Hirnforschung Mit Bildern vom Gehirn sechs Arten von Depressionen unterscheiden
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17. Juni 2024, 15:39 Uhr
Eine Forschungsgruppe der kalifornischen Stanford University hat sechs verschiedene Arten von Depressionen identifiziert. In Zukunft könnten MRT-Bilder vom Gehirn helfen, die beste Behandlungsmethode zu ermitteln.
Bildgebende Verfahren des Gehirns in Kombination mit maschinellem Lernen können verschiedene Arten von Depressionen und Angstzuständen erkennen. Zu diesem Schluss kommt eine aufwändige Studie aus den USA. Demnach können Depressionen in sechs verschiedene "Biotypen" eingeteilt werden, die unterschiedliche MRT-Bilder aufweisen. Je nach Biotyp haben dann verschiedene Behandlungsformen (Medikamente, Gesprächstherapie) mehr oder weniger Aussicht auf Erfolg.
Leanne Williams, Hauptautorin der Studie, ist Professorin für Psychiatrie und Verhaltenswissenschaften in Stanford. Sie selbst hat ihren Partner 2015 durch eine Depression verloren und sagt, bessere abgestimmte Methoden zur Behandlung von Patienten seien dringend erforderlich. Etwa 30 Prozent der Betroffenen litten an einer sogenannten "behandlungsresistenten" Depression, ihre Symptome verbesserten sich also nicht. Und bei bis zu zwei Dritteln der Menschen mit Depressionen gelinge es der Behandlung nicht, die Symptome vollständig auf ein gesundes Maß zurückzuführen.
Laut Williams liegt das zum Teil daran, dass man bislang nur schwer herausbekommen kann, welches Antidepressivum oder welche Art von Therapie einem bestimmten Patienten am besten hilft. Medikamente, so Williams, werden nach dem Prinzip "Versuch und Irrtum" verschrieben, so dass es Monate oder Jahre dauern kann, bis ein Mittel gefunden wird, das wirkt – wenn überhaupt. "Es ist sehr frustrierend, auf dem Gebiet der Depression tätig zu sein und keine bessere Alternative zu diesem Pauschalansatz zu haben", sagt Leanne Williams. "Das Ziel unserer Arbeit ist es, herauszufinden, wie wir es gleich beim ersten Mal richtig machen können."
Depressionen: Biotypen können Behandlungserfolg voraussagen
Um besser zu verstehen, was im Gehirn von Menschen mit Depressionen oder Angstzuständen vor sich geht, untersuchten Williams und ihre Kollegen 801 Studienteilnehmer, die zuvor eine entsprechende Diagnose erhalten hatten, mittels Magnetresonanztomographie (MRT). Sie betrachteten die Gehirne der Freiwilligen im Ruhezustand und auch bei verschiedenen Aufgaben, mit denen ihre kognitiven und emotionalen Fähigkeiten getestet werden sollten. Die Wissenschaftler konzentrierten sich auf Hirnregionen und Verbindungen dazwischen, von denen bereits bekannt war, dass sie bei Depressionen eine Rolle spielen. Mithilfe eines maschinellen Lernverfahrens, der so genannten Clusteranalyse, gruppierten sie die Hirnbilder der Patienten und identifizierten sechs verschiedene typische Aktivitätsmuster in den untersuchten Hirnregionen.
Spannendste Frage war dann aber, ob diese identifizierten Biotypen auch unterschiedlich auf verschiedene Behandlungen ansprechen. Und tatsächlich gab es da zumindest bei drei der sechs Gruppen signifikante Ergebnisse. Patienten mit einem Subtyp, der durch eine Überaktivität in den kognitiven Regionen des Gehirns gekennzeichnet ist, sprachen am besten auf das Antidpressivum Venlafaxin (auch bekannt als Effexor) an. Für eine zweite Gruppe wiederum, deren Gehirne im Ruhezustand höhere Aktivitätswerte in drei Regionen aufwiesen, die mit Depression und Problemlösung in Verbindung gebracht werden, brachten therapeutische Gespräche eindeutig am meisten Linderung. Und bei Patienten mit einem dritten Subtyp, die im Ruhezustand niedrigere Aktivitätswerte in dem Hirnschaltkreis aufwiesen, der die Aufmerksamkeit steuert, war zu beobachten, dass Gesprächstherapien deutlich weniger nützten als in allen anderen Gruppen.
"Unseres Wissens ist dies das erste Mal, dass gezeigt werden konnte, dass Depressionen durch verschiedene Störungen der Gehirnfunktion erklärt werden können", sagt Studienleiterin Leanne Williams. "Im Wesentlichen ist es eine Demonstration eines personalisierten medizinischen Ansatzes für die psychische Gesundheit, der auf objektiven Messungen der Gehirnfunktion basiert."
Fast 20 Millionen Dollar Zuschuss für Forschung zur Diagnose und Behandlung von Depressionen
Die neue Studie mit ihren Erkenntnissen hat laut der Forschungsgruppe noch eine große Schwäche: Um den jeweiligen Biotyp zu bestimmen, sind MRT-Aufnahmen des Gehirns sowohl im Ruhezustand, als auch während kognitiver Aufgaben nötig. Das bei jedem einzelnen Patienten zu machen, ist aufwändig, teuer und aus Kapazitätsgründen oft nicht möglich. Die Autoren sehen ihre Arbeit deshalb auch "nur" als einen weiteren Schritt auf dem Weg zu besserer Diagnose und Behandlung von Depressionen an. Die gute Nachricht für die Forscher aus Stanford: In den kommenden fünf Jahren stehen Leanne Williams und ihrem Team zusätzliche 18,86 Millionen US-Dollar zur Verfügung.
Die Forscher planen die Entwicklung eines Instruments, das beim ersten Auftreten einer schweren Depression – oder so früh wie möglich nach der Diagnose – eingesetzt werden kann, um die spezifische Art der Depression (Biotyp) zu bestimmen, personalisierte Vorhersagen zu treffen und die Behandlungsentscheidungen eines Hausarztes oder eines Facharztes zu unterstützen. Die Forscher gehen davon aus, dass sie das Instrument mit Hilfe von maschinellem Lernen und künstlicher Intelligenz weiterentwickeln werden, um so bedeutende Fortschritte bei der individualisierten psychiatrischen Behandlung und Risikovorhersage zu erzielen.
"Indem wir eine klinische kognitive Signatur zur Personalisierung von Behandlungen vorantreiben, sprechen wir ein dringendes öffentliches Bedürfnis an", sagt Williams. "Mit unserem Projekt wollen wir individualisierte, hirnbasierte Bewertungen in großem Maßstab entwickeln, um die klinische Entscheidungsfindung zu verbessern und die Ergebnisse für Millionen von Menschen, die weltweit von Depressionen betroffen sind, zu optimieren."
Links/Studien
Die Studie "Personalized brain circuit scores identify clinically distinct biotypes in depression and anxiety" ist im Fachjournal "Nature Medicine" erschienen.
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | 12. Juni 2024 | 08:33 Uhr