Das Altpapier am 05. Juli 2023: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 28. Juli 2023 Die fast vergessenen afghanischen Frauen

28. Juli 2023, 13:31 Uhr

Mitte August jährt sich zum zweiten Mal der Tag, an dem die Taliban zum zweiten Mal die Macht in Afghanistan übernahmen. Deutsche Medien haben seitdem zu wenig und oft unpräzise über das Land berichtet - und einige haben sich kürzlich an einer haltlosen Kampagne beteiligt. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Die Taliban sind nicht der IS

Hin und wieder versuchen wir in dieser Kolumne uns aus mehr oder weniger aktuellem Anlass intensiver mit Auslandsberichterstattung zu beschäftigen: zum Beispiel mit der Berichterstattung über den Nahen Osten, über Afrika im Allgemeinen oder den Sudan im Besonderen oder auch grundsätzlich mit den Stärken und Schwächen der öffentlich-rechtlichen Auslandsmagazine.

Da sich am 15. August zum zweiten Mal der Tag jährt, an dem die Taliban in Afghanistan wieder die Macht übernommen haben, werfen wir heute einen Blick darauf, wie hiesige Journalistinnen und Journalisten seitdem über dieses Land berichtet haben. Es soll auch eine Einstimmung sein auf die Jahrestags-Berichterstattung, die in den kommenden Tagen folgen wird. Seit Russlands Krieg gegen die Ukraine ist Afghanistan ja kaum noch im Blickfeld, da kann man zumindest hoffen, dass hiesige Medien zumindest anlässlich des Jahrestags auf das Thema lenken. Den Anfang machen NDR, WDR, SZ und Lighthouse Reports, deren "exklusive" Recherchen unter anderem tagesschau.de heute veröffentlicht hat. Volkmar Kabisch und Martin Kaul schreiben dort, die Bundesregierung habe seit der Machtübernahme der Taliban

"auch immer wieder afghanische Ortskräfte (abgewiesen), obwohl die Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) zu der Einschätzung kam, dass es sich bei den Menschen um potenziell gefährdete Personen handelt. Demnach erhielten auch immer wieder Personen eine Ablehnung, denen zuvor etwa attestiert worden war, 'dass sie in ihrer Rolle als Vermittlung zwischen afghanischer Polizei und der Bevölkerung im Auftrag der GIZ deutlich wahrgenommen' wurden 'und somit in exponierter Stellung' arbeiteten".

Steigen wir in unseren Rückblick mal chronologisch ein: Vier Tage nach der Machtübernahme der Taliban war ein Teil des Altpapiers einem "Rückblick auf die Mängel der 'westlichen' Berichterstattung über Afghanistan" gewidmet. Ausgangspunkt war ein Text aus Emran Feroz' Buch "Der längste Krieg. 20 Jahre War on Terror".

Zwölf Tage nach Erscheinen jenes Altpapiers, am 31. August 2021, lief bei "Report München" einer der ersten Politikmagazinbeiträge zur neuen Lage. Christian Nitsche moderierte den Film so an:

"Ich weiß noch genau, wie wir am 11. September vor 20 Jahren in der Redaktion fassungslos auf die Bilder der amerikanischen Fernsehsender starrten (…) Jetzt kehren die Taliban zurück. Auch Al-Qaida und IS formieren sich. Wird Afghanistan erneut zur Brutstätte des internationalen Terrorismus?"

Der Teaser zum Beitrag in der Mediathek lautete:

"Die Taliban triumphieren. Welche Folgen hat das für die Sicherheit in Europa? (…) Was denken, was meinen Sie: Kehrt der Terror nach Deutschland zurück?"

Hm. Was haben die Taliban mit dem 11. September zu tun? Sie sind nicht Al-Qaida, sie sind auch nicht der IS. Auch wenn die drei zu den am meisten verachtenswerten Gruppierungen der Gegenwart gehören: Die Aufgabe von Journalistinnen und Journalisten ist es, die Unterschiede kenntlich zu machen.

Bezeichnend auch: Etwas weniger als zwei Wochen, nachdem die Taliban an die Macht zurückgekehrt sind, um vor allem den Frauen in Afghanistan das Leben zur Hölle zu machen, müssen unbedingt "wir" als potenzielle Betroffene ins Spiel kommen. Siehe "Kehrt der Terror nach Deutschland zurück?" Möglicherweise ließ sich die Redaktion hier von dem Glauben leiten, dass Zuschauende ein Thema dann für besonders relevant halten, wenn es - vermeintlich - einen direkten Bezug zu ihnen selbst hat.

Darüber, was die Taliban und den IS voneinander unterscheidet. schrieb übrigens der bereits erwähnte Emran Feroz im Mai im Magazin "Republik":

"Seit 2015 ist (…) der sogenannte Islamische Staat in Afghanistan präsent (…) Diejenigen politischen Kräfte, die sich dem IS in Afghanistan anschlossen, waren nicht nur unzufrieden mit den Taliban, sondern auch deutlich extremistischer als diese. Während die Taliban weitgehend als militant-islamistische Nationalisten betrachtet werden können, die ein Emirat auf dem Gebiet Afghanistans anstreben, hat der IS eine global-jihadistische Agenda, die keine nationalen Grenzen kennt."

Vor dem August 2021 war Afghanistan alles andere als eine Musterdemokratie

Als Expertin für Afghanistan profiliert hat sich in den vergangenen Jahren die Filmemacherin Theresa Breuer, die eine Zeitlang in dem Land gelebt hat. Sie ist auch eine der Protagonistinnen der herausragenden Doku-Serie "Mission Kabul-Luftbrücke", in der sie darüber berichtet, wie sie und Mitstreitende der NGO Kabul-Luftbrücke nach der Machtübernahme der Taliban Menschen aus Afghanistan heraus holen (Altpapier). Einen Beitrag über ihre Arbeit findet man auch beim "Auslandsjournal" des ZDF.

Mit Breuer, die am Donnerstag vergangener Woche für ihre Berichterstattung aus Afghanistan und für ihre Arbeit mit Kabul-Luftbrücke mit dem Ludwig-Beck-Preis für Zivilcourage der Stadt Wiesbaden ausgezeichnet wurde, habe ich kürzlich gesprochen. Sie benennt unter anderem ein generelles Problem der Berichterstattung über Afghanistan:

"Die Empörung der deutschen Seele darüber, was rund um den Bundeswerhreinsatz in Afghanistan falsch gelaufen ist, und die Bilder vom Flughafen Kabul aus dem August 2021, die gezeigt haben, wie verzweifelte Menschen zu Tode gekommen sind, weil sie sich an startende Flugzeuge gehängt hatten, haben etwas überlagert: Afghanistan war keineswegs eine Musterdemokratie, bevor die Taliban wieder an die Macht gelangt sind. Tatsächlich war Afghanistan vorher eines der korruptesten Länder der Welt."

An derlei Differenzierungen fehle es in der Berichterstattung aber in der Regel. Im Korruptionswahrnehmungsindex (Corruption Perceptions Index, CPI) von Transparency International lag Afghanistan 2019 unter 180 Ländern auf Rang 173 und 2020 auf Rang 165. Thomas Ruttig, Mitgründer des Afghanistan Analysts Network, schreibt in seinem Blog:

"Der Schnitt zwischen der Vorgängerregierung und dem Taleban-Regime (ist) nicht überall so radikal wie es oft scheint. Auch unter der Vorgängerregierung wurden Medien und Zivilgesellschaft gegängelt."

Das Zitat stammt aus einer am Sonntag dort veröffentlichten umfänglichen "Lagebeurteilung nach der Machtübernahme der Taleban", die zuerst in der "Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik" erschienen ist. Wer wissen möchte, warum Ruttig die Schreibweise "Taleban" nutzt, findet eine Erklärung im Text.

Als zwei Ministerien nach einem "Cicero"-Artikel das Kind mit dem Bade ausschütteten

Der folgenreichste journalistische Beitrag zu Afghanistan erschien im März beim Magazin "Cicero" (gedruckt veröffentlicht wurde er in der April-Ausgabe). Er basierte auf einem "internen Bericht der deutschen Botschaft in Pakistan, der in Berlin hohe Wellen geschlagen hat" bzw. einem "Warnschreiben", "unterzeichnet (…) von Botschafter Alfred Grannas. Er warnt in eindringlichen Worten davor, dass die Aufnahmeprogramme der Bundesregierung von radikalen Islamisten missbraucht würden".

Wobei an anderer Stelle des Textes erkennbar wird, dass Grannas das Dokument zwar unterzeichnet, aber nicht verfasst hat. In dem Artikel heißt es weiter:

"Rund die Hälfte der in seiner Visastelle vorsprechenden ehemaligen Justizmitarbeiter aus Afghanistan seien 'keine Richter und Staatsanwälte mit klassischer juristischer Ausbildung', sondern 'Absolventen von Koranschulen', geschult in der Scharia, im religiösen Rechts- und Wertesystem des Islam, schreibt Grannas. Es sei offensichtlich, dass diese Scharia-Gelehrten der freiheitlich demokratischen Grundordnung 'oppositionell, ablehnend bis feindselig' gegenüberstehen, denn die Scharia stehe für sie 'als quasigöttliche Rechtsquelle grundsätzlich über durch Parlamente beschlossenes weltliches Recht.' (…) Dem vertraulichen Bericht zufolge geht es um etwa 450 Personen plus Familienangehörige. Sie sollen von deutschen Organisationen wie der Neuen Richtervereinigung, Kabul Luftbrücke und Pro Asyl als gefährdet gemeldet worden sein."

Der "Cicero"-Text war der Auftakt zu einer "Kampagne in rechtspopulistischen Medien", wie die taz vor rund zwei Wochen schrieb. Teil dieser Kampagne waren auch Schlagzeilen wie "Erschleichen sich Steinzeit-Scharia-Richter und Islamisten Zugang nach Deutschland?" ("B.Z.") und "Regierung soll Scharia-Richter importiert haben!" ("Bild")

Grundsätzlich muss man aber erst einmal festhalten: Der "Cicero" hat ein Dokument aus der Botschaft zugespielt bekommen, und er hat es zur Grundlage eines ausführlichen Artikels gemacht. Formal betrachtet, ist das nicht verwerflich.

Doch wie ist es um die inhaltliche Substanz des Schreibens bestellt? Eine Nicht-News aus dem "Cicero"-Beitrag benannte die FAZ Ende Juni:

"In dem Schreiben hieß es, dass erfahrungsgemäß etwa die Hälfte der Richter und Staatsanwälte der gefallenen afghanischen Republik keine klassische juristische Ausbildung hätten, sondern nur Absolventen von Koranschulen seien. Wer die afghanische Realität kennt, ist von dieser Beobachtung nicht überrascht."

Auf den zentralen Aspekt ging Christofer Burger, ein Sprecher des Auswärtigen Amts, Anfang April auf einer Bundespressekonferenz ein. Die taz zitierte die Passage in dem bereits verlinkten Text Mitte Juli wie folgt:

"Burger (versuchte) (….), die Wogen zu glätten: 'Nein, es sind nicht reihenweise Scharia-Richter nach Deutschland gekommen.' Auch sonst habe es sich bei den Missbrauchsversuchen um das gehandelt, was man als 'täglich Brot' von allen Auslandsvertretungen kenne."

Das Ministerium hatte vorher allerdings anders gehandelt, als es die Worte des Sprechers vermuten lassen. Nachdem Mitte März "eine Delegation des Auswärtigen Amtes und des Innenministeriums nach Islamabad" geflogen war, "um vor Ort über die Probleme des Aufnahmeverfahrens zu sprechen" ("Cicero"), geschah Folgendes: Das Bundesaufnahmeprogramm - das man wiederum vom Ortskräfteverfahren unterscheiden muss, das im Mittelpunkt der oben erwähnten aktuellen NDR/WDR/SZ-Recherchen steht - wurde gestoppt. Es war im Herbst 2022 zwar offiziell in Kraft getreten, aber bis zum Erscheinen war noch niemand im Rahmen des Programms nach Deutschland gekommen. "Mehr als 14.000 Gefährdete aus Afghanistan", die bereits eine Aufnahmezusage hatten, waren betroffen, wie tagesschau.de Ende Mai feststellte.

Allerdings:

"Der Vorwurf, das grün geführte Auswärtige Amt wolle darüber massenhaft 'Scharia-Richter', und damit potenzielle islamistische 'Gefährder', ins Land holen, stellte sich aber als – sagen wir mal – stark übertrieben heraus",

kommentierte der bereits zitierte Thomas Ruttig vor einem Monat in der taz.

Inwiefern? Herta Mirea, die für Kabul Luftbrücke als "Ground Operator" in Pakistan tätig ist (zu ihrer Arbeit siehe auch "Zeit Magazin"), sagte mir dazu unter anderem:

"Wir haben die Botschaft in Pakistan in mehreren Mails und persönlichen Gesprächen dazu aufgefordert, wenigstens einen Fall zu nennen, der von uns eingereichte Personen betrifft und für die uns Vollmachten zur Auskunftserteilung vorlagen. Eine Antwort haben wir bis heute nicht bekommen."

Das Auswärtige Amt soll rund 80 Fälle überprüft haben, davon soll einer möglicherweise problematisch gewesen sein. "Die Zahl 450 ist völlig aus der Luft gegriffen", so Mirea weiter. Ihr Zwischenfazit:

"Die eigentlichen Leidtragenden der tendenziösen Berichterstattung über vermeintliche 'Scharia-Richter' sind die Betroffenen in Afghanistan. Wir wissen von mehreren Richtern und Staatsanwälten mit deutschen Aufnahmezusagen, denen ohne Vorankündigung die weitere Unterstützung bei der Ausreise versagt wurde, da ihre Fälle nochmals überprüft würden. Dabei gibt es nach unseren Informationen nach wie vor keine konkreten Hinweise darauf, dass es sich bei den uns bekannten Fällen um Gefährder handeln könnte."

Es sehe, meint Mirea, so aus, "als würden sie als Teil ihrer Berufsgruppe kollektiv in Haftung genommen – ausgelöst durch ein haltloses Dokument". Von außen wirkt es jedenfalls so: Zwei Ministerien fallen auf ein populistisches Manöver eines Botschaftsmitarbeiters und eines Magazins herein - und schütten das Kind mit dem Bade aus.

Was die Berichterstattung über Afghanistan generell angeht, hat Mirea folgende Beobachtung gemacht: Manche Journalistinnen und Journalisten hätten in den Monaten nach der Machtübernahme der Taliban "alarmistische Berichte über Bedrohungen oder Ermordungen durch die Taliban übernommen, ohne sich selbst ein Bild zu machen. "Das bedeute nicht, "dass so etwas nicht passiert ist. Aber Medien haben zu oft nicht verifizierte Fälle aufgegriffen." Es habe an Nachfragen bei "Betroffenen, Angehörigen, Nachbarn oder Arbeitskollegen" gefehlt.

Die Kritik ließe sich anwenden auf einen Text, der vor rund einem Jahr im "Tagesspiegel" erschienen ist. "Noori ist tot", lautet der erste Satz, es geht um den laut Zeitung von den Taliban ermordeten "afghanischen Inhaber des Ladens in Container 7 des früheren Bundeswehr-Lagers in Masar-i-Scharif".

Was man im weiteren Verlauf des Textes nicht erfährt: Wann und wo wurde der frühere Ladeninhaber ermordet, und wie alt war er eigentlich? Und warum hat er keinen Vornamen? Dass solche Fragen in einem journalistischen Text unbeantwortet bleiben, ist ungewöhnlich.

Ohne jetzt eine Statistik beibringen zu können. Über ehemalige Mitarbeiter deutscher Organisationen - und sei es ein "Gärtner, der ab 2006 für 13 Monate für die Bundeswehr angestellt war" (n-tv vor viereinhalb Monaten) - ist mehr berichtet worden als über die Hauptopfer des Taliban-Herrschaft, also afghanische Frauen. Theresa Breuer, die mittlerweile nicht mehr für Kabul Luftbrücke tätig ist, fordert daher:

"Journalistinnen und Journalisten müssten viel mehr über die Situation der Frauen in Afghanistan berichten, die sich vor August 2021 dem westlichem Lebensstil geöffnet und für afghanische Verhältnisse in relativer Freiheit gelebt haben. Über Frauen, die studiert haben - und nun in die Steinzeit zurückgeworfen worden sind. Frauen dürfen in Afghanistan das Haus nicht mehr ohne Erlaubnis verlassen, geschweige denn reisen, sie sind zum Besitz männlicher Familienmitglieder degradiert worden, und wenn sie Glück haben, haben sie einen guten Sklavenhalter. Für diese Frauen hat der Westen eine Verantwortung."

Eines der vielen Probleme, die dadurch mit sich gebracht werden, dass derzeit kein medialer Fokus auf Afghanistan liegt: Die Bundesregierung kann sich einen schlanken Fuß machen, weil sich Journalisten zu wenig damit beschäftigten, was sich in diesem Bereich tut oder nicht tut.

Während Kabul Luftbrücke weiterhin dafür sorgt, dass allein stehende Frauen aus Afghanistan nach Pakistan gebracht werden, obwohl die Spendengelder zur Neige gehen, tut die Ampel nichts dergleichen. Herta Mirea sagt:

"Dass die Bundesregierung sich ausgerechnet bei der vulnerabelsten Gruppe unter den Schutzsuchenden aus der Verantwortung zieht und noch nicht einmal bereit ist, NGOs bei der Bewältigung dieser Aufgabe zu unterstützten, lässt das Versprechen von Ministerin Baerbock, vor allem Frauen und Mädchen zu helfen, zynisch erscheinen."

Das unter Mitwirkung von "Cicero" gestoppte Aufnahmeprogramm ist Ende Juni übrigens wieder angelaufen - auf dem Papier. Im NDR/WDR/SZ/Lighthouse-Beitrag von heute heißt es dazu jedenfalls:

"Das Bundesaufnahmeprogramm, ein zentrales Instrument, mit dem die Bundesregierung schnelle Einreisen versprochen hatte, liegt allerdings weiterhin de facto nahezu auf Eis (…) Ein Außenamtssprecher hatte angekündigt, das Programm solle nunmehr 'schrittweise' ausgebaut werden bis das ursprüngliche Ziel, monatlich 1000 Menschen aufzunehmen, erreicht sei. Die Recherchen zeigen aber, dass diese Zielsetzung wegen mangelnder Kapazitäten auf absehbare Zeit nicht zu erreichen ist. Nach Aussagen aus Regierungskreisen wurden seither weder im Ortskräfteverfahren noch im sogenannten Bundesaufnahmeprogramm neue Einreisevisa erteilt."

Und auch Herta Mirea von Kabul Luftbrücke ist alles andere als optimistisch:

"Dass zum zweiten Jahrestag der Wiederübernahme der Macht durch die Taliban Personen in Deutschland angekommen sein werden, die im Rahmen des Bundesaufnahmeprogramms eine Aufnahmezusage bekommen haben, ist nicht sehr wahrscheinlich."


Altpapierkorb (Forderung nach mehr mehrsprachigen Medienangeboten, Pro und Contra zu "Freiheit ist das Einzigste, was zählt. Eine deutsche Revolution in sechs Akten")

+++ Was muss der öffentlich-rechtliche Rundfunk leisten, um zukunftsfähig zu werden? Der Kommunikationswissenschaftler Otfried Jarren hat dazu jüngst beim Mainz Media Forum "Wind of Change? Die Zukunft des öffentlichen Rundfunks" des Mainzer Medieninstituts am 23. Juni mehrere Vorschläge gemacht. Auf seinem dortigen Vortrag basiert nun der Leitartikel der neuen "epd Medien"-Ausgabe. Jarren argumentiert unter anderem: "In Deutschland leben derzeit 23,8 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund und 13,4 Millionen AusländerInnen. Wie ist es um deren Möglichkeit für den Kultur- oder Spracherwerb jenseits formaler Bildungsanbieter bestellt, und wie ist es um den Sprach- und Kulturerwerb der anderen BürgerInnen bestellt? Der kulturelle Austausch zwischen den Gruppen, das Verständnis für Gemeinsamkeiten wie Unterschiede in kulturellen Lebensfragen oder religiösen Glaubensfragen macht höchst unterschiedliche Angebote und Austauschformen notwendig (…)." Dazu zählt Jarren unter anderem "mehrsprachige Medienleistungen". Das heißt, wie brauchen mehr Angebote wie WDRforyou.

+++ Zu den TV-Fiction-Ereignissen des Jahres dürfte "Freiheit ist das Einzigste, was zählt. Eine deutsche Revolution in sechs Akten" gehören, eine seit Donnerstag in der ZDF-Mediathek zu sehende Miniserie, in der Jan Bonny "rechte Laienrevolutionäre und Reichsbürger die Machtübernahme proben lässt". So formuliert es die "Süddeutsche" im Vorspann zu einer umfänglichen Willi-Winkler-Rezension. Der Autor preist "eine deutsche Revolutionsballade (…), die endlich einmal so garstig ist, dass allen Leitartiklern der Griffel aus der Hand fallen muss. Die ZDF-Neo-Serie (…) kennt keine Brandmauer und folglich auch keine Geschmacksgrenzen, sie spielt so weit im Rechtsaußen, dass sich der ganze Verschwörungs- und Verfolgungswahn von selber entlarvt, und dazu bietet sie noch beste Unterhaltung. Christian Buß ("Spiegel") ist ebenfalls angetan: "Die Machtergreifungsmaßnahmen werden durch Schrifttafeln mit kecken Kommentierungen des Gezeigten, wie man sie aus Stummfilm-Komödien kennt, ins Lächerliche gezogen. 'Väter der Klamotte' in der Politversion."

+++ Keine Lobeshmymne auf "Freiheit ist das Einzigste, was zählt" dagegen in der taz. Der Filmemacher und Filmkritiker Daniel Moersener lobt Bonny zwar: "Er porträtiert die Bandbreite der Reichsbürger recht akkurat: Waldorfpädagogen, Esoteriker, Wehrmachtfanatiker, bildungsbürgerliche Rechte, der Antisemitismus vereint sie alle." Aber: "Zum grundlegenden Problem wird der Serie ihre bewusste Tuchfühlung mit den Figuren, die weitestgehend auf Außenperspektiven verzichtet und dabei magisches Denken mit Ideologiekritik verwechselt. Als würden rechte Weltanschauungen freundlicherweise von selbst kollabieren, wenn man ihre Verfechter nur lange genug schwadronieren lässt."

Das Altpapier am Montag schreibt Johanna Bernklau. Schönes Wochenende!

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