Russland Golunow-Anwalt über das russische Rechtssystem

24. Juni 2019, 15:37 Uhr

Der Rechtsanwalt Dmitrij Dschulaj beschreibt das russische Justitzsystem als korrupt und nicht unabhängig. Oft würden Polizisten Unschuldige ins Gefängnis bringen, um eine vorgegebene Quote zu erfüllen oder um einen Kritiker loszuwerden. So im Fall des mittlerweile freigelassenen Journalisten Iwan Golunow, den Dschulaj verteidigt hat. Der Anwalt warnt davor, dass Russland den Europarat verlässt. Damit würde für seine Landsleute der Gang vor das Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg versperrt.

Die Parlamentarische Versammlung des Europarates soll am 24. Juni 2019 darüber entscheiden, ob die 2014 verhängten Sanktionen gegen die russische Delegation aufgehoben werden. Wegen der Annexion der Krim und Russlands Rolle im Krieg in der Ostukraine wurde Moskau sein Stimmrecht entzogen. Damit steckt der Europarat in einem Dilemma, denn einerseits könnte die Rückkehr der Russen in die Straßburger Versammlung die Glaubwürdigkeit der Institution beschädigen. Sollte Russland andererseits den Europarat verlassen, würde damit der Zugang zum Europäischen Menschenrechtsgerichtshof für die russischen Bürgerinnen und Bürger versperrt. "Das wäre ein großes Problem. Denn der Straßburger Menschenrechtsgerichtshof ist oft die einzige Chance auf Gerechtigkeit in Russland", warnt der Moskauer Rechtsanwalt Dmitrij Dschulaj. Der 31-Jährige hat den freigelassenen Investigativjournalisten Iwan Golunow verteidigt. Die Polizei hatte dem Reporter Drogen untergeschoben, um ihn wegen seiner Berichterstattung ins Gefängnis zu bringen.

Warum ist der Verbleib Russlands im Europarat wichtig für Sie und für die Menschen in Russland?

Der Straßburger Menschenrechtsgerichtshof ist oft die einzige Chance auf Gerechtigkeit in diesem Land. Denn die russischen Gerichte sind befangen – vor allem, wenn Polizisten oder die Machthaber selbst in Verbrechen involviert sind. Wenn jemand etwa bei einer politischen Demo von der Polizei festgenommen wird, ist sein Freispruch ein Ding der Unmöglichkeit. Der Anteil der Freisprüche bei Strafverfahren liegt in Russland bei 0,2 Prozent. Sollte es also zu so einem Verfahren kommen, hat ein Mensch so gut wie keine Chance, freigesprochen zu werden – selbst wenn er oder sie völlig unschuldig ist. Viele Leute, die in den russischen Straflagern sitzen, sind unschuldig.

Wie kann das sein?

Ein Freispruch würde doch bedeuten, dass diejenigen, die Fehler gemacht oder bewusst Beweise manipuliert haben, bestraft oder angeklagt werden müssten – Polizisten, Ermittler, Staatsanwälte oder Richter. Und das will hier keiner. Das System wehrt sich. Es verteidigt und schützt seine Leute. Deswegen ist das wichtigste Ziel für mich als Anwalt, dafür zu sorgen, dass es zu keinem Prozess kommt, dass das Gericht zusätzliche Ermittlungen anordnet. Dann habe ich als Anwalt eine Chance, die Sache zu Fall zu bringen. In meiner Praxis hat es solche Fälle gegeben. Manchmal sind die Fehler der Ermittler so gravierend, dass man sie nicht vertuschen kann.

Was sind die Herausforderungen für einen Rechtsanwalt in Russland?

Als ehemaliger Ermittler kann ich Ihnen sagen, dass das sogenannte Plansystem die Wurzel allen Übels ist. Dabei geht es um 'die Aufklärungsrate aus dem Vorjahr' – ein stehender Begriff bei der Polizei. Damit ist die Anzahl der aufgeklärten Straftaten gemeint. Die Polizeiführung verlangt, dass im laufenden Jahr mehr Straftaten aufgeklärt werden müssen als im Jahr zuvor. Und was wenn es keine Straftaten gibt? Deswegen wird manipuliert und geschummelt. Deswegen werden die Rechte der Festgenommenen verletzt. Aus diesem Grund habe ich nach sechs Jahren Arbeit meine Ermittler-Karriere beendet. Die Polizei in unserem Land hat damit angefangen, Ermittlungen wegen Kommentaren und Bildern in sozialen Netzwerken einzuleiten. Und wir mussten immer mehr Verfahren liefern, weil die Führung dies von uns verlangt hat. Das wollte ich nicht. Ich habe gekündigt.

Könnte ein Rechtsanwalt aus dem Ausland in Russland erfolgreich sein, wenn er sich perfekt mit den russischen Gesetzten auskennt?

Ich glaube, er würde scheitern. Denn die Gesetze sind in Russland nicht das oberste Gebot. Ich muss hier mit den Ermittlern manchmal verhandeln, Kompromisse schließen. Um meinen Mandanten zu helfen, muss ich manchmal auch die Polizisten aus dem Schlamassel ziehen, wenn sie zum Beispiel Beweismaterial gefälscht haben. Auch psychologische Aspekte spielen also eine wichtige Rolle bei dieser Arbeit. Die Richter bekommen hier die Urteile von oben per Telefon diktiert. Das Recht ist eine Verhandlungssache. Allerdings gibt es hier auch vernünftige Richter und Ermittler, echte Profis, die gewissenhaft arbeiten. Sie sind aber in der Minderheit.

Wie schützten Sie sich selbst?

Ich überlege ganz genau, was ich im Internet poste. Ich vertraue niemandem. In meiner Wohnung und in meinem Computer würde die Polizei bei einer Durchsuchung nichts Verdächtiges finden. Im Internet surfe ich mit VPN-Tools. Alle Telefongespräche werden bei mir automatisch aufgezeichnet. Ich habe immer ein Diktiergerät dabei. Und ich kenne die Telefonnummern von meinen Kolleginnen und Kollegen auswendig. Denn bei einer Festnahme wird einem das Handy weggenommen. 

Welche Veränderungen im Rechtssystem Russlands sind nötig?

Die Gerichte in Russland sollten unabhängig werden. Ich möchte auch, dass die Menschen in Russland keine Angst vor Polizisten haben. Der gesamte Bereich soll grundlegend reformiert werden. Das 'Plansystem' bei der Polizei sollte unbedingt beseitigt werden. Die Verbrecher unter den Polizisten sollten vom System nicht beschützt werden. Dazu fehlt jedoch der politische Wille. Ohne einen Befehl von ganz oben wird es keine Veränderungen geben.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | 16. Juni 2019 | 14:35 Uhr

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