Kolumne: Das Altpapier am 10. Juni 2024: Porträt des Altpapier-Autoren Klaus Raab 5 min
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Die Öffentlich-Rechtlichen müssen öffentlich-rechtlicher werden, findet der Zukunftsrat – und beharrt auf seinem Vorschlag, die ARD-Anstalten bräuchten eine Leitung.

Mo 10.06.2024 12:05Uhr 05:16 min

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Kolumne: Das Altpapier am 10. Juni 2024 Reine Koordination bedeutet Schneckentempo

10. Juni 2024, 10:30 Uhr

Die Öffentlich-Rechtlichen müssen öffentlich-rechtlicher werden, findet der Zukunftsrat – und beharrt auf seinem Vorschlag, die ARD-Anstalten bräuchten eine Leitung. Das deutsche Europawahlfernsehen war sehr hauptstädtisch. Und den WDR zieht es nach Karlsruhe. Heute kommentiert Klaus Raab die Medienberichterstattung.

Porträt des Altpapier-Autoren Klaus Raab
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Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Zukunftsrat will immer noch eine ARD-Leitung

Experteninterviews oder Gastbeiträge über die Reformen der Öffentlich-Rechtlichen können fad sein. Jemand, der von Menschen gewählt werden will, die sich über ein satirisch umgetextetes Kinderlied aufzuregen bereit sind, sagt, dass die Beiträge nicht erhöht werden dürfen. Jemand aus der Verlegerlobby bringt vor, dass die nicht beitragsfinanzierten Verlage gegen das ganze Zeug im Internet mit ihrem Journalismus nicht ankommen, weil die Öffentlich-Rechtlichen auch welchen machen (Abo-Gastbeitrag aus der "SZ", Zusammenfassung von Forderungen bei welt.de). Jemand aus der Intendantinnen- und Intendantenriege der ARD würde ja gern alles anmutig durchreformieren, aber diese Politik!

Das Doppelinterview, das am Samstag in der "Süddeutschen Zeitung" (Abo) erschienen ist, ist nicht fad. Claudia Tieschky hat es mit zwei Mitgliedern des im Frühjahr 2023 berufenen "Zukunftsrats" geführt, der der Medienpolitik nicht bindende Vorschläge unterbreitet: mit dem früheren Generaldirektor des Schweizer öffentlich-rechtlichen Rundfunks, Roger de Weck, und der ehemaligen Chefin des Verlags Gruner+Jahr, Julia Jäkel.

Gut daran ist: dass darin so gut wie alles, was die unbestritten notwendigen Reformen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks erschwert, durchgequirlt wird. Zum ersten der Föderalismus ("entwickelt sich Föderalismus nicht mehr fort, wird er zu Zement"). Zum zweiten das Verfahren, nach dem der von der KEF errechnete Rundfunkbeitrag von allen Landtagen bestätigt werden muss ("Ein Verfahren, das ursprünglich entpolitisierte, nährt heute eine hochpolitische Debatte"). Zum dritten die Öffentlich-Rechtlichen – hier vornehmlich Herrschaften aus den Anzugetagen –, mit Zitaten, die sich für Social-Media-Kacheln eignen würden, wenn Social-Media-Kacheln nicht so würdelos wären. Hier drei Zitate zur allgemeinen Freude:

  • "Öffentliche Medienhäuser haben die bewusst eingeräumte Freiheit, sich nicht nach zahlenden Usern und der Werbeindustrie ausrichten zu müssen. Sie können – und wir finden, müssen! – ihre Freiheit dafür nutzen, ihre Programme unterscheidbarer zu machen: voneinander, aber besonders von den Privaten. Dafür braucht keine Anstalt auf die Politik zu warten, damit können sie heute beginnen."
  • "Die Öffentlich-Rechtlichen müssen öffentlich-rechtlicher werden".
  • "Da ist ein Gefüge mit einem Etat von zehn Milliarden Euro, trotzdem sind fast alle frustriert."

Und zum vierten die Sparmaßnehmerinnen und -nehmer aus einigen Staatskanzleien, Marktwirtschaften und politischen Umfeldern. Es verbreite sich, sagt Julia Jäkel, "eine Bierzeltdenke, und die versteht unter 'Reformen': Wir holzen das ganze Ding klein oder wir privatisieren etwa das ZDF." Weil Jäkel keine Namen nennt – wir helfen gern. Erst jüngst war’s der über die FAZIT-Stiftung einst der "FAZ" verbundene Ökonom Justus Haucap (Altpapier). Und als die "FAZ" kürzlich seine gebrauchte Idee vorstellte, schrieb sie: "Die Anregung, das ZDF zu privatisieren, kam über die Jahre immer mal wieder von der FDP. Der Vorschlag des Zukunftsrats wiederum, eine ARD-Holding zu bilden, ist unter den Ländern kein Thema mehr."

Diese Ablehnung der vorgeschlagenen "ARD-Holding" könnte auch ein Anlass für das "SZ"-Interview mit de Weck und Jäkel gewesen sein. Zur Erinnerung an alle, die nicht jede medienpolitische Umdrehung auswendig parat haben: Der Zukunftsrat schlug vor, der ARD quasi eine weitere schlanke Anstalt hinzuzufügen, die dann die Häuser so koordinieren soll, dass am Ende weniger Vielfachstruktur in der ARD steckt (Altpapier vom Januar). Die Länder äußerten sich dazu zurückhaltend (anderes Altpapier vom Januar). Also wiederholt der Zukunftsrat nun mit größerer Wucht nochmal seinen Vorschlag. Oder wie die "SZ" es formuliert: Er "schlägt Alarm". Was merkwürdige Superlative impliziert, etwa die ARD als "größte Arbeitsgemeinschaft der Welt". Roger de Weck:

"Die ARD ist die größte Arbeitsgemeinschaft der Welt, mit einem Milliardenbudget und keiner Strategie, keiner Gesamtleitung, keinem Gremium, das die Verantwortung fürs Ganze trägt. Das darf nicht sein. Zudem herrscht Intransparenz. Jede Landesrundfunkanstalt hat ihren Freiraum, den sie vor den Blicken der anderen Anstalten schützt. In einer ARD mit einer Leitung und einheitlicher Rechnungslegung würde allein schon Transparenz für mehr Effizienz sorgen."

Und dann nochmal: "Dieser Vorschlag ist grundlegend. Die ARD braucht eine Leitung." Und Jäkel: "Wir meinen damit keine riesige 'Zentrale', sondern eine schlanke, inspirierte Geschäftsleitung, die für Organisation sorgt. Reine Koordination bedeutet Schneckentempo."

So, und jetzt dann wieder die koordinierte föderale Medienpolitik.

Die Talks schmoren im eigenen Saft

Am Sonntag wurde gewählt. In einigen Bundesländern (Thüringen etwa war medienjournalistisch bei "Übermedien" Thema) und vor allem – tendenziell noch wichtiger – in der EU. In Deutschland aber wurde im Vorfeld und sogar am Abend der Europawahl vor allem gesprochen über: Deutschland. Im ARD-Videotext wurde das Europawahlprogramm am Sonntagabend angekündigt mit dem Satz: "Die Europawahl gilt als wichtiger Stimmungstest für die deutsche Parteienlandschaft." In den Wahlsendungen wurden deutsche Spitzenkandidatinnen und -kandidaten befragt. Deutsche Ergebnisse mit Abstand am ausführlichsten analysiert. Bettina Schausten fragte sogar an diesem Abend Markus Söder, wer nun Kanzlerkandidat der Union werde, hier meine spiegel.de-Kritik (Abo) zum Wahlritualfernsehen.

Und in deutschen Talkshows saßen, wenn es mal ausnahmsweise um Europa ging, deutschsprachige Gäste, die europäische Themen durch deutsche Brillen betrachteten. Es ging um Deutschlands Sicherheit, Deutschlands Waffenlieferungen, Deutschlands Diskursverrohung, Deutschlands Migrationspolitik nach Mannheim, und dass Letztere in der "Phoenix Runde" unter der Überschrift "Migrationsfrage ungelöst – Wie wählt Europa?" diskutiert wurde, änderte auch wenig daran, dass es sich dabei um einen ziemlich deutschen Talk handelte.

Europäische Perspektiven? Gab es natürlich schon, klar – im BR-Magazin "Euroblick" etwa oder in einer ARD-Dokumentation von Markus Preiß, den Peer Schader in seiner dwdl.de-Kolumne als einen der "kompetentesten Erklärer" der EU lobt. Aber schon in der Doku von Louis Klamroth, der ein wenig herumreisen durfte, wurden zwecks europäischer Perspektiven prominent ein deutscher Abgeordneter in Brüssel und ein deutscher Kunsthistoriker in Italien vorgezeigt.

Wer sich fragt, wo die europäische Öffentlichkeit ist, deren Fehlen seit Jahrzehnten beklagt wird: In den im eigenen Saft schmorenden öffentlich-rechtlichen Fernsehtalks ist sie jedenfalls nicht. Sie leisteten auch keinen Versuch zu ihrer Herstellung; ungarische, schwedische, portugiesische, griechische oder polnische Perspektiven fanden nicht statt. Und darüber hinaus im öffentlich-rechtlichen Fernsehen wird sie auch nicht prominent bedient. Nochmal Peer Schader:

"Wenn Europa von so zentraler Bedeutung ist, warum sieht man das dem Programm des Ersten nicht auch außerhalb von Wahlzeiten viel stärker an?"

Eine Rundfunkfrage, die über die Europawahl hinausweist

Als Format darf die "ARD-Wahlarena", in der sich am Donnerstagabend die Spitzenleute deutscher Parteien präsentierten, als etwas umstritten gelten. "Munter durcheinander" fand tagesspiegel.de (Abo) das Geschehen. Einen "Erkenntnisgewinn in überschaubaren Grenzen" errechnete spiegel.de (Abo). "Wofür die hier vertretenen Parteien bei der Europawahl stehen, das machte die 'Arena' mitnichten klar", schrieb die "FAZ" am Samstag (Abo). Ich würde mal zusätzlich noch "chaotische Grütze" anbieten. Zu viele Leute, zu viele Fragen in eineinhalb Stunden, zu wenig Struktur.

Die Idee immerhin lobte die "Süddeutsche" (Abo): "Eine Sendung wie die ARD-Wahlarena gehört zu den öffentlich-rechtlichen Tugenden", schrieb Aurelie von Blazekovic darin am Samstag. Aber ihr Text war keine Rezension; es ging darin um die Gerichtsstreitigkeiten, die es rund um die Sendung gegeben hatte. Und die in ihrer Bedeutung über die Europawahl hinausweisen. Das Bündnis Sahra Wagenknecht hatte sich erfolgreich eingeklagt (Altpapierkorb vom Donnerstag). Der WDR sieht nun, so wird ein Sprecher in der "SZ" zitiert, "grundsätzlichen Klärungsbedarf, was die abgestufte Chancengleichheit angeht", derzufolge Parteien von den öffentlich-rechtlichen Sendern in Wahlsendungen entsprechend ihrer Wahlchancen behandelt werden müssen.

"Nach Auffassung des WDR ist die Chancengleichheit auch dann gewahrt, wenn eine Partei nicht ins journalistische Konzept einer Sendung passt und deshalb in eine konkrete Sendung nicht eingeladen wird, im Gesamtprogrammangebot aber angemessen berücksichtigt ist." So argumentiert der WDR – und bemüht jetzt wohl das Bundesverfassungsgericht. Christian Meier empfiehlt in der "Welt" zwar, das zu lassen, weil ein solcher Schritt gemessen an Aufwand und Kosten von außen betrachtet "maßlos" wirke. Aber Stand heute will der WDR trotzdem klären, was künftig Phase ist in Sachen RUNDFUNKFREIHEIT im Wahlfernsehen. Sorry, da klemmte jetzt wohl die Feststelltaste. Zufälligerweise beim entscheidenden Wort.


Altpapierkorb (EU-Berichterstattung, TikTok, Frank Schirrmacher, Wagenknecht-Doku, Initiative "Alles sagen")

+++ Dass es mal europäische Fernsehdebatten gab, daran erinnerte vor der Wahl der ehemalige ZDF-Chefredakteur Peter Frey in einer Deutschlandfunk-Kolumne. Er tat sich mit dem Erinnern wohl auch deswegen leicht, weil er selbst "Duelle" zwischen europäischen Spitzenkandidaten moderiert hatte. Er kritisiert sinngemäß, dass die EU selbst zumindest mitverantwortlich dafür sei, dass Europa nicht ausreichend im journalistischen Diskurs stattfinde. Etwa weil Ursula von der Leyen "ganz ohne öffentliche Debatte Kommissionschefin wurde" und nicht der damalige Spitzenkandidat. "Ich erzähle das als Beleg dafür, wie schwierig es ist, über Europa zu berichten", schreibt er. Man frage sich "beim Blick auf die Wahlplakate, worum geht es eigentlich? Wenn sich da Scholz und Merz an der Seite ihrer Spitzenkandidatinnen zeigen, geht es dann um eine Richtungsentscheidung für die EU oder um einen innenpolitischen Stimmungstest?" Die exakt selbe Frage kann man aber nicht nur den Plakaten, sondern auch den Talks stellen.

+++ "Wie gefährlich ist TikTok?", fragt der "Spiegel" in seiner Titelgeschichte (Abo), die einen guten Überblick über die laufenden Entwicklungen verschafft und natürlich auch Titelstory-Prosa à la "Ein Spaß ist TikTok schon lange nicht mehr" enthält.

+++ Ebenfalls im "Spiegel" ist, anlässlich des zehnten Todestags von Frank Schirrmacher am 12. Juni, ein langer Artikel von Susanne Beyer über ihn (Abo) erschienen. Um den Zugang des Texts verständlich zusammenzufassen, greife ich auf die "Hausmitteilung" des Magazins zurück, in der Beyer so zitiert wird: "Schirrmacher war gleichzeitig Machtmensch mit Hang zur Intrige und König der Feuilletondebatten (…), seine Stimme fehlt, sein Führungsstil nicht."

+++ Der MDR hat eine Dokumentation über Sahra Wagenknecht verantwortet, die linear diese Woche läuft, in der Mediathek aber schon als Vierteiler verfügbar ist. Ich habe sie noch nicht gesehen, aber zitiere hiermit Rezensionen: "Wagenknecht ist über die letzten 30 Jahre auch deshalb eine feste Größe im politischen Betrieb geblieben, weil sich die Medien gar nicht sattsehen konnten an ihrem toupierten Haarhelm und nicht satthören an ihren oft abstrusen Verheißungen." Schreibt Christian Buß bei spiegel.de (Abo). Daniel Gerhardt spricht bei Zeit Online über die Doku als "vertane Chance".

+++ Dominik Speck hat sich für epd Medien die Berichterstattung angeschaut, die unter dem Serientitel "Alles sagen" in den drei im Medienverbund Westfalen zusammengeschlossenen Zeitungen "Ruhr Nachrichten", "Hellweger Anzeiger" und "Recklinghäuser Zeitung" erschienen ist: "'Alles sagen' bietet mit großer Pose Themen und Positionen Platz, die täglich debattiert und ständig geäußert werden. In sozialen Netzwerken, Talkshows, Podcasts, Nutzerkommentaren, im Privaten – allen gefühlten Sprechverboten zum Trotz. Das kann man machen. Innovativer als Reizwörter und provozierende Themen wie Köder auszuwerfen wäre es, zu einem echten Dialog über gesellschaftliche 'Triggerpunkte' einzuladen und Menschen mit unterschiedlichen Meinungen zu konstruktiven Debatten zusammenzubringen."

Für die Transparenz: Ich schreibe für spiegel.de.

Am Dienstag schreibt das Altpapier Johanna Bernklau.

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