Verkündigungssendung Das Wort zum Tag bei MDR SACHSEN vom 22. bis 28.08.2022

Täglich hören Sie das Wort zum Tag. Montags bis freitags gegen 5:45 Uhr und 8:50 Uhr, am Sonnabend gegen 8:50 Uhr, sonntags 7:45 Uhr. Das Wort zum Tag spricht in dieser Woche u.a. Elisabeth Muche.

Sonntag, 28.08.2022

Sonnabend, 27.08.2022: Ganz Mensch

An den Wochenenden helfe ich ab und zu in einem von Ehrenamtlichen geführten Café am Südfriedhof in Leipzig. Friedhofsbesucher kommen, Trauernde, Einsame und Leute, die an einem heißen Junitag auf dem Weg zum Völkerschlachtdenkmal einfach irrsinnigen Durst haben: "Do you have some water?" - "Habt ihr hier Wasser", fragt eine junge Frau. Das musst du machen, sagt meine Kollegin, ich kann kein Englisch. Also bringe ich der jungen Frau eine Apfelschorle und frage, ehrlich völlig arglos, wo sie herkomme. "Ukraine - Ukraine." Ich ärgere mich über mich selbst - dumme Frage, hätte ich mir doch denken, oder zumindest vorsichtiger fragen.

Ein Beschützerreflex in mir lässt nicht zu, dass ich die Frau mit dieser geteilten Information da alleine sitzen lasse und setze mich - etwas aufdringlich vielleicht - dazu. Sie komme aus Charkiw, wohne hier in Leipzig in einer WG, nette Leute, jetzt wolle sie zum Völkerschlachtdenkmal. Ich stutze innerlich - ein Kriegsdenkmal als Ausflugsziel, echt? - verkneife mir den Kommentar und frage lieber weiter. Ihre Familie lebe in russisch besetzten Gebieten im Süden der Ukraine. Nein, viel Kontakt habe sie nicht, das Internet sei meist tot. Zurück in die Ukraine? Sie sei Journalistin, beim Fernsehen. Vor oder hinter der Kamera? Vor der Kamera natürlich, noch eine blöde Frage. Jetzt lerne sie deutsch, um hier als Journalistin zu arbeiten. Oder so.

Während sie spricht, erzählen ihre Augen eine eigene Geschichte. Sie suchen einen Punkt zwischen den Bäumen, der irgendetwas erklärt. Und sie finden ihn nicht. Es hat alles Sinn ergebe: Ihr Leben in Kiew, ihre Karriere. Jetzt ergibt nichts mehr Sinn: Die Sonne nicht. Die Apfelschorle auch nicht. Ihr Leben hier in Leipzig. Dieses Gespräch - alles sinnlos, ziellos. Während ihre Augen diesen Punkt suchen.

Sie bedankt sich, zahlt und macht sich auf dem Weg zum Völkerschlachtdenkmal. Ich halte sie nicht auf - mein Beschützerinstinkt ist einem seufzenden Staunen gewichen: Sie hat alles verloren. Sie hat sich um nichts berauben lassen. Ganz Mensch. Ganz Person. Ganz am Leben.

Freitag, 26.08.2022: IM Christ

Als ich Kind war endeten unsere Familienfeiern immer gleich - zumindest in meiner Erinnerung: Man sprach über dies und das und über diesen und jenen und dann noch über den Nachbarn vom Cousin der Bäckerin aus dem Nachbardorf, wisst ihr, der so und so, wie heißt doch gleich seine Frau, bis mein Opa auf den Tisch haute: "Der war auch bei der Stasi."

Das beeindruckte mich. Und besorgte mich etwas. Wie es Opa wohl ging, auf dem Weg zu seinem Garten, auf dem Weg zum Bäcker, umgeben von Leuten, die mal "bei der Stasi" waren. Ich hatte, so glaube, ich, damals mit meinen 9/10 Jahren zwei Dinge verstanden: Diese "Stasi" war schon lange nichts bedrohliches mehr. Und: Die Stasi, das war früher etwas Bedrohliches gewesen, so bedrohlich, dass Opa bis heute nichts mit Leuten "von der Stasi" zu tun haben wollte.

Heute weiß ich zwei Dinge mehr: Nicht alle in unserem Dorf waren mal der Stasi. Das ist beruhigend. Und: Mein Opa lacht heute wieder, wenn er die alten Geschichten erzählt. Das ist noch beruhigender. Beruhigend, weil scheinbar mit der Zeit Bedrohliches an Kraft verliert, Narben sich schließen, ein Lächeln und ein Augenzwinkern siegt.

Letztens war wieder eine Familienfeier und irgendwann kamen wir, wie sollte es anders sein, auf die Stasi zu sprechen. Wie sie versucht haben, meinen Opa als IM, also als Inoffiziellen Mitarbeiter, zu gewinnen. Die ganze Familie steuerte Versatzstücke der Geschichte bei. Bis mein Opa wieder auf den Tisch haute - dieses Mal aber um den Stolz in seiner Stimme Nachdruck zu verleihen: Wisst ihr wie sich mich genannt hätten? - das hatte er in seiner Stasi-Akte gefunden -: "IM Christ."

Für Christen ist das witzig, denn zumindest idealtypisch ist jeder Christ inoffizieller Mitarbeiter von Christus, von Gott. Aber der Stolz in der Stimme meines Opas rührte woanders her, als wolle er sagen: "Sie haben’s verstanden. Sie haben’s erkannt. Wer ich wirklich bin und was mir wirklich wichtig ist."

Es ist schon paradox: Ein System, dass die Lüge provoziert, bringt so eine tiefe Gewissheit hervor: Das bin ich und das ist mir wichtig. Eine Gewissheit, die ein Lächeln und ein Augenzwinkern überhaupt erst möglich macht: Da bin ich, das ist mir wichtig, uns das kann mir keiner nehmen.

Das Wort zum Tag spricht in dieser Woche:

Kurzbiografie Dr. Harald Lamprecht

Dr. Harald Lamprecht

geboren 1970 in Dresden | verheiratet, drei Kinder | 1990 Theologiestudium in Leipzig, Göttingen und Halle | 1996 Wiss. Mitarbeiter am Institut für Ökumenik, Konfessionskunde und Religionswissenschaft der Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg | 1999 Beauftragter für Weltanschauungs- und Sektenfragen der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens und Geschäftsführer des Evangelischen Bundes, Landesverband Sachsen

MDR SACHSEN - Das Sachsenradio Elisabeth Muche

Elisabeth Muche

Leiterin der Kontaktstelle für Lebens- und Glaubensfragen der katholischen Kirche in Leipzig. Ordensschwester in der Kongregation der Helferinnen.

Geboren am 11.06.1990 in Chemnitz | Aufgewachsen in Chemnitz| Journalistische Ausbildung am Institut für publizistische Nachwuchsförderung (ifp) 2011-2013 | Studium der Psychologie in Leipzig 2011 - 2016 | Ignatianische Ordensausbildung in Cergy, Frankreich und Wien, Österreich 2017 - 2019 | Erstprofess 2019 | seit September 2019 in der Leitung der Kontaktstelle in Leipzig

Verantwortlich für Verkündigungssendungen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk wie das Wort zum Tag...

... sind die Senderbeauftragten der evangelischen Landeskirchen, der evangelischen Freikirchen bzw. der römisch-katholischen Kirche.