Interview mit Axel Hemmerling und Ludwig Kendzia Reporter über Mafia in Erfurt: "Die kennen uns mittlerweile"

06. November 2016, 06:00 Uhr

Monatelang waren sie der Mafia in Erfurt und Thüringen auf der Spur: Die MDR-Reporter Axel Hemmerling und Ludwig Kendzia erzählen von den beschwerlichen Recherchen und wie es ist, im Geburtsort der größten Mafiaorganisation der Welt zu stehen.

Stadtpläne, Fotos, Steckbriefe und Facebook-Ausdrucke bedecken die Wände. Rote Bindfäden sind zwischen Abbildungen von Restaurants, Autokennzeichen und posenden Männern in einem Club gezogen. Im Büro der MDR-Reporter Axel Hemmerling und Ludwig Kendzia bekommt der Besucher das Gefühl, in einem FBI-Büro zu stehen. Und so weit hergeholt ist dieser Eindruck nicht. Es geht um organisierte Kriminalität, um die italienische und armenische Mafia in Erfurt und Thüringen. Die beiden Journalisten sind den Mafiosi seit Monaten auf der Spur. MDR THÜRINGEN hat sie zu den Recherchearbeiten befragt.

Wie kommt man so gut organisierten Kriminellen wie der Mafia auf die Spur?

Ludwig Kendzia: Der Auslöser war die Schießerei in Duisburg 2007, wo sechs Menschen vor einem Restaurant erschossen worden waren. Es war das erste Mal, dass die Existenz von mafiösen Strukturen in Deutschland richtig präsent wurde. Damals war in der Berichterstattung immer wieder die Rede davon, dass die italienische Mafia in Erfurt einen Rückzugsort habe. Vor etwa zwei Jahren haben wir uns die Frage gestellt: Was ist eigenlich daraus geworden? Gibt es diese Strukturen? Bei unseren Recherchen stießen wir auf einen Artikel in der "Frankfurter Rundschau" des Journalisten Fabio Ghelli. In dem war die Rede von einer "Erfurter Gruppe" innerhalb der kalabrischen Mafiaorganisation `Ndrangheta. Wir nahmen Kontakt mit Fabio auf und haben zusammen mit ihm die Recherchen weitergeführt.

Axel Hemmerling: Auf die armenische Mafia sind wir aufmerksam geworden, weil im Mai 2014 der Hinweis kam, dass sich die italienische Mafia in einem italienischen Restaurant in Erfurt trifft. Da haben wir uns dann auf den Weg gemacht und festgestellt, dass das gar keine Italiener waren, sondern Armenier. Das fanden wir eigenartig. Die Frage war: Was machen Armenier in einem italienischen Mafia-Lokal?

Ludwig Kendzia: Zu der Zeit hatten die Behörden die Armenier noch gar nicht richtig auf dem Schirm. Als dann im Juli 2014 die Schießerei der armenischen Mafia an der Erfurter Spielhalle stattfand, hatten wir schon so viel recherchiert, dass wir über das Umfeld der Armenier sogar besser informiert waren als die Polizei.

Wenn selbst die Polizei noch nicht vollständig informiert war, wie sind Sie an die Informationen über beide Organisationen rangekommen?

Ludwig Kendzia: Die Recherchen zur italienischen und armenischen Mafia liefen parallel. Angefangen haben wir auf Facebook. Sowohl die Armenier als auch die Italiener, besonders die Jüngeren, sind da sehr aktiv. Bei den Armeniern kam uns zugute, dass die sich gerne selbst darstellen und das "Gangster-Image" auch genießen.

Da erschienen auf Facebook dann immer wieder Fotos aus Clubs, Bars und Restaurants. Durch diese Fotos konnten wir viele der Männer identifizieren und vor allem die Locations, wo sie sich aufhalten. Wir sind dann regelmäßig, Tag und Nacht durch die Innenstadt gelaufen und haben diese ganzen Plätze "überwacht". Die ersten Monate bestanden nur aus rumlaufen, Fotos machen, so wiederum neue Personen registrieren und diese wiederum überprüfen. So haben wir Stück für Stück herausgefunden, welche Figur zu welchem Laden und welcher Gruppe gehört, wer sich mit wem trifft und wer welche Autos fährt.

Axel Hemmerling: Die Autos waren ganz entscheidend. Wir haben Hunderte Autokennzeichen fotografiert und versucht zuzuordnen, wem welches Auto gehört. So haben wir viele Bewegungsmuster herausbekommen können.

Ludwig Kendzia: Unsere Recherchen waren sehr langwierig und beschwerlich. Die ganze Geschichte bestand aus tausend winzigen Informationen, die wir Stück für Stück zusammensetzen mussten. Mit jedem neuen Hinweis haben sich die Strukturen ein bisschen mehr erhellt und wir haben nach und nach einen Überblick über das große System bekommen. Und wir sind uns durchaus bewusst, dass wir noch längst nicht alles wissen.

Zur Struktur der kalabrischen Mafia, der ‘Ndrangheta, gibt es schon zahlreiche Bücher, allerdings nicht zu der Erfurter Gruppe. Was haben Sie zu den Strukturen hier in Erfurt und ihren Verbindungen nach Italien herausgefunden?

Ludwig Kendzia: Bei den Italienern waren vor allem die Freundeslisten auf Facebook sehr interessant. Da kamen dann immer wieder die gleichen italienischen Nachnamen vor, die alle aus einem bekannten Mafia-Dorf in Kalabrien stammten. Die internationale Verknüpfung der Erfurter Gruppe konnten wir ebenso über Facebook, über die Bewegungsmuster durch die Ortungsdienste, ermitteln. Außerdem haben wir alle uns bekannten italienischen Restaurants in Erfurt durch Wirtschaftsdatenbanken gejagt und so etliche Verbindungen zu anderen Firmen und Restaurants bekommen, die uns dann wieder zu weiteren Unternehmen geführt haben. So konnten wir das Netzwerk aufdröseln. Entscheidend war auch, dass unser Kollege Fabio Ghelli in Rom vier große Restaurants gefunden hatte, die von Mitgliedern aus Erfurt gekauft wurden. Da fragt man sich schon, wie sich augenscheinlich kleine Thüringer Pizzabäcker millionenschwere Lokale in Rom leisten können?

Sind Sie der Spur nach Italien gefolgt?

Ludwig Kendzia: Als klar war, dass wir diesen Film machen, war auch schnell klar, dass wir nach Italien fahren. Wir mussten uns das vor Ort selber anschauen. In Italien haben wir uns mit einigen führenden Anti-Mafia-Ermittlern getroffen, die unsere Recherchen bestätigen und uns weitere Hintergrundinformationen geben konnten. Außerdem sind wir  ins "Herz der Finsternis" nach Kalabrien geflogen. Einige der größten Mafia-Familien leben immer noch in San Luca, einem kleinen Bergdorf mit fast 4.000 Einwohnern. Dort sind wir hingefahren. Es war ganz seltsam, in diesem kleinen, eher ärmlichen Dorf zu stehen, in dem die italienische Mafia vor etwa 200 Jahren als Organisation entstanden ist und von dem aus weite Teile des Kokainhandels weltweit organisiert werden.

Das klingt nicht gerade gemütlich. Haben Sie keine Angst nach der Ausstrahlung des Filmes, bedroht zu werden?

Axel Hemmerling:  Die Mitglieder beider Mafia-Organisationen werden höchstwahrscheinlich nicht begeistert sein, aber es wäre ein ziemlich hohes Risiko, uns zu bedrohen. So dumm sind die nicht. Die wissen ganz genau, dass die Polizei sie nach der Schießerei 2007 im Blick hat. Sobald es auch nur den kleinsten Hinweis auf eine Bedrohung gibt, ständen die sofort vor deren Tür.

Ludwig Kendzia: Worauf man sich bei einer solchen Recherche einstellen muss, sind die Versuche, juristisch gegen die Veröffentlichungen vorzugehen. So etwas passiert laufend.

Axel Hemmerling:  Wichtig ist, den Männern nicht das Gefühl zu geben, dass man sie nicht ernst nimmt, oder versucht sie zu täuschen. Wenn ich sie mit "Mensch, da ist die Mafia ja wieder!" begrüße, können sie darüber lachen. Aber gefährlich wird es, wenn man sie hintergeht und den Grund für bestimmte Nachfragen verheimlicht. Man muss ehrlich über den Grund der Recherche sprechen. In etwa so: "Wir denken, Ihr seid von der Mafia. Äußert Euch dazu." Und wenn sie es dann nicht tun, ist das ihr Problem.

Aus Italien hört man von anderen Reaktionen, wenn Journalisten über die Mafia berichten. Immerhin haben Sie es hier mit organisierter Kriminalität zu tun.

Axel Hemmerling: Ich sehe es nicht ein, mich ängstlich durch meine eigene Stadt zu bewegen. Die kennen uns ja mittlerweile, und wenn man sich auf der Straße begegnet, wird sogar gegrüßt.

Ludwig Kendzia: Man hat schon Respekt, aber keine Angst. Entscheidend ist, dass man die größtmögliche Transparenz herstellt. Je größer die Öffentlichkeit, desto besser ist man geschützt. Denn was diese Organisationen nicht wollen, ist Öffentlichkeit. Die wollen in Ruhe gelassen werden, um ihre Geschäfte zu tätigen. Die ‘Ndrangheta hat einen geschätzten Umsatz von 53 Milliarden Euro. Das ist vergleichbar mit Audi und Apple. Es ist illusorisch zu denken, dass wir da mit unserem Film großartig stören. Es ist uns viel wichtiger, dass den Leuten bewusst wird: Wir haben offenbar eine der größten Mafia-Organisationen der Welt in unserer Stadt. Damit ist Erfurt nicht die größte Verbrecherhochburg Deutschlands, aber hier existieren zwei relativ homogene und teilweise gewaltbereite Organisationen nebeneinander in einer Stadt mit 200.000 Einwohnern. Und bestimmt nicht nur als Rückzugsort, wo man sich versteckt. Erfurt ist ein aktives Operationsgebiet für die Mafia. Dieser Problematik muss sich die Kommune stellen.

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