Kolumne: Das Altpapier am 11. September 2024 Sind wir bereit, von ABC zu lernen?
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11. September 2024, 12:48 Uhr
Fact-Checking in einem Live-Format ist möglich, wenn die Moderatoren gut vorbereitet sind. Das ist vielleicht die wichtigste Erkenntnis aus dem TV-Duell zwischen Kamala Harris und Donald Trump. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.
Inhalt des Artikels:
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Internationalität ist in Deutschland ein Fremdwort
Autoren von Periodika mit einer langen Vorlaufzeit haben manchmal das Pech, dass ihr Text bei Erscheinen der entsprechenden Ausgabe von der Aktualität überholt wurde. Man kann aber auch das Glück haben, dass ein Text zum Zeitpunkt der Veröffentlichung eine noch wertvollere Ergänzung zu aktuellen Debatten ist, als man sich das beim Schreiben ausgemalt hat.
Auf einen Text, den Aladin El-Maffalani, Professor für Migrations und Bildungssoziologie an der TU Dortmund, für die am Dienstag erschienene neue Ausgabe des Vierteljahresmagazins "tazFuturZwei" geschrieben hat (aus der Klaus Raab hier am Montag schon zitiert hat), scheint mir das zuzutreffen. Der Beitrag ist Teil der in der Vergangenheit bereits im Altpapier erwähnten Reihe "Der Bullshit-Wort-Check". Das von El-Maffalani ausgewählte Wort lautet: Migrationshintergrund. Zu Beginn des Textes fragt er:
"Welche der folgenden Großstädte hat den geringsten Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund: Stuttgart, München, Düsseldorf oder Berlin? Die meisten schätzen höchstwahrscheinlich komplett falsch. Es ist Berlin."
Die Spekulation, dass auch Friedrich Merz ("Nicht Berlin ist Deutschland") falsch geschätzt hätte, scheint mir nicht abwegig zu sein.
El-Maffalani fragt außerdem:
"Wenn wir hören, dass 30 Prozent der Bevölkerung in Deutschland einen Migrationshintergrund hat, was weiß man dann eigentlich?"
Wir wissen, um hier mal kurz sarkastisch zu werden, zumindest, dass unter "Menschen mit Migrationshintergrund" nicht "die Menschen" fallen, die Sahra Wagenknecht (und viele andere Politiker) gern ins Spiel bringen (siehe erneut Altpapier von Montag).
El-Maffalani beantwortet seine eigene Frage so:
"Es handelt sich um 25 Millionen Menschen, die aus 200 Ländern weltweit stammen und in jeder Hinsicht diverser sind als die Menschen ohne Migrationshintergrund. Im Prinzip haben sie nur gemeinsam, dass sie in Deutschland leben, und zwar in erster oder zweiter Generation. Bereits ab der dritten Generation werden die Menschen statistisch nicht mehr systematisch erfasst."
Da Politik und Medien derzeit im "Ausländer raus"-Rausch sind, lautet die wichtigste Passage des Textes vielleicht:
"Der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund ist in den Städten hoch, in denen die wirtschaftliche Stärke groß und die Armutsquote gering ist. Diese Korrelation ist übrigens international beobachtbar, aber außerhalb des deutschsprachigen Raums spricht man von Internationalität. 'Migrationshintergrund' ist typisch deutsch. Die Verwechslung von Internationalität/Migrationshintergrund und sozialen Problemen übrigens auch."
Den Begriff "Migrationshintergrund" gibt es in Deutschland vermutlich deshalb, weil sich damit die vermeintlich "anderen" markieren lassen, weil er Abgrenzung ermöglicht. "Internationalität" klingt dagegen viel zu positiv, als dass der Begriff sich hier zu Lande durchsetzen könnte.
Der effektive Einsatz von Echtzeit-Faktenchecks
Einschätzungen zum "TV-Duell" in den USA werden wir in den kommenden Tagen noch reichlich lesen und hören. Konzentrieren wir uns zunächst auf Aspekte, die auch mit Blick auf die Gesprächsführung im deutschen Fernsehen von Belang sind.
Oliver Darcy, der bis kurzem den CNN-Medien-Newsletter "Reliable Sources" produzierte, lobt in seinem neuen Newsletter ("Status") die ABC-Moderatoren David Muir und Lindsey Davis
"Während des gesamten Abends bewiesen (sie) Autorität, indem sie Trump entschieden korrigierten und dem ehemaligen Präsidenten nicht erlaubten, unkontrolliert mit Lügen an die amerikanische Öffentlichkeit zu gehen. Das Duo überprüfte Trump in Echtzeit in Bezug auf Abtreibung, Einwanderung, die Ergebnisse der Wahl 2020 und vieles mehr. 'Das wirft die Prämisse über den Haufen, dass man keine Fakten überprüfen und Trump nicht unter Druck setzen kann', schrieb mir ein Nachrichtensprecher während der Debatte."
Das Magazin "Slate" stellt ebenfalls die Qualität der Moderierenden heraus:
"Ihre gründliche Vorbereitung und ihr ruhiges Auftreten zeigten sich auch in ihrem klugen und effektiven Einsatz von Echtzeit-Faktenchecks, die sie gelegentlich als Reaktion auf einige von Trumps bizarreren Behauptungen einsetzten. Die Überprüfung von Fakten in einer im Fernsehen übertragenen Debatte ist schwierig (…) (Sie) kann manchmal den Anschein erwecken, dass die Person, deren Fakten überprüft werden - ganz gleich, wie verdient die Faktenüberprüfung ist - von den Moderatoren angegriffen wird."
Davis und Muir hätten diesen Eindruck vermieden:
"Sie versuchten nicht, jede Lüge, die Trump erzählte, zu widerlegen, und sie ließen sich nie von Trumps ungenauen Behauptungen aus der Fassung bringen."
Effektiver ist es demnach, die gravierendsten Falschaussagen auszuwählen, weil dann der Impact der Korrekturen größer ist.
Wie auch immer: Fact-Checking in Echtzeit ist also möglich, wenn man sich vorher ausführlich damit beschäftigt, welche Falschbehauptungen ein Interviewpartner in einer Sendung vermutlich vorbringen wird. Vorbereitet waren die ABC-Moderatoren unter anderem darauf, dass Trump das Propaganda-Märchen von Haustiere essenden Einwanderern verbreiten wird.
Auch auf die Gefahr, naiv zu klingen: Es wäre - mit Blick auf die kommenden Landtagswahlen und die Bundestagswahl in ungefähr einem Jahr - zu hoffen, dass deutsche Live-Interviewer und die zuständigen Redakteure bei ARD und ZDF sich das Duell bei ABC unter diesem Aspekt genau anschauen. Und vielleicht auch unter folgendem Gesichtspunkt, den "Slate" so beschreibt:
"Wenn es etwas an der Moderation von Muir und Davis zu bemängeln gibt, dann ist es, dass sie sich gelegentlich zu weigern schienen, Harris auf einige von Trumps Provokationen reagieren zu lassen, während sie Trump einen Freibrief ausstellten, auf alles zu antworten, was Harris über ihn sagte (…) Aber letztendlich war die Entscheidung von ABC, Trump manchmal ausschweifen zu lassen, vernünftig. Einer der Hauptpunkte dieser Debatten ist es, den Zuschauern zu zeigen, wer die Kandidaten sind und wofür sie stehen. Indem man Trump erlaubte, auf ein paar abschweifenden, bösartigen und im Allgemeinen zusammenhangslosen Widerlegungen zu bestehen, vermittelte man den Zuschauern den unmissverständlichen Eindruck, dass Trump ein bösartiger, hohler Tyrann ist, der nur für sich selbst steht. Das ist ein journalistischer Service."
Das klingt für mich in diesem Fall sehr plausibel, aber es ist auch möglicherweise nicht immer die richtige Maßnahme.
Wer nachlesen will, was Harris und Trump im Detail sagten: Möglich ist das beim "Spiegel" (für den neun Kolleginnen und Kollegen den Live-Blog befüllten) oder bei Zeit Online (hier waren zwei Kolleginnen beim Protokollieren im Einsatz). Und wer wissen möchte, welcher Trump-Satz der "idiotischste" war, der schaue rein bei The New Republic.
Wer Fremdschäm-Momente erträgt, dem sei das "Morgenmagazin" der ARD empfohlen. Kurz nach halb sechs berichtete Torben Börgers in der Sendung live (der Ausschnitt ist hier eingebettet):
"Donald Trump wurde … vorhin von einer RIESEN-Traube von Journalisten umringt. 1.000 Journalisten haben die Debatte hier live verfolgt, und die haben sich natürlich gleich auf ihn gestürzt."
Alter Schwede, so ein Kindskopf ist also Korrespondent der ARD in Washington.
Kurz darauf fragte Moderator Till Nassif:
"Wie hast Du dieses TV-Duell erlebt?"
Klang so, als würde Nassif Börgers nach seinem Urlaub fragen. Der schüttete dann sein Phrasenschwein aus:
"Das war ein Kampf auf Augenhöhe, in dem sich beide nichts geschenkt haben."
Sogar bild.de ("Trump, der für maßlose Übertreibungen bekannt ist, stellte selbst für seine Verhältnisse absurde Behauptungen auf") war heute Morgen analytisch präziser als dieser ARD-Korrespondent.
Über den Instagram-Post, mit dem Taylor Swift direkt nach dem TV-Duell ihre Unterstützung für Harris und ihren Vizepräsidentschaftskandidaten Tim Walz bekundete, ist schon viel gesagt worden. Der allgemeinbildungsfördernde Aspekt am Ende des Posts scheint mir hervorhebenswert zu sein:
"I also want to say, especially to first time voters: Remember that in order to vote, you have to be registered! I also find it’s much easier to vote early. I’ll link where to register and find early voting dates and info in my story."
Wer die Bedeutung von Swifts Statement für den Wahlkampf verdeutlicht bekommen möchte: Dieser Ausschnitt aus einem Gespräch zwischen MSNBC-Moderatorin Rachel Meadows und Tim Walz könnte hilfreich sein - wegen der Reaktion von Walz. Kurz nach der Veröffentlichung von Swifts Post, den Walz zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu kennen scheint, liest Meadows diesen komplett vor ("not a very TV thing", wie sie selbst sagt). Und Walz? Reagiert darauf sehr emotional. Man könnte auch sagen: Er reagiert überhaupt nicht professionell, aber es wirkt in diesem Fall nicht unangenehm.
Altpapierkorb (Monitoring-Report zu "neuer Qualität" von Einschränkungen der Medienfreiheit, Springer-Reporter bei zwei Kundgebungen verletzt, ARD-Dokumentation zu Rassismus bei der Polizei)
+++ 756 Verletzungen der Medienfreiheit - 474 davon in EU-Mitgliedstaaten und 282 in Beitrittskandidatenländern - sind im aktuellen Bericht der Media Freedom Rapid Response (MFRR) für erste Halbjahr 2024 dokumentiert. Der vom European Centre for Press and Media Freedom, der European Federation of Journalists und dem International Press Institute erstellte Monitoring-Report wurde am Dienstag vorgestellt. dju.verdi.de geht in einer Pressemitteilung auf die Zahlen zu Deutschland ein: "(Hier) wurden 72 Vorfälle registriert, von denen 116 Medienschaffende oder -einrichtungen betroffen waren. Der Bericht stellt eine neue Qualität von Protesten fest, in deren Kontext es auch zu Einschränkungen der Medienfreiheit kam. So etwa bei den Bauernprotesten zu Jahresbeginn, bei denen die Auslieferung von Zeitungen blockiert wurde, Vandalismus und Hakenkreuzschmierereien an Redaktionsgebäuden. Aber auch gewaltsame Übergriffe auf Demonstrationen, insbesondere auf Kameraleute, sowie Nachstellungen und Drohungen mit einem Messer zählen zu den dokumentierten Vorfällen."
+++ Letzteres bezieht sich offenbar auf einen Vorfall im Juli, als der "Bild"- und "B.Z."-Reporter Iman Sefati vor seiner Haustür mit einem Messer bedroht wurde (Altpapier). An diesem Montag wurde Sefati nun gleich "bei zwei Kundgebungen der pro-palästinensischen und linken Szene in Berlin von Teilnehmern angegriffen und verletzt", meldet die "Jüdische Allgemeine" via epd.
+++ Für "epd medien" habe ich über Sebastian Bellwinkels ARD-Dokumentation "Die Polizei und der Rassismus - Alles nur Einzelfälle?" geschrieben, die trotz formaler Unzulänglichkeiten verdienstvoll ist - unter anderem, weil sie deutlich macht, dass mit dem Aufstieg der AfD auch ein die Polizei betreffendes Problem verbunden ist. Armin Bohnert, Polizeidirektor in Freiburg und Vorsitzender des Bundesverbands Polizei Grün, sagt im Film: "Wenn wir unseren Diensteid abgleichen mit den öffentlich zugänglichen Aussagen von AfD-Spitzenpolitikern, dann bin ich der Meinung, dass jeder da eine deutliche Diskrepanz erkennen muss, und dass es nicht vereinbar mit unseren Werten ist, für die wir im Dienst auch stehen müssen, diese Partei zu wählen." Bellwinkel kritisiert in dem Zusammenhang, es gebe keine "klare Abgrenzung der Innenminister zu Polizisten mit AfD-Parteibuch".
Das Altpapier am Donnerstag schreibt Ben Kutz.