Das Altpapier am 6. Oktober 2023: Porträt des Altpapier-Autoren Klaus Raab
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 6. Oktober 2023 Bierzelt ist überall

06. Oktober 2023, 11:17 Uhr

Es gibt die polarisierte Gesellschaft nicht – aber wenn wir nicht aufpassen, folgt aus der gefühlten Polarisierung doch noch eine reale. Was eher kein Mittel dagegen ist: Faktenchecks. Der Einfluss von Information auf die Meinungsbildung werde überschätzt, sagt ein Soziologe. Heute kommentiert Klaus Raab die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

"Wahrheitskrise zweiter Ordnung"

Faktenchecks sind ein beliebtes journalistisches Format geworden und können zweifellos ein wichtiges sein. Aber wie die Kommunikationswissenschaftlerin Friederike Herrmann, die hier im Altpapier jüngst zweimal zitiert wurde (hier und gestern hier), so weist auch der Soziologe Nils Kumkar darauf hin, dass Faktenchecks – selbst wenn es sich tatsächlich um Faktenchecks und nicht (wie jüngst bei "Übermedien" konstatiert) um verkappte Meinungsbeiträge handelt – nicht zwangsläufig das bewirken, was sie womöglich bewirken sollen.

Es bestehe, so Kumkar, der seit 2019 zu Desinformation forscht, "gesamtgesellschaftlich besteht ein großer Mangel an Vertrauen in das Medienvertrauen der anderen". Das nennt er "Wahrheitskrise zweiter Ordnung". Diese Krise sei ein Problem für die politische Meinungsfindung. In der Tendenz werde der Einfluss von Information auf Meinungen überschätzt.

So steht es in der Dokumentation eines Vortrags, den Kumkar im Juni beim Frankfurter "Forum Medienzukunft" der Medienanstalt Hessen gehalten hat. "epd Medien" hat die Tagung in der neuen Ausgabe soeben ausführlich dokumentiert. Was er meint, ist unter anderem das:

"Wer gegen Desinformation anarbeitet, schafft damit auch immer Bewusstsein für Desinformation. Die meisten Leute in diesem Raum, aber auch in meinem Bekanntenkreis und darüber hinaus und in Umfragen, haben von bestimmten Desinformationskampagnen vor allem dadurch erfahren, dass sie in den Medien widerlegt worden sind. Und das hat ihr Vertrauen in die Medien paradoxerweise erschüttert."

Kumkar formuliert es auch noch einmal anders:

"Immer wenn ich damit konfrontiert bin, dass bestimmte Informationen, die von manchen wohl für richtig gehalten wurden, in Wirklichkeit falsch sind, bin ich damit konfrontiert, dass Informationen prinzipiell falsch sein können. Und mit diesem 'Es kann immer auch ganz anders sein' produziere ich den Vertrauensverlust mit, den ich zu bekämpfen vorgebe."

Für den Journalismus heißt das, eine scheinbare Selbstverständlichkeit ist infrage gestellt, die da lautet: Informationen müssen stimmen, dann ist der wichtigste Teil des Jobs schon einmal geschafft. Kumkars These lautet dagegen: Es geht – zumindest bei bestimmten Triggerthemen – gar nicht unbedingt darum, dass dijenigen, die desinformiert oder vermeintlich desinformiert sind, die Fakten nicht kennen oder sich einen Bären haben aufbinden lassen. Dann könnte man sie mit guten Faktenchecks womöglich überzeugen.

Stattdessen gebe es – etwa im Streit um Corona-Maßnahmen – eine Leugnungskommunikation, die "immun gegen Faktenchecks" sei. Ob Corona als Schnupfen, als Grippe oder als von der chinesischen Regierung über uns gebrachtes Virus dargestellt werde, sei für diese Kommunikation unerheblich: Die im Rahmen der Leugnungskommunikation vorgebrachten Fakten seien zwar nicht miteinander kompatibel gewesen, hätten also theoretisch kollidieren müssen, aber sie hätten eben doch eines gemein gehabt: Es seien alles "Gegenbehauptungen gegen ein offizielles Narrativ" gewesen. Abgrenzungsbehauptungen. Und Journalisten hätten, so Kumkar, dann Querdenker-Demos besucht, um aufzuschreiben, dass dort dummes Zeug geredet werde. Nur, was war damit gewonnen, was war die Erkenntnis, wenn das dumme Zeug nur stellvertretend geredet wurde?

Entscheidend sei, so lese ich Kumkar, zu identifizieren, welche Konflikte es eigentlich gibt, wenn alternative Fakten in Dienst genommen würden. Es sind nicht unbedingt Konflikte um Fakten. Nochmal am Beispiel Corona-Maßnahmen:

"(E)s sind ganz harte, materielle, lebensweltliche Konflikte darüber, wie sich verschiedene gesellschaftliche Gruppen dazu ins Verhältnis setzen, wie Corona reguliert wird. Und ich glaube, Journalismus und Wissenschaft müssen besser darin werden, in genau solchen Fällen, in denen wir uns für alternative Fakten, Desinformation usw. interessieren, auch selber einen schärferen Blick dafür zu entwickeln, in welchen Konflikten das eigentlich ins Schwingen kommt."

Der "Allmählichkeitsschaden" von Affektpolitik

Kann man daraus nun schließen, dass Desinformation nicht Ursache, sondern Folge dieser Konflikte ist? Das wäre eine Überinterpretation. Ertragreicher als solche Zuspitzungen ist es, sich darüber hinaus in die Interviews zu vertiefen, die der Soziologe Steffen Mau in diesen Tagen mehreren überregionalen Medien gegeben hat, der "Zeit" (€), dem "Spiegel" (€) und heute nun der "Süddeutschen Zeitung" (€). Anlass ist ein neues Buch, das er mit zwei Kollegen geschrieben hat.

Mau wurde vor etwas mehr als einem Jahr bereits hier und da im Altpapier mit der Analyse zitiert, die Erzählung von einer "polarisierten Gesellschaft" sei falsch und "wirklich eine Überzeichnung". Diese Analyse, die zunächst positiv anmutet, ist nun erheblich erweitert. In der "SZ" wird er zitiert:

"Eigentlich geht es uns (…) nicht um die Polarisierung der Gesellschaft, sondern um die Konfliktdynamik und die Radikalisierung des Randes, die stark über die Bewirtschaftung von Affekten und Triggerpunkten wie der Gendersprache oder das Heizungsgesetz funktioniert."

Parteien – auch die, die früher mal eine Stammwählerschaft hatten – müssten ihre Anhänger emotionalisieren und "die Gegenseite skandalisieren", so Mau im "Spiegel". Das geschehe

"(m)it Affektpolitik. Die Parteien steuern dafür Triggerpunkte an. Das sind Punkte, an denen sachbezogene Diskussionen kippen und sich Auseinandersetzungen verhärten, obwohl es eigentlich um eher kleinere Themen geht."

Gefährlich sei aus seiner Sicht, dass ein "Allmählichkeitsschaden" entstehe – mit diesem Begriff, den er sich von der Versicherungswirtschaft geborgt habe, wurde er in der "Zeit" zitiert. Seine Erklärung des Begriffs: "Ich befürchte dass gerade ständig Wasser in das Fundament des Hauses der Demokratie eintropft. Und es ist wahnsinnig aufwendig, das durchnässte Fundament wieder trockenzulegen. Deswegen ist es so gefährlich, wenn Akteure aus der Mitte affektgeladene Diskurspolitik betreiben."

In der "Süddeutschen" ergänzt Mau heute:

"Eine beunruhigende Erkenntnis ist in diesem Zusammenhang übrigens – aus den USA gibt es dazu inzwischen gute Forschung –, dass die gefühlte Polarisierung eine Antriebskraft für echte Polarisierung sein kann. Wenn wir alle glauben, dass die Welt in zwei Lager gespalten ist, dann verhalten wir uns politisch auch so – und es wird real. Soll heißen: Bei jedem Sachproblem geht es nicht mehr um die Sache. Jeder will nur noch wissen, auf welcher Seite die eigenen Leute sind und wo die Gegner. Die reale Polarisierung ist dann eine Folge der gefühlten Polarisierung und nicht umgekehrt, wie man es erwarten würde."

Dass Journalistinnen und Journalisten, aber auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, gefragt sind, diese Polarisierung nicht zu befördern, indem sie die Lagerbildung durch Kategorisierungen befördern und sie (und gegebenenfalls auch sich) dadurch immer weiter zu bekräftigen, liegt auf der Hand.

Die polemische Technik der Antagonisierung

Dies ist das letzte Altpapier, bevor in Bayern gewählt wird. Bayern ist medial generell ganz gut repräsentiert in Gesamtdeutschland. Wenn im Fernsehen an einem Wahlabend eine Elefantenrunde ausgestrahlt wird, mit Vertreterinnen und Vertretern aller im Bundestag vertretenen Parteien – dann hat Bayern als einziges Bundesland seinen Extraplatz. Und wenn der FC Bayern, dessen Auftreten immer auch etwas von einer PR-Kampagne der bayerischen Identitäten hat, zum 384. Mal Champions League spielt, rutscht der kleine Ostberliner FC Union mit seinem allerersten Champions-League-Heimspiel auf den Startseiten überregionaler Nachrichtenportale aber mal ganz flott nach unten. So geschehen in dieser nun zu Ende gehenden Woche.

Aber ganz leicht hat es Bayern auch nicht immer. "Dass die Bayern anders sind, weiß jeder Spiegel- und Zeit-Leser, sie sind putzige Kerle, Exoten", schreibt Willi Winkler, der eigentlich als Autor der "Süddeutschen Zeitung" bekannt ist, im "Freitag" (€). Othering auf Lederhosenbasis.

Andererseits: Diese vermeintliche Andersartigkeit ist auch wieder selbstgewählter Teil der bayerischen politischen Diskurse. Willi Winkler schreibt auch über die in Bayern eingeübte polemische Technik der Antagonisierung und entdeckt gewisse Parallelen zwischen den Formulierungen des bayerischen "Simplicissimus"-Redakteurs Ludwig Thoma und – Hubert Aiwanger:

"Bei Thoma geht es gegen die Weimarer Republik, die er und seine Anhänger nur 'verabscheuen und hassen' können. 'Der Teufel hole Berlin und Alles, was dort unser Deutschland vergiftet, sein Schicksal durch großspuriges und pflichtvergessenes Wirtschaften besiegelt hat!’ Sein Schüler Aiwanger formuliert nicht ganz so ziseliert, aber nicht weniger deutlich, wenn er sein Publikum dazu auffordert, 'denen in Berlin [zu] sagen, ihr habt’s wohl den Arsch offen da oben’."

Um nun an die heutige Kolumne anzuschließen: Wie Erregungsbewirtschaftung durch Affektpolitik und Gegnerbeschimpfung funktioniert, konnte man im bayerischen Wahlkampf ganz gut beobachten. Aber nur ein Teil davon ist mit der jüngeren Affektpolitik zu erklären. Im bayerischen Bierzelt ging es, das arbeitet Willi Winkler gut heraus, bei Franz-Josef Strauß auch schon nicht anders zu.

Allerdings haben sich die Rahmenbedingungen stark verändert, wie Soziologe Steffen Mau in der "SZ" sagt. Affektpolitik, könnte man vielleicht sagen, macht das Bierzelt heute zu einem überregionalen Standard.

Mit dem neueren Handwerkszeug der Soziologie nochmal über die Aiwanger-Affäre zu gehen, könnte daher eine interessante Sache sein. Dass Aiwangers Freie Wähler in den Umfragen zugelegt haben, nachdem die "Süddeutsche" über das antisemitische Flugblatt aus dem Hause Aiwanger und in Hubert Aiwangers Schultasche berichtet hatte, verweist möglicherweise nicht unbedingt darauf, dass seine Wählerschaft der Ansicht ist, es würde alles gar nicht stimmen oder sei aufgeblasen. Die Schein- und Opfergefechte, die man im Internet und drumherum verfolgen konnte, deuten zwar genau darauf hin: Die Recherche sei schlecht, hieß es da (und sie saß ja auch an Tag 1 noch nicht); eigentlich stecke bestimmt die Ampel dahinter; es sei nur eine Jugendsünde; und das alles komme bestimmt nicht zufällig vor der Wahl raus. Womöglich ist der Konflikt ein anderer. Etwa: Von so einer "Süddeutschen Zeitung" aus quasi Berlin lassen wir uns doch nicht sagen, wo es lang geht.


Altpapierkorb (Mockridge-Berichterstattung, "Magazin Royale" vs. "Nius", Oschmann bei Lanz, Konstruktion des "Ostens", "Volks-Wärmepumpe", "Titanic", Hungriger Hugo)

+++ Lisa Kräher hat sich für "Übermedien" die jüngere Berichterstattung über Luke Mockridge noch einmal angeschaut, nachdem der "Spiegel" über Vergewaltigungsvorwürfe seiner Ex-Partnerin berichtet hatte und nun Teile davon vorläufig nicht mehr verbreiten darf: "Die Wirkung beim Publikum, dass ein längerer Teil des Textes, der auf der Ermittlungsakte basiert, von einem Gericht vorläufig untersagt wurde, schadet der Glaubwürdigkeit des 'Spiegels' jedenfalls – unabhängig davon, dass ein Gericht in erster Instanz kein Problem damit hatte. Zu sagen, Medien hätten nicht berichten dürfen, die 'Spiegel'-Geschichte hätte nicht erscheinen dürfen, und sie als Schmutzkampagne gegen Mockridge zu labeln, ist allerdings falsch. Zumal die Geschichte, wenn man sie sich mit Abstand noch einmal durchliest, viel differenzierter und unaufgeregter ist als die ganze Debatte über sie."

+++ "Nius" und Julian Reichelt dürften mehrere Verdächtigungen gegen die sogenannte "BSI-Folge" des "ZDF Magazin Royale" (Altpapier) nicht mehr wiederholen. Unter anderem den Verdacht, "zwischen Böhmermann und dem Innenministerium sei es zum Austausch brisanter Informationen gekommen, die zur Abberufung Schönbohms geführt hätten". Das berichtet dwdl.de.

+++ Markus Lanz’ Talk u.a. mit dem Autor eines Ostdeutschland-Buchs, Dirk Oschmann, wird breit nachbesprochen. Und Lanz für seine Hartnäckigkeit in der "FAZ" (€) gelobt, während die "Frankfurter Rundschau" einen pedantischen Versuch sah, "Oschmann kleine Ungenauigkeiten nachzuweisen".

+++ Im "Merkur" steht ein Text frei online, der sich mit einem "innerdeutschen Orientalismus" befasst – der Konstruktion des "Ostens": Sie "kommt einer Zeitreise in die jüngere Zeitgeschichte, in die Jugendzeit der eigenen Eltern gleich. Jeder Sprechakt, der 'den Osten' entwirft, überzieht einen gegenwärtigen Raum mit der Patina der DDR und verweist dabei auf seine eigene Zugehörigkeit zum Vergangenen, zur 'alten' Bundesrepublik. Der innerdeutsche Orientalismus ist eine Verweigerungshaltung, den betrachteten Raum wie auch den Raum, aus dem heraus betrachtet wird, mit der gesamtdeutschen Gegenwart zu synchronisieren; er ist eine spezifische Art, die Brille des Kalten Kriegs aufzusetzen und aufzubehalten. Nicht nur die Zeitschicht der untergegangenen DDR, sondern auch die der 'alten' Bundesrepublik ragt wie ein Rathausturm in das Panorama des gegenwärtigen 'Ostens’ hinein."

+++ Dass bei "Bild" nun (allerdings per Anzeige) die "Volks.Wärmepumpe" beworben wird, wo die Redaktion doch gerade noch über den "Heiz-Hammer" wetterte, darüber wundert sich – "huch?" – die "Süddeutsche".

+++ Die erste Ausgabe der Zeitschrift "Titanic" seit der erfolgreichen Rettungskampagne ist erschienen, und was soll man sagen? Zu wenige Untenrumwitze sind jedenfalls nicht drin.

+++ Markus Böhm stellt bei spiegel.de den Webvideostar mit dem Pseudonym Hungriger Hugo vor, der "Livestreams deutscher Webstars neu zusammenschraubt und Sound- und Videoeffekte auf sie loslässt". Good to know: "(A)ls Avatar nutzte er das Gesicht eines Dorfbewohners aus dem Computerspiel 'Minecraft', dessen Nase an einen Penis erinnert". Wer sich also mal richtig alt fühlen will —> hier entlang.

Am Montag schreibt das Altpapier wieder Klaus Raab. Schönes Wochenende!

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