Diskussionsveranstaltung im Rahmen des ARD-Forums anlässlich des Lesefestes „Leipzig liest“ am 26.05.2021 Im Bild: MDR-Intendantin Prof. Dr. Karola Wille
MDR-Intendantin Karola Wille bei einer Diskussionsveranstaltung im Rahmen des ARD-Forums anlässlich des Lesefestes Leipzig  Bildrechte: MDR/Hagen Wolf

Reform von ARD und ZDF Wie Kultur uns einen kann

01. Juni 2021, 13:59 Uhr

Wer fragt, in welche Richtung sich ARD und ZDF entwickeln sollen, findet die Antwort in der Vernetzung: Wir stiften Gemeinsinn und bauen Brücken.

Wie der öffentlich-rechtliche Rundfunk junge Menschen erreichen kann? Man möge doch die Fernseher künftig hochkant stellen, so Prof. Christian Zöllner von der Kunsthochschule Burg Giebichenstein. Er ist zugleich Miterfinder des fabmobil, ein fahrendes Kunst- und Zukunftslabor für die Oberlausitz. Ein mit Digitaltechnik und Werkzeugmaschinen ausgestatteter Doppeldeckerbus für junge Menschen im ländlichen Raum, die Kultur vor allem auf dem Smartphone konsumierten, erklärt Zöllner. An die Öffentlich-Rechtlichen habe er dabei noch nie als Partner gedacht, so der fabmobil-Erfinder anlässlich eines Werkstattgesprächs zum Thema "Unser kultureller Gemeinwohlbeitrag im Wandel?" mit Vertreterinnen und Vertretern aus Gesellschaft, Politik, Kultur, ARD, ORF, ZDF,DLR und Arte in Leipzig in dieser Woche.

Es geht um Verständnis des gesellschaftlichen Wertbeitrages

Dabei liegt gerade in solchen Netzwerken ein riesiges, noch zu wenig erschlossenes Potential. Die Pandemie ist in Teilen auch kreativer Treiber nicht zuletzt in einer intensiven Debatte um den Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Es geht um das Verständnis des gesellschaftlichen Wertbeitrages bei den Bürgerinnen und Bürgern, in der Politik und natürlich in den Medienhäusern selbst.

Grund genug, Kritik ernst zu nehmen. Etwa die grundsätzliche Frage des früheren Politikers und streitbaren Publizisten Gerhart Baum an dieser Stelle (FAZ vom 16. April 2021), ob den Verantwortlichen in den öffentlich-rechtlichen Sendern die Rolle von Kultur und Kunst für die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft bewusst genug sei.

Kultur in ihrer Vielfalt immer wieder neu erschließen

Kultur ist untrennbarer Bestandteil des öffentlich-rechtlichen Auftrags. Ich sage: Es gilt, sie immer wieder in ihrer Vielfalt neu zu erschließen, in ihrer Zeit abzubilden und dem kreativen Prozess bestehende sowie neue Freiräume zu bieten.

#wirsindbuchmesse – lautet etwa gerade in diesen Tagen das klare Bekenntnis der ARD. Pandemiebedingt nicht auf der Buchmesse sondern als digitale Bühne vielfältige literarische Gespräche. Wir begleiten Gedichte mit Graphik Recording, als Lyrik im Webformat mit leichten und spitzen Strichen und setzen literarische Schwerpunkte im Radio und Fernsehen sowie in Mediathek und Audiothek.

Kultur als kritisches Korrektiv in streitbaren Zeiten

Klar ist schon jetzt: Diese Krise und ihre Folgen lassen sich nicht nur finanziell bewältigen. Wir brauchen Literatur, Musik, Tanz, bildende Kunst als brückenbauende Diplomaten, als kritisches Korrektiv in streitbaren Zeiten.

"Kunst ist unverzichtbar in der Auseinandersetzung mit existenziellen Fragen des Menschseins – auch und gerade in Zeiten, in denen Gewissheiten brüchig werden und gesellschaftliche Fundamente sich als fragil erweisen", schrieb die Kulturbeauftragte des Bundes, Monika Grütters, vor einem Jahr im "Tagesspiegel".

Die Freiheit der Kunst hat ebenso wie die Freiheit der Medien und die Freiheit der Meinung Verfassungsrang. Wichtig gerade in einer Zeit, in denen andere Freiheitsrechte für den Infektionsschutz eingeschränkt werden.

Chancen und Möglichkeiten liegen im Digitalen

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk sah sich von Beginn an in der Verantwortung, pandemietaugliche Formen für neue, digitale Kulturinhalte zu entwickeln und die Menschen über mediale Brücken zu verbinden. Von der Aktion des NDR "Kultur trotz Corona", über die virtuelle Literaturplattform des HR bis zum Instagramangebot des WDR "Alleinimmuseum" – überall in der ARD entstanden innovative kulturelle Angebote, die zeigen, welche gemeinschaftsbildenden Möglichkeiten im Digitalen liegen und welche Chancen sich bieten, wenn wir Kultur dialogisch-partizipativ und mit Hilfe sich ständig fortentwickelnder technischer Möglichkeiten weiterdenken.

Gemeinschaftliches digitales Kulturangebot als Folge der Pandemie

Beinahe folgerichtig traf die ARD in dieser Pandemiezeit auch die Entscheidung, unter Federführung des MDR eine digitale Gemeinschaftseinrichtung für Kultur zu schaffen - ein öffentlicher Raum für kulturelle Interaktion und eine digitale Heimat für die Kulturschaffenden und ihr vielfältiges Publikum.

Und es ist zudem - mit der geplanten Vernetzung und Verlinkung zu Angeboten des ZDF und Deutschlandradio – als ein vernetztes öffentlich-rechtliches kulturelles Gesamtangebot konzipiert. Mit der ausgebliebenen Beitragserhöhung verzögert sich zunächst der Start dieses neuen gemeinschaftlichen digitalen Kulturangebots.

Die vielgestaltigen neuen Erfahrungen in der Pandemiezeit ermutigen uns nun, das Gemeinschaftsangebot noch stärker als verbindendes Kultur-Netzwerk zu konzipieren. Als einen multimedialen öffentlich(-rechtlich)en (Experimentier-)Raum ergänzend zu den bestehenden starken linearen Kulturangeboten wie etwa den Kulturwellen der ARD. Gemeinsam wollen wir einen kraftvollen kulturellen Neustart mitbefördern und unseren kulturellen Auftrag stärken.

Partizipation und Dialog sind nicht Beiwerk

Dafür braucht es starke Partnerschaften und neue Netzwerke mit der vielfältigen deutschen Kreativszene genauso wie den großen Kulturinstitutionen und mit unserem Publikum – oder vielmehr den diversen Publika, denen sich durch digitale Formate ganz neue Interaktionsmöglichkeiten eröffnen. Partizipation und Dialog sind nicht Beiwerk sondern Bedingung einer neuen gemeinsamen Definition von kultureller Teilhabe.

Wir müssen die digitalen Möglichkeiten für gesellschaftlich Relevantes nutzen. Nicht spalten und ausgrenzen, sondern Vielfalt zusammenführen, Diskursräume nicht verengen, Diskurskultur fördern, auch das ist heute Teil eines gemeinwohlorientierten Kulturauftrages.

Immer mehr Projekte in der ARD

Den Wert von Kooperation etwa mit kulturellen Bildungspartnern beweist das Grimme Preis-nominierte Augmented Reality-Angebot des BR "Die Befreiung". Digitales Storytelling ermöglicht hier eine neue Form der Erinnerungskultur – eindrückliche Bilder aus dem KZ Dachau kombiniert mit persönlichen Geschichten auf der Tonspur.

Ein Leuchtturmprojekt, ohne Frage – aber eines von immer mehr in der ARD, die eine wachsende Strahlkraft entwickeln. Dabei geht es auch um eine Vernetzung von digital und linear – traditionellen Kulturwellen etwa und neuen digitalen Räumen.

Wir wollen Treiber für Kulturinnovationen sein

Wir wollen ausdrücklich Treiber für Kulturinnovationen sein und haben den Anspruch, mit attraktiven Darstellungs- und Interaktionsformen auch neue, bisher wenig oder nicht erreichte gesellschaftliche Gruppen anzusprechen. Wie bereichernd das sein kann, haben wir im MDR mit etlichen Sonderprojekten in der Pandemiezeit erlebt.

Eine Kooperation zwischen Bachfest und MDR versammelte z.B. die internationale Bach-Community Ostern 2020 in einem einzigartigen Konzertprojekt nicht nur am Grab des Komponisten in Leipzig sondern per Video-Livestream, ARD-Mediathek und Arte Concert in Wohnzimmern weltweit zum Mitsingen.

Kulturauftrag in der digitalen Welt neu denken

Entscheidend ist bei allen Ideen die Frage, was davon das Wir-Gefühl in der Gesellschaft stärken und einen lebendigen Austausch anregen kann -  kurz gesagt: kann Kultur uns einen?

Wie wir zusammenleben und miteinander umgehen, auch das macht Kultur aus. Es geht eben auch um Diskurskultur. Die schwierige Aufgabe: Unseren Kulturauftrag in der digitalen Welt neu denken. Dazu gehört zweifellos eine vielfältige Kultur- und Klassikthemenwelt in der Mediathek bzw. der Audiothek – jederzeit für jeden frei zugänglich. Dazu gehört aber noch mehr – die digitalen Möglichkeiten hinsichtlich Gestaltungsformen, Dialog und Partizipation auszuloten.

Kultur findet in Räumen statt

Mir gefällt der Denkansatz, dass kulturelles Leben in Räumen stattfindet. Das kann der Konzertsaal oder die Galerie sein, das kann aber auch der Steinkreis von Stonehenge, eine Industriebrache, das fabmobil in der Lausitz sein. Oder neuerdings eben auch ein virtueller Raum: eine Videokonferenz, ein weltumspannendes Benefizkonzert aus –zig Räumen gleichzeitig, die Langzeitbeobachtung einer Webcam oder auch der virtuell für jeden in der Gesellschaft ermöglichte Museumsbesuch.

Analoge und digitale Kultur sind die zwei Seiten einer Medaille. Wichtig scheint mir, dass sich Menschen im Kulturraum begegnen, Wissen und Erfahrungen austauschen, interagieren, Visionen entwickeln für das, was die Gesellschaft im Innersten zusammenhält und Sinn stiftet. Ein digitales Zuhause, um Kultur zu ermöglichen, aber auch Innovation zu befördern, ein Netzwerk über kulturelle Grenzen hinweg aufzubauen.

Kulturelles Netzwerk als Beitrag zu mehr Gemeinsinn

Ein gemeinsames kulturelles Netzwerk kann die vom Bundesverfassungsgericht angemahnte Funktion des öffentlich-rechtlichen Rundfunks für die Gesellschaft, für Kunstschaffende ebenso wie für Kulturinteressierte, stärken und einen Beitrag zu mehr Gemeinsinn leisten. Mein ZDF-Kollege Thomas Bellut beschrieb unser gemeinsames Ziel zuletzt sehr konkret "So wäre es möglich, die Kulturschätze der ARD, beispielsweise im Bereich der Musik, mit unserem Know-how bei virtuellen Ausstellungen zu verbinden."

Mit diesem Angebot, so steht es auch schon im "Leipziger Impuls" des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland, Österreich und der Schweiz, sichern wir durch Netzwerke ein starkes Gemeinwohl-Rückgrat auch in Zeiten großer gesellschaftlicher Unsicherheit.

Kritisch reflektierende und selbstbewusste Auftragsdiskussion führen

Die intensive Diskussion mit der Kulturwelt verstärkt meine Überzeugung, dass wir eine kritisch reflektierende aber auch selbstbewusste Auftragsdiskussion zugleich führen können.

Denn ein öffentlich-rechtliches Kulturnetzwerk, das dem Schaffen der Kreativen Frei-Raum schafft, den Horizont herkömmlicher Plattformen ausweitet, den Diskurs darüber fordert und fördert, Inhalte nicht nur vermittelt, sondern gemeinsam mit Künstlerinnen und Künstlern auch produziert, Widerspruch erzeugt und aushält, Kooperation anstiftet, ausgetretene Pfade verlässt und neue Wege wagt, ist für eine freiheitliche und offene Mediengesellschaft notwendiger denn je. Auch und erst recht in Zeiten ohne Pandemie.