Kolumne: Das Altpapier am 26. August 2024 Journalisten in Psychogramm-Stimmung
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26. August 2024, 14:36 Uhr
Der "Spiegel" und die FAS erkunden den Charakter des thüringischen Spitzenkandidaten. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen sagt, es müsse eine Neuausrichtung "der journalistischen und rhetorischen Routinen" geben, die in eine "engagierte Objektivität" münden solle. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.
Inhalt des Artikels:
- Das große Bild der kleinen Leute
- Ungefähr alles über Höckes "Naturell"
- Der Umgang der AfD mit den Medien
- Wie umgehen "mit der totalen Anomalie, die Donald Trump verkörpert"?
- "Turboradikalisierung" im Netz stoppen!
- Ravensburger Meinungskorridorverbreiter
- Bei Wellmer darf man alles sagen!
- Altpapierkorb (sensationslüsterne RTL-Falschberichterstattung über Reiseaktivitäten afghanischer Geflüchteter, die wundersame Doku-Welt des NDR, Streit um Tarifvertrag bei Reporter ohne Grenzen)
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Das große Bild der kleinen Leute
In weniger als einer Woche wird gewählt in Thüringen und Sachsen, und da tut es gut, dass mal ein Journalist zwei bei Wahlkämpfenden sehr beliebte und von Medienleuten gern einordnungsfrei stenographierte Formulierungen seziert: "die Menschen" und die "kleinen Leute". Johannes Schneider tut es für die digitale "Zeit am Wochenende". "Die Menschen" in diesem Sinne sind demnach eine Erfindung der SPD. Beziehungsweise:
"(Es) gibt (…) ein Bild von 'den Menschen', das politisch-propagandistisch jederzeit abrufbar ist. Es korrespondiert mit einem Bild der sogenannten einfachen Leute, das auch die SPD jahrzehntelang gestärkt hat: Diese Leute haben eine abgeschlossene Ausbildung, aber keinen Universitätsabschluss, sie sind fleißig, hegen aber keine größeren Führungsambitionen. Sie haben keine Zeit für ökologische Spinnereien, aber ein sozialpartnerschaftlich großes Verständnis für Unternehmer, die ihnen keinen Mindestlohn zahlen wollen. Der Gedanke, dass es sonst gleich gar keine Jobs mehr gibt, hat ihnen über Jahrzehnte ebenso eingeleuchtet (…) Im derzeit überhitzten Diskursraum ist diejenige, die all das anders sieht, gar kein Mensch mehr, den es einzubeziehen gilt, sondern wahlweise Teil einer urbanen Elite, Insassin eines akademischen Elfenbeinturms oder schlicht wohlstandsverwahrloste Göre, die zum Bruttoinlandsprodukt nichts beiträgt und nur sinnlos Fördergelder für woken Genderwahnsinn abgreift."
Die nicht allzu realitätsnahen Gegensätze, die immer dann mitschwingen, wenn Politiker und Medienleute "die kleinen Leute" ins Spiel bringen, thematisiert Schneider ebenfalls:
"Auch in urbanisierten Regionen (gibt es) Infrastrukturprobleme und gerade dort alle möglichen Formen von Abgehängtsein. Dass aber das wahre Deutschland nur fernab der Zentren existiert, wird auch dann nicht wahrer, wenn jeder Agrarunternehmer und jeder ländliche Spediteur seinen gesamten Fuhrpark wochenweise in Berlin vors Brandenburger Tor stellt."
Schneiders Fazit:
"Fürs Erste wäre es (…) schon schön, politische Protagonistinnen würden selbst aufhören, Woche für Woche an einem großen Bild der kleinen Leute zu malen."
Ungefähr alles über Höckes "Naturell"
Was die nahenden Landtagswahlen auch auslösen: Björn-Höcke-Psychogramme bei der FAS und beim "Spiegel". Für Erstere hat Justus Bender herausgefunden: "Der Führer ist schüchtern."Bender schreibt unter anderem:
"Kürzlich gab er dem Sender n-tv (…) ein Interview. Die Frage war, ob er neben dem Amt des Ministerpräsidenten auch das des Bundeskanzlers anstrebe. Höckes Antwort: 'Wer weiß, was die Zeit uns noch bringt.' Einer, der in der AfD früher viel mit ihm zu tun hatte, sagt: 'Höcke hält sich für jemanden, dessen Zeit noch kommen wird.'"
Daran schließt dann folgende Einschätzung an:
"Wer nur auf diese beiden Eigenschaften schaut, kann leicht historische Parallelen ziehen. Jemand wie Hitler war auch rechtsextrem und ehrgeizig. Über Höcke wird deshalb geredet, als sei er ein (…) ein Neuzeit-Hitler. Aggressiv, herrschsüchtig, selbstbewusst, tyrannisch, sadistisch, hart, stumpf. Das ist Höcke aber nicht. Er wird von Parteifreunden als schüchtern, konfliktscheu, höflich, ängstlich, weich, sensibel, nachtragend, introvertiert, unsicher, abgeschottet und führungsschwach beschrieben (…) Es interessiert nur kaum jemand, weil es so klingen könnte, als sei Höcke harmlos, und das will niemand hören, der vor der AfD warnt. Es kann aber beides stimmen. Nur weil jemand nicht aus hartem Holz geschnitzt ist, heißt das nicht, dass er nicht zu Grausamkeiten in der Lage wäre."
Ja, genau, es kann beides stimmen. Um es drastischer zu sagen: Ob Höcke schon mehrmals erfolgreich einen Ironman absolviert hat oder bereits am Seepferdchen gescheitert ist, ist für eine politische Beurteilung eher nicht relevant.
Bender kommt schon in der ersten von (inclusive großzügiger Optik) vier Spalten zu der "Kann beides stimmen"-Erkenntnis, und da fragt man sich, warum er danach noch drei Spalten viel Gewese um Höckes "Naturell" macht. Dieses wird des Weiteren mit "ruhig, nett, beschwichtigend" beschrieben, und zum bereits zitierten Adjektiv "konfliktscheu" wird später auch noch das allgemeinere "scheu" hinzugefügt.
Und was hat der "Spiegel" im Angebot?
"Der Mann sei unnahbar und absolut kein Kumpeltyp, heißt es in vertraulichen Gesprächen."
Obendrein sei Höcke "faul, narzisstisch und karrieregeil" (eine Einschätzung, die wiederum nicht aus "vertraulichen Gesprächen" stammt, sondern von einem AfD-"Abtrünnigen", der im Text namentlich erwähnt ist)
Solche Charaktererkundungen scheint man in vielen Redaktionen als Königsdisziplin des politischen Journalismus zu sehen. Ich sehe das nicht so.
Der Umgang der AfD mit den Medien
In der Madsack-Presse ist ein Interview mit Carmen Miosga erschienen, in dem es unter anderem um ein Gespräch geht, das sie für ihre Sendung mit Tino Chrupalla geführt hat (und das im April an dieser Stelle ausführlich vorkam). "Was hat die Sendung mit Chrupalla für einen Mehrwert gebracht?" will die Interviewerin Hannah Scheiwe wissen. Miosga dazu:
"Dass ich Tino Chrupalla auch persönlich befragt habe, hat auch dazu beigetragen, dass er sich dazu hinreißen ließ, Kritik an den AfD-Europaabgeordneten Maximilian Krah und Petr Bystron zu üben, die damals sehr in der Kritik standen. Tino Chrupalla hat sich zum ersten Mal so massiv distanziert, wofür er im Anschluss auch viel Unverständnis in den eigenen Reihen erntete."
Hat er sich wirklich "hinreißen" lassen? Hat er nicht eher die Gelegenheit für eine strategische Volte genutzt? Miosga scheint jedenfalls zu übersehen, dass es sich hier um eine rein taktische Distanzierung handelte, die allein öffentlichem Druck geschuldet war und nicht inhaltlichen Differenzen. Solche sogenannten Distanzierungen haben führende AfD-Politiker in den vergangenen Jahren immer mal wieder abgegeben, um Hauptstadtjournalisten ein bisschen Beschäftigungstherapie zu verschaffen.
Für die Samstags-FAZ glossiert Axel Weidemann den (bisher) unerfolgreichen Versuch der AfD, Medien von ihrer Wahlparty zur Landtagswahl in Thüringen auszuschließen (siehe Altpapier von Donnerstag und Freitag). Es sei
"eben noch ein weiter Weg, bis es – so machtphantasierte es sich die AfD-Fraktion des hessischen Hochtaunuskreises 2018 auf Facebook zusammen – zu 'den uns bekannten Revolutionen' kommt, bei denen 'irgendwann die Funkhäuser und Presseverlage gestürmt und die Mitarbeiter auf die Straße gezerrt’ werden. Auch der Plan, die Medienstaatsverträge zu kündigen, den Höcke im November 2023 auf dem Parteitag in Pfiffelbach noch vollmundig für den Fall ankündigte, dass er Ministerpräsident werde, wird wohl noch etwas warten müssen. Bis es so weit ist, muss die AfD mit der Presse, die sie gern als regierungsgesteuerte Propagandisten bezeichnet, leben und arbeiten."
Sie muss es natürlich gar nicht. Ihre Politiker "arbeiten" gern mit den Medien, wenn Statements für einen aktuellen Fernseh- oder Radio-Beitrag angefragt werden, weil sie dann davon ausgehen können, dass ihre Aussagen kaum oder gar nicht eingeordnet oder kommentiert werden. Wenn absehbar ist, dass genau das passiert, "arbeitet" sie nicht immer mit. Björn Höcke zum Beispiel hat den Autoren der am vergangenen Montag im WDR Fernsehen ausgestrahlten Dokumentation "Höcke. Und seine Hintermänner" (der Textbeitrag zum Film ist in der SZ erschienen) kein Interview gegeben und auch keine schriftliche Fragen beantwortet. Die FAS wartete bei ihren Recherchen für die erwähnte Höcke-Charakterstudie ebenfalls vergeblich auf Antworten von ihm.
Wie umgehen "mit der totalen Anomalie, die Donald Trump verkörpert"?
In der neuen Ausgabe des "Spiegel" beschäftigt sich Bernhard Pörksen mit der Berichterstattung des Magazins über Donald Trump. Es ist kein Pörksen-Artikel wie jeder andere, der "Spiegel" macht mit dieser Veröffentlichung nämlich einen "neuen Schritt", schreibt Chefredakteur Dirk Kurbjuweit. Pörksen werde "sich einmal im Quartal ein großes Thema vornehmen und analysieren, wie wir darüber auf unserer Homepage und in unserem Heft berichten". Im Auftakttext schreibt Pörksen:
"Wenn es stimmt, dass Trump ein faschistischer Entertainer ist und erst durch die Medien mächtig wurde, dann heißt dies auch: Wie mit einem Mann umgehen, der nun bitterernst macht? Der die amerikanische Demokratie, die Existenz der Nato, den Fortbestand der Ukraine und die Weltklimapolitik gefährden könnte? Wie die journalistischen und rhetorischen Routinen neu ausrichten, um mit der totalen Anomalie umzugehen, die Donald Trump verkörpert?"
Die Formulierung "faschistischer Entertainer" fällt gleich zweimal, und das ist insofern erfreulich, als ein Meinungsbeitrag über Trump, in dem die Einschätzung "faschistisch" fehlte, ja gar nicht ernst zu nehmen wäre. Aber inwiefern macht Trump denn "nun" ernst? War der Putschversuch vom 6. Januar was Unernstes?
Pörksen reißt darüber hinaus noch folgende allgemeine Problematik an:
"Gegenwärtig gibt es einen Konflikt im Journalismus, der untergründig auch bei der Spiegel-Lektüre spürbar ist. Auf der einen Seite stehen die Kritiker des journalistischen Neutralitäts- und Objektivitätsideals, auf der anderen Seite seine Verteidiger. Die Kritiker fordern, man müsse den Demokratiefeinden mit anderer Härte entgegentreten, sich stärker ethisch-moralisch positionieren (…) Vielleicht braucht es, so denke ich, im Angesicht der Zerbrechlichkeit der Welt eine Zwischenform, eine Mixtur der Positionen, die man engagierte Objektivität nennen könnte."
Was konkrete aktuelle Entwicklungen in der Trump-Berichterstattung angeht, empfehle ich Stefan Niggemeiers "Übermedien"-Newsletter zu grotesken "Faktenchecks" bzw. False Balancing zu Lasten der Demokraten. Über diese "Faktenchecks" wird auch bereits auf angemessene Weise gewitzelt - siehe dieses Beispiel (das nicht aus Niggemeiers Text stammt).
Des Weiteren empfehlenswert: die Threads-Beiträge des US-Journalismus-Veteranen und früheren "Wall Street Journal"-Kolumnisten Walt Mossberg. In der vergangenen Woche schrieb er unter anderem:
"Ein Großteil der Presse behandelt (Trump) wie einen normalen Republikaner (…) Das ist journalistisches Fehlverhalten. Der Mann ist ein Möchtegern-Diktator und ein verurteilter Verbrecher. Diese Tatsachen sollten im ersten Absatz eines jeden noch so kleinen Artikels über seine Kampagne hervorgehoben werden."
Und zur Anti-Harris-Politik der "New York Times" (die in Deutschland kaum Thema ist, weil es nicht in die gängigen Narrative passt):
"Journalisten haben eine Hauptaufgabe: die Wahrheit zu sagen, vor allem, wenn sie eindeutig ist. Die Mitarbeiter der @nytimes haben das in der Vergangenheit getan, sogar unter großem Risiko. Warum tun sie es nicht auch jetzt? Wenn ihnen befohlen wird, einen autokratischen, lügenden, verurteilten Verbrecher und sexuellen Missbraucher zu normalisieren, warum streiken sie dann nicht? (Und ich glaube nicht an die allzu simplen Argumente, dass es daran liegt, dass der Verleger ein Handlanger der Rechten ist oder dass die Reporter nicht die Wahrheit sagen, weil sie mehr Zugang zu Trump wollen.)"
"Turboradikalisierung" im Netz stoppen!
Der Messer-Anschlag von Solingen hat (mal wieder) Erörterungen dazu angestoßen, inwiefern islamistische Terroristen das Produkt einer Radikalisierung in sozialen Netzwerken und Messenger-Diensten sind.
Konrad Litschko nennt in einem taz-Kommentar eine Methode, mit der "der Staat (…) hart gegen einen fanatisierten Islamismus vorgehen sollte":
"Social-Media-Kanäle, auf denen der IS seine Propaganda verbreitet, müssen verschwinden."
Die NZZ schreibt:
"Der deutsche Verfassungsschutz spricht bereits von einer Tiktokisierung des Islamismus. für die Verbreitung von extremistischem Gedankengut. Von Islamismus-Influencern und modernen Hasspredigern ist die Rede (…) Experten gehen davon aus, dass sich inzwischen fast alle islamistischen Täter im Internet radikalisiert haben. Nicht selten haben Hassprediger auf Tiktok, Telegram oder Instagram Millionen Follower. Ob sich der mutmaßliche Attentäter aus Solingen auch online radikalisiert hat, ist bislang nicht bekannt und Teil der Ermittlungen. Aber er passt in das Profil: Er ist männlich, jung, den Behörden bislang nicht als Extremist aufgefallen und offenbar Einzeltäter."
Der Islamwissenschaftlerin und Grünen-Politikerin Lamya Kaddor geht im Interview mit t-online.de ebenfalls auf diesen Aspekt ein:
"Die Radikalisierung passiert nicht mehr so stark über die sogenannten Hinterhofmoscheen oder Gemeindezentren. Sondern im Privaten. Abseits der einschlägig bekannten radikalen Moscheegemeinden würde ich sogar sagen, dass inzwischen mehr Moscheegemeinden für die Gefahren des Islamismus sensibilisiert sind."
Auf die Nachfrage "Wo hakt es dann?" sagt sie:
"Was noch überhaupt nicht gut funktioniert, ist der Kampf gegen die sogenannte Turboradikalisierung. Die geht im Internet mit Telegram, TikTok und anderen Netzwerken schneller, als sich das viele auch nur ansatzweise vorstellen können (…) Sich in zwei Jahren online zu radikalisieren, ist problemlos möglich, das wissen wir aus anderen Fällen."
Ein Geschäftsmann, dem man wohl nachsagen darf, ideale Rahmenbedingungen für diese "Turboradikalisierung" geschaffen zu haben, wurde am Wochenende in Paris verhaftet: Telegram-Chef Pawel Durow.
Während der Blog "Lost in Europe" von einem "Schlag gegen die Meinungsfreiheit" und einem "weltweit einmaligen Vorgang" spricht, ist der Tonfall in Daniél Kretschmars Kommentar für die taz ein etwas anderer. Durow werde ein "bunter Strauß an Beihilfen und Unterlassungen vorgeworfen". Sein Messenger sei
"eine Dreckschleuder von so gewaltigem Ausmaß, dass sich auch deutsche Behörden, bis hin zur Ministerialebene, mit ihr zu befassen versuchten. Ganz einfach gestaltete sich das nicht, lehnt Durow für gewöhnlich doch nicht nur die Zusammenarbeit, sondern überhaupt die Kommunikation mit staatlichen Institutionen ab (…) Diese demonstrative Arroganz und auch die Tatsache, dass Durow seit 2021 französischer Staatsbürger ist, dürfte zu seiner aktuell etwas unpässlichen Lage geführt haben. Konsularische Hilfe wird (ihm) (…) nun ausgerechnet aus seiner früheren Heimat Russland angeboten (…) Dass man Durow nun aus Moskau als Helden der Redefreiheit feiert, ist deshalb eine so ironische wie folgerichtige Wendung der Geschichte. Der Größenwahn, die narzisstische und zum Teil auch kriminelle Energie vieler erfolgreicher Start-up-Eigner (praktisch alles Männer), sind perfekte Andockpunkte für Geheimdienste, die ihren Einfluss auf neuen Informationskanälen geltend machen wollen. Die absichtlich obskur gehaltenen Eigentumsverhältnisse der größeren digitalen Plattformen helfen dabei, Abhängigkeiten zu verschleiern".
Ravensburger Meinungskorridorverbreiter
Der Rechtsruck bei der "Schwäbischen Zeitung" war bereits zweimal Thema im Altpapier, zuletzt am vergangenen Donnerstag, basierend auf einem Beitrag der Wochenzeitung "Kontext". Auf der Medienseite der Wochenend-taz hat nun Nicholas Potter das Thema aufgegriffen. Er geht dabei unter anderem auf ein Interview der "Schwäbischen" mit Hans-Georg Maaßen vom 21. Juli ein:
"Schon in der Überschrift darf der Ex-Verfassungsschutzchef, der sich seit dessen Rauswurf im November 2018 immer wieder rechtspopulistischer und verschwörungsideologischer Narrative bedient, behaupten, Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sei 'die größte Gefahr für unsere freiheitliche Demokratie'. Die Aussage bleibt im Gespräch unwidersprochen, Maaßen behauptet, Faeser würde 'der linksextremen Antifa nahestehen'. Im Rest des Interviews darf er die Kernfragen der Querdenken-Blase aufgreifen."
Die "Schwäbische", so Potter weiter, stilisiere Maaßen in dem Interview zu zu einem "Opfer". Er zitiert in dem Zusammenhang die sehr lustige Frage "Waren Sie im Nachhinein überrascht, wie sehr Sie von einem Großteil der Medien und dann auch von der Politik in die rechte Ecke abgestempelt worden waren?"
Zu den Folgen solcher Beiträge schreibt Potter:
"Die taz hat mit mehreren Mitarbeiter*innen gesprochen. Manche haben inzwischen gekündigt, andere überlegen, die Zeitung zu verlassen. Sie alle wollen anonym bleiben – aus Angst vor beruflichen Konsequenzen. Ihr Urteil ist eindeutig: Das Blatt, für das sie gerne geschrieben haben, ist nicht mehr dasselbe."
Harald Staun greift in seiner FAS-Kolumne "Die lieben Kollegen" die "Kontext"-Berichterstattung auf. "Ein wahres Dream Team an Brandmauereinreißern und Meinungskorridorverbreitern" stehe da bereit beim Schwäbischen Verlag, in dem auch der "Nordkurier" erscheint." Staun stellt die Entwicklung in Ravensburg in einen größeren Kontext:
"In Deutschland floriert längst ein Mikrokosmos von Medien, die sich selbst gern als alternativ bezeichnen - und den Begriff politisch ungefähr so auslegen wie die gleichnamige Partei. Doch auch um den Kampf um die Meinungsmacht traditioneller Zeitungen haben manche dieser Publizisten noch nicht aufgegeben."
Dass der kaum unter medienjournalistischer Beobachtung stehende Lokaljournalismus grundsätzlich ein geeignetes Feld für diesen Meinungskampf sein könnte - diese Befürchtung muss man nach dem Rechtsruck in Ravensburg haben.
Bei Wellmer darf man alles sagen!
Viel besprochen wird erwartungsgemäß Dominic Egizzis und Jessy Wellmers Dokumentation "Machen wir unsere Demokratie kaputt?", zu sehen heute um 20.15 Uhr in der ARD. Der Film besteht aus einer Interviewreise, die überwiegend in ostdeutsche Orte führt, er ist - natürlich - anlässlich der bevorstehenden Landtagswahlen entstanden. Ole Kaiser meint in der FAZ, Wellmer finde "ein gutes Maß zwischen Präsenz und Zurückhaltung". Die SZ wiederum fasst im Vorspann Aurelie von Blazekovics Rezension mit den Worten zusammen, Wellmer bringe "ihre Interviewpartner auf tatsächlich Erkenntnis stiftende Weise zum Reden". Und Michael Pilz schreibt in der "Welt":
"Auf dem Dresdner Schlossplatz spricht der Bundeskanzler. Seine Wahlkampfrede wird vom Wutgebrüll der Sachsen übertönt. Eine empörte Frau im gelben Sommerkleid sagt auf die Frage nach dem Zustand der Demokratie: 'Wir haben keine.’ Andere Meinungen als die der 'Staatsmedien’ würden verboten (…) Jeder darf bei (Wellmer) öffentlich-rechtlich fremdeln (…) Auf dem Dresdner Schlossplatz schimpft die Frau im gelben Kleid nicht neben den bekennenden Neonazis mit den 'Landsknecht'-T-Shirts, sondern mit ihnen gemeinsam auf den Staat und die Demokratie."
Sein Fazit:
"Jede Geschichte hat eine Moral, auch dieser Film: So sieht es in manchen Regionen aus, das Ende einer demokratischen Kultur, in der jeder dafür verantwortlich ist, was er wählt und was er für die Demokratie tut."
Bemerkenswert selbstverliebt ist dann allerdings folgende Anmerkung, die unter dem Text platziert ist:
"Michael Pilz hat 24 Jahre in der Diktatur gelebt, seit 35 Jahren lebt er in der Demokratie, seit 26 Jahren schreibt er für die WELT."
Der letzte Gesprächspartner, der in "Machen wir unsere Demokratie kaputt?" zu Wort kommt, ist übrigens der allgegenwärtige Soziologe Steffen Mau. Was er hier ab Time Code 40:45 sagt, könnte man als Kurzfassung dessen bezeichnen, was er in einem sehr ausführlichen Interview äußert, das in der Wochenendausgabe der SZ erschienen ist. Auf die Frage "Herr Mau, worin unterscheiden sich denn der Osten und der Westen politisch am stärksten?" sagt er dort:
"Darin, dass sich völlig andere Wählerschaften und Parteiensysteme entwickelt haben. Die Dramatik dieser Tatsache wird leider gerade erst erkannt. Eine deutschlandweit erfolgreiche Partei mit Volksparteicharakter ist eigentlich nur noch die CDU."
Altpapierkorb (sensationslüsterne RTL-Falschberichterstattung über Reiseaktivitäten afghanischer Geflüchteter, die wundersame Doku-Welt des NDR, Streit um Tarifvertrag bei Reporter ohne Grenzen)
+++ Der den Altpapier-Lesern möglicherweise bekannte Afghanistan-Experte Emran Feroz kritisiert für "Übermedien" die Berichterstattung über (vermeintliche) Reiseaktivitäten afghanischer Geflüchteter in hr Heimatland. Feroz schreibt unter anderem: "Ahmad, ein Freund von mir, der eigentlich anders heißt, tat vor wenigen Wochen genau das, was RTL meint, aufgedeckt zu haben. "Er flog (…) in den Iran und reiste dann weiter nach Afghanistan. Der Grund hierfür war allerdings kein 'Urlaub', sondern sein schwerkranker Vater. Er starb kurz nach Ahmads Abreise. Ähnliche Fälle gibt es zuhauf. Selbst verurteilte Mörder, die im Gefängnis sitzen, haben ein Anrecht auf Familienbesuch. Doch allem Anschein nach meinen manche, dass nichts davon für Geflüchtete zu gelten hat. Sie müssen ihre Bewegungsfreiheit einschränken, sich stets kontrollieren lassen und dürfen auch über ihr Geld nicht eigenständig verfügen". Das Fazit des Autors: "Eine verzerrende Pseudo-Recherche", die "an Perfidität kaum zu überbieten" sei.
+++ Aufmacher der FAS-Medienseite ist ein launiger feuilletonistischer Text, in dem Lennardt Loß davon erzählt, wie er vor fünf Jahren auf den "YouTube-Kanal des NDR gestoßen sei", der "fast ausschließlich aus Formaten, die Feel-Good-Stories aus Norddeutschland erzählten", bestehe. Und dass er seitdem "fast alle gesehen" habe. "YouTube-Kanäle des NDR" gibt es freilich viele, gemeint sein dürfte das Angebot "NDR Doku". Loß’ Fazit: "Immer, wenn Deutschland seine niederträchtige Seite zeigt, wenn die AfD bei Wahlumfragen vorne liegt, wenn die Bürgergeld-Empfangenden noch weniger Geld als ohnehin schon geben will (…), erinnern mich die NDR-Dokus daran, dass es da draußen noch die Idee von einem anderen Land gibt. Einem Land, in dem gute Menschen leben, die Umwege fahren, um ihrer Lieblingsraststätte zu essen. Die Gedichte über den Chlorgehalt in Freibädern erfinden. Und die in Kleingartenkolonien für ihre Nachbarn Grillfeste veranstalten, weil das Paradies dann plötzlich ganz nah scheint."
+++ Die Organisation Reporter ohne Grenzen ist eigentlich als sehr auskunftsfreudig bekannt. Im aktuellen Streit um die Tarifverträge für die 47 Beschäftigen der deutschen Sektion der NGO ist sie es offenbar nicht. Auf eine Anfrage des ND zu dem Konflikt heißt es: "Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass wir Einzelheiten der Forderungen unserer Mitarbeitenden nicht öffentlich kommentieren, sondern in den dafür vorgesehenen Gesprächsrunden mit Verdi sowie unseren Mitarbeitenden." Die Gewerkschaft fordert unter anderem eine Arbeitszeitverkürzung auf 37 Stunden.
Das Altpapier am Dienstag schreibt Christian Bartels.