Zur Doku-Reihe "FLAESH - Tattookultur in Deutschland" Zeitgeist: Gesichtstattoos als Maske, Schutz – und Verschönerung

22. Juni 2023, 04:00 Uhr

Tattoos: Warum macht man sowas, tätowiert werden, "sich tätowieren" (lassen), besonders an markanten Stellen? Bereut man es nicht doch zwangsläufig? Ich bin selbst stark tätowiert, kenne und spreche in meinem Alltag oft mit Tattookünstlern und -künstlerinnen. Und ich frage mich: Müssen wir dazu noch viele Worte verlieren? Ist es nicht irgendwie alles klar mittlerweile? Im Laufe der Recherche merke ich: Es ist noch ein Thema, ja. Auch für mich, ganz persönlich.

Nastassja von der Weiden
Bildrechte: MDR/Markus Geuther

Das Gesicht, das habe ich mir bisher nicht tätowieren lassen, habe es auch nicht vor. Warum weiß ich gar nicht, habe ich doch den Hals, die Hände, sogar die Handinnenflächen bunt tätowiert.

Aber genau solch eine Person soll es für diesen Artikel sein; eine Person mit Gesichtstattoo – und ich finde schnell eine Reihe von Menschen, die ich dazu befragen könnte. Schließlich entscheide ich mich dazu, Jule aus Dresden zu interviewen.

Und was ich mir nicht hätte vorstellen können, bevor wir miteinander gesprochen haben: Es gibt doch noch interessante Geschichten, die es sich lohnt zu erzählen, wenn es um das Thema Tätowierungen geht.

Jule, Malena, Nema

Jule wohnt in Dresden und ist Musikproduzentin, DJ und nebenberuflich, mehr aus Gewohnheit und Absicherung, wie sie sagt, Friseurin. Wo halten sich tätowierte, alternative, jüngere Menschen in Dresden auf? In der Neustadt, klar.

Hier verbrachte und verbringt Jule viel Zeit, wenn sie nicht unter dem Namen Malena auflegt, Musik auf Maschinen und Synthies als Nema arrangiert, fotografiert oder "bastelt". Und zum Basteln gehört auch das Tätowieren und Tätowiert-Werden, denn das machen Jule und ihr Partner in den eigenen vier Wänden, gegenseitig oder – ja, auch das – an sich selbst.

FLAESH - Tattookultur in Deutschland (3) 4 min
FLAESH - Tattookultur in Deutschland (3) Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Das erste Tattoo hat sie sich nicht selbst gestochen, sondern von einer Freundin machen lassen – mit 16, also noch illegal. Es sind die Initialen ihrer Eltern, A und C, auf dem Hals. Eine exponierte Stelle und dazu ein Tattoo mit viel Bedeutung, aber ihre Eltern waren sehr gerührt, lacht Jule.

Wikinger, Westwood und Techno

Nach dem ersten Tattoo begann Jule zu sammeln. Die Zeit der Wikinger und speziell die Tattoos von Wikinger-Frauen, Vivienne Westwood als Mode-Ikone, das Düstere der Nacht, das Rituelle des Techno, all das begeistert sie.

Und das findet sich subtil auch auf ihrer Haut wieder, ein ungeplantes, trotzdem in sich schlüssiges Gesamtbild ist über die Zeit entstanden. Manche Tätowierungen stechen aber für sie persönlich heraus, zum Beispiel die Zahlen "1927" auf den Fingerknöcheln der Hand. Es ist das Geburtsjahr ihrer Oma.

Ihre Beintattoos, den linken Arm und sogar einen Teil ihres Gesichtstattoos auf der Stirn hat Jule sich selbst gestochen. Sie mag es, wenn Linien unperfekt und nicht wie aus dem Laserdrucker auf die Haut gebrannt werden: "Der Stil ist dann rougher und noch individueller."

Tattoos als Schutzpanzer im Alltag

Gerade die Tattoos im Gesicht hat Jule lange herbeigesehnt und ist sehr glücklich mit ihrer Entscheidung, sich auch dort tätowiert zu haben. Bedenken, wie andere Menschen auf die Tätowierungen reagieren könnten, hatte sie kaum – im Nachtleben, in Clubs, unter ihren Freundinnen und Freunden, sind die Tattoos kein Thema.

Tätowierungen sind für mich auch eine Art Maske, ein Versteck, ein Schutzpanzer, auch wenn sie so auffällig sind.

Jule alias Malena

"Ohne die Gesichtstattoos habe ich mich nicht komplett gefühlt. Auch wenn sich das vielleicht widersprüchlich anhört, aber die Tattoos sind für mich auch eine Art Maske, ein Versteck, ein Schutzpanzer, auch wenn sie so auffällig sind", erklärt sie.

Gemischte Reaktionen der "Außenwelt"

Im Alltag wird sie öfter auf ihre Tattoos angesprochen; mal ist das höflich-neugierig, mal abwertend: "Mensch, dein Gesicht ist doch so schön, muss das sein?" hört sie nicht selten. Darauf ist sie vorbereitet und weiß, wie sie solche Situationen auflösen kann.

Wer freundlich nachfrage, bekäme eine freundliche Antwort, sagt sie. Auch wenn sie sich nicht dauernd erklären müsste, sie kann das Interesse nachvollziehen. Wer ihr abwertend gegenübertritt, muss mit einer frechen Antwort rechnen.

Für Jule selbst steht fest: Sie mag sich und ihr Aussehen, ihre Erscheinung, das Tätowieren und Tätowiert-Werden – und fühlt sich seit ihren Tattoos endlich wohl(er) in ihrer Haut.

Doku-Tipp "FLAESH - Tattookultur in Deutschland"

Schmerz und Euphorie. Traditionelle Techniken und zeitgenössische Stile. FLAESH feiert die Bandbreite der Tattookultur in Deutschland: Das Handwerk, die Artists, ihre Kunst und die Community dahinter.

Die Doku-Reihe ist in der ARD Mediathek und auf ardkultur.de abrufbar.

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | artour | 22. Juni 2023 | 22:05 Uhr