Anschlag in Halle Halle, 9. Oktober - das Jahr danach
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Vor einem Jahr geriet Halle an der Saale weltweit in die Schlagzeilen. Ein rechtsextremer Terroranschlag erschütterte die Stadt. Bei den Betroffenen hat das Erlebte tiefe Spuren hinterlassen. Wie geht es Ihnen heute? Und wie hat das Attentat die Stadt verändert?
Es ist ein Samstag im Mai 2020 und Sven Liebich, der Organisator der halleschen "Montagsmahnwachen", hat zu einer Demo gegen Corona-Maßnahmen zusammengerufen. "Igor, ich hab' doch nichts gegen dich, weil du Jude bist! Hast gehört? Im Gegenteil! […] Nein Igor! Igor, ich habe was gegen elendige SPD-Läuse, aber nicht gegen Juden, warum sollte ich was gegen Juden haben?" brüllt Liebich dem SPD-Politiker Igor Matviyets vor dem Rathaus in Halle an der Saale zu und filmt sich dabei. Er selbst trägt ein T-Shirt mit dem Bild von Anne Frank, darüber die Worte "Anne Frank wäre bei uns" und auf der Brust eines Demonstranten prangt der gelbe Stern mit dem Wort "Ungeimpft".
Einige Meter vom Rathaus entfernt hat das Bündnis "Halle gegen Rechts" einen Infostand aufgebaut und zwei Mitglieder halten ein Banner hoch: "Achtung! Sie betreten jetzt den verschwörungsideologischen Sektor!".
Solche und ähnliche Szenen spielen sich schon seit einigen Jahren auf dem halleschen Marktplatz ab. Doch seit dem 9. Oktober 2019 bekommen sie eine neue Dimension und Brisanz.
Der Anschlag und die Folgen
An diesem Tag versuchte ein Mann in Kampfmontur, ausgerüstet mit selbst gebauten Waffen und Sprengsätzen in die Synagoge einzudringen und stürmte in einen Dönerimbiss. Er tötete zwei Menschen, die zufällig vorbeilaufende vierzigjährige Jana L. und den zwanzigjährigen Auszubildenden Kevin S., der in seiner Mittagspause einen Döner essen wollte. Auf der Flucht schoss der Täter im Landsberger Ortsteil Wiedersdorf zwei weitere Menschen an, bevor er auf der Autobahn A 9 verhaftet werden konnte.
Christina Feist war am 9. Oktober mit etwa 50 Menschen in der halleschen Synagoge. Eigentlich wollten sie zusammen Yom Kippur feiern – den höchsten jüdischen Feiertag. Seit dem Anschlag ist Deutschland kein Ort mehr für sie zum Bleiben:
Ich vertraue absolut niemandem mehr, und das ist katastrophal. Und ich möchte nicht, dass das so ist. Aber es ist so. Es ist unangenehm. Es schränkt mich ein in dem, was ich tun kann. Das sind wahnsinnig lebenseinschneidende und lebensverändernde Dinge, die sich da tun.
So wie Christina Feist geht es einigen der Menschen, die am 9. Oktober in Halle überlebten oder Zeugen der Taten werden mussten. Die Besitzer des Kiez-Döners zum Beispiel, die Brüder Tekin, suchen Ablenkung in der Arbeit, die aber durch sinkende Gästezahlen immer weniger zu werden droht.
Seit dem Tag saßen wir hier meistens herum und haben nachgedacht. Wenn etwas mehr Betrieb ist, dann kannst du nicht nachdenken, du musst immer arbeiten, vorbereiten und dann vergisst du diese Tat. Am Abend bist du kaputt, dann gehst du nach Hause und schläfst einfach, denn wenn man kaputt ist, kann man gut schlafen. Ich hoffe, dass wieder Normalität kommt, damit wir nicht mehr an diesen Tag denken.
Ebenfalls bis heute tief betroffen: Andreas Splett. Er wohnt in der Ludwig-Wucherer-Straße, neben dem Kiez-Döner. Splett ist Profi-Fotograf und Kameramann, durch Zufall Augenzeuge. Seine Bilder waren die ersten, die den Täter zeigten. In den Wochen nach dem großen medialen Trubel um den Anschlag musste Splett auf den eigenen Accounts erfahren, wie krude Verschwörungsmythen ein Klima der Denunziation schaffen.
Das ist verbrecherisch, was die da treiben. Es ist am Rande der Kriminalität, was die da behaupten und tun. Es ist unmenschlich. Und ignorant.
Andreas Splett geht inzwischen juristisch vor gegen Menschen, die ihn als Teil einer groß angelegten Inszenierung diffamieren und zum Beispiel – ohne jede Grundlage - behaupten, er wäre auch schon bei den Attentaten von Nizza und München als Fotograf dabei gewesen.
Halle wehrt sich gegen rechte Hetze
Zunehmend – so beschreibt es die MDR-Autorin Duška Roth - wachse in der Stadtgesellschaft das Bewusstsein dafür, dass Hetze in sozialen Medien oder bei Demonstrationen nicht länger schweigend ignoriert werden könne.
Ein direkter Zusammenhang zwischen dem Täter aus dem Mansfelder Land und den immer wieder entgleisenden "Montagsmahnwachen" in Halle ist nicht gegeben. Aber welche mörderischen Konsequenzen das Konsumieren und Verbreiten von antisemitischen, rassistischen und menschenverachtenden Inhalten - ob im Netz oder sonst wo - hat, das führt gerade der Prozess gegen den Täter an jedem einzelnen Verhandlungstag vor Augen.
Mit einer gewissen Erleichterung hätten deshalb, so Roth, viele in Halle auch auf die am 14. September 2020 erfolgte Verurteilung des "Montagsmahnwachen"- Organisators Sven Liebich reagiert. Liebich wurde wegen Verleumdung, Beleidigung, Volksverhetzung und Beschimpfung von religiösen Bekenntnissen zu insgesamt elf Monaten Haft auf Bewährung und zum Ableisten von 200 Stunden gemeinnütziger Arbeit verurteilt. Halle wehrt sich gegen das Klischee der "Nazis im Osten". Eine engagierte Stadtgesellschaft beweise, dass hier Menschen wohnten, die vor Hetze nicht resignieren wollten. Und auch nicht vor Mordanschlägen und Terrorakten.
Über die Feature-Autorin
Duška Roth ist 1980 in Zagreb, Kroatien geboren und wuchs in Marburg auf. Sie studierte Ethnologie, Medienwissenschaften und Kunstgeschichte in Marburg und Tübingen. Sie arbeitete als Ethnologin in Serbien, Kroatien und Aserbaidschan. Seit 2016 arbeitet sie als freie Feature-Autorin.
Angaben zur Feature-Sendung
MDR KULTUR - Feature
"Halle, 9. Oktober - das Jahr danach"
Von Duška Roth
Sprecherin: Eva Meckbach
Redaktion: Tobias Barth
Regie: Nikolai von Koslowski
Produktion: MDR 2020
Sendung: 07.10.2020 | 22:00-23:00 Uhr
Die Sendung steht nach der Ausstrahlung hier ein Jahr lang zum Hören und Herunterladen bereit.
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | Feature: "Halle, 9. Oktober - das Jahr danach" | 07. Oktober 2020 | 22:00 Uhr