt, sondern echt seien. Genau das macht für Volker Insel die Theaterarbeit mit Menschen, die eine Behinderung haben, aus: "Sie haben die große Stärke auch auf der Bühne, ganz ungefiltert, direkt und natürlich agieren zu können." Die halbe Jahreszeit, die sich in dem Titel "Vier(einhalb) Jahreszeiten verbirgt", stehe für das, was alle Beteiligten – ob mit oder ohne Behinderung – verbinde: die gemeinsamen Erlebnisse rund um die Stelzenfestspiele.

(Redaktionelle Bearbeitung: Cornelia Winkler)

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | Spezial "30 Jahre Stelzenfestspiele bei Reuth" | 22. Juni 2023 | 18:05 Uhr