Kolumne: Das Altpapier am 21. Oktober 2024 Platz im Nadelöhr
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21. Oktober 2024, 10:33 Uhr
In den USA prozessiert die Presse gegen alles vereinnahmende Künstliche Intelligenz. In Deutschland wurde "Frag den Staat"-Vertreter Semsrott zu einer Geldstrafe auf Bewährung verurteilt. Außerdem wird die 3sat-Diskussion internationaler. Und das islamistische Massaker bei "Charlie Hebdo" forderte, sozusagen, noch ein Opfer. Heute kommentiert Christian Bartels die Medienberichterstattung.
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Zeitungsmedium vs. KI-Konzern
Die ganz großen, noch gar entschiedenen und schon daher kaum zusammenfassbaren Konflikte auf die Länge eines (klar, langen) Zeitungsartikel runterbrechen, das kann Andrian Kreye ziemlich gut. Das war zum Beispiel im Juli so, als er den Begriff "Datenkolonialismus" in die Debatte brachte (als er das Buch "Datenraub – Der neue Kolonialismus von Big Tech ..." unter der Überschrift "Eingeborene, gebt uns eure Daten" besprach). Das war am Freitag so und kurz im Altpapierkorb Thema. Da ging es um einen Konflikt im Lande der Kolonialmacht, der USA, der anderswo ab und zu vermeldet wird, aber schon deshalb wenig Aufmerksamkeit bekommt, weil das Thema für die meisten Nutzer noch Zukunftsmusik darstellt.
Und zwar um einen unter bereits mehreren, aber einen besonders aufschlussreichen Konflikt zwischen einer Zeitung und einer KI-Firma. Oder, wie Kreye eingangs Spannung schürt: "Kampf der Giganten. Vergangenheit gegen Zukunft" ("SZ"/Abo). Bei der Zeitung handelt es sich um die "New York Times", die zwar schon wegen ihres Sprachvorteils im globalen Wettbewerb ganz gut dabei, aber eben doch eine auch noch gedruckt erscheinende Zeitung ist. Bei der KI handelt es sich um perplexity.ai, das man auch auf Deutsch nutzen kann und das (wenn man davon absieht, dass Geld von Jeff Bezos, dem Gründer und Chef eines der allerübelsten Datenkraken drin steckt) vergleichsweise sympathischen Ansätze verfolgt. Z.B., immer "eine ausführlich formulierte Antwort mit Links zu den durchwegs seriösen Quellen" zu geben.
Trotz seiner Fairness-Attitüde crawlt, also suche und benutze Perplexity Inhalte aber auch hinter Bezahlschranken, lautet einer der Vorwürfe. Ein anderer, den "Forbes" erhebt, das in den USA auch als gedruckte Zeitschrift erscheint, lautet, dass deren Recherchen in einem wichtigen (den Google-Magnaten Eric Schmidt betreffenden Fall) bei Perplexity in schrifttextlicher Form auf "ein winziges Icon mit dem Logo der Zeitschrift, das man anklicken konnte", reduziert wurden. Und in der Audio-Form eines selbstredend auch per KI erzeugten Podcasts dann "gar nicht mehr erwähnt" wurden. Wobei der aber mehr Reichweite erlangt habe als Forbes' Podcast. Zum Hören statt Lesen geht ja auch ein Megatrend. Kreye schließt:
"Um was es langfristig geht, ist ein Platz im Nadelöhr der künstlichen Intelligenz. In der Logik der technischen Entwicklung verschwinden die Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine immer deutlicher. Was in digitalen Urzeiten mit Lochkarten begann, dann über Codes, Text und grafische Oberflächen immer zugänglicher wurde, soll mit KI zu einem schlichten Dialog zwischen Anfrage und Funktion zusammenschmelzen. Wenn in einer Sprach-KI aber nur Frage und Antwort übrig bleiben, verdrängt das die Produzenten von Inhalten und Dienstleistungen in die Unsichtbarkeit ..."
Dass solch ein Plätzchen im Nadelöhr, falls man es findet, sich sowieso nahe an Unsichtbarkeit bewegen müsste, zeugt von Kreyes beiläufiger Sprachgewalt. Und die hilft, solche Debatten, Jahre bevor ihre Themen Deutschland erreichen, hierzulande vor Augen zu führen.
3sat-Debatte jetzt auch auf Englisch
Wenn wir bei zeitungsbasierten globalen Leitmedien sind, na sowas, das aktuelle beliebteste Steckenpferd der deutschen Medienmedien taucht darin auch auf: die deutsche 3sat-Debatte, die in beinahe jedem Altpapier der vergangenen Wochen vorkam. Also zumindest diesseits des Atlantiks, im englischen "Guardian" erschien sie unter der Überschrift "'We leave viewers smarter': fears over plans to close 'world’s most highbrow' TV station". Wow!
"'Wir lassen die Zuschauer schlauer zurück": Befürchtungen über die geplante Schließung des 'anspruchsvollsten' Fernsehsenders der Welt",
übersetzt wie die sehr gute Kölner Übersetzungs-KI deepl.com. Wobei: zurücklassen? Darum, nicht zurückgelassen zu werden, falls der lineare Sender 3sat in mittlerer Zukunft verschwinden würde, geht es den zahlreichen Kämpfern für seinen Erhalt. Unter denen der verdienstvolle Veteran Klaus Staeck (der mit den Arbeitervillen im Tessin ...) mit einem Appell im flimmernden Ippen-Werberahmen der "FR" noch Erwähnung verdienen könnte.
Überm "Guardian"-Artikel, also im Foto thront Gert Scobel im karierten Anzug neben einer Karaffe Wasser.
Der "European culture editor" des Blattes, der Deutsche Philip Oltermann, schreibt u.a.:
"'To make a daily feuilleton [arts and ideas] programme for television was something no one else dared do,' says the journalist and philosopher Gert Scobel, who presents several of the channel’s flagship shows. 'Everyone told us we would last only three weeks.' Among its mainstays are Scobel’s science programme Nano and the culture news programme Kulturzeit, which go out during mornings and evenings each weekday, as well as themed days on subjects as diverse as the dramatist Bertolt Brecht, Afghan history and genetics. It is the only channel to show all the three countries’ main news programmes, and to live-broadcast the two-week-plus Theatertreffen festival in Berlin and readings from the three-day Bachmannpreis poetry competition in Klagenfurt."
Und schon, dass das im Deutschen seit Jahrhunderten eingebürgerte französische Fremdwort "Feuilleton" nicht ins Englische übersetzt werden kann, sondern in eckigen Klammern erklärt werden muss, zeugt von Europas komplizierter Vielfalt! Oltermann konzediert, nachdem er szenisch mit dem Sonntagmorgen-Programm ("... a one-hour philosophical discussion on trauma psychology, followed by a book review programme and a classical concert by the Munich Radio Orchestra") einstieg, weiter unten aber auch, dass das lineare 3sat-Programm "zunehmend aus Wiederholungen von historischen Dramen, Krimis und Naturdokumentationen" besteht. Und zitiert nicht so 3sat-euphorische Stimmen wie die Stefan Niggemeiers.
Ende dieser Woche könnten die Ministerpräsidenten Beschlüsse fassen, die auch 3sats weiteres Schicksal betreffen. Daher meldete sich nun auch der österreichische ORF zu Wort, der ein Viertel des 3sat-Programms beisteuert, und spricht sich "deutlich für den Erhalt von 3sat" aus. Durch 3sat "werde der politische Diskurs in Europa nachhaltig gefördert" (dpa/zeit.de). Aus der Schweiz, deren SRG zehn Prozent beiträgt (aber ja die öffentlich-rechtliche Anstalt ist, die den härtesten Sparkurs einschlagen musste, um überhaupt weiterbestehen zu können), verlautete übrigens vor etwas Längerem schon, dass die dortigen Entscheidungsträger die 3sat-Beteiligung "mittelfristig streichen" wollten ("NZZ").
Wenn der "Guardian" mit einer Programmvorschau einsteigt, können wir in diesem Abschnitt mit einer aussteigen. Am heutigen Montagabend bringt der Kultursender einen großen "Seenland Österreich"-Themenabend, dem leider auch die für meinen persönlichen Geschmack wichtigste 3sat-Sendung "ZiB 2" zum Opfer fällt, obwohl sie auf ORF 2 läuft. Ja, wo bleibt denn da die Förderung des politischen Diskurses in Europa? (Oder geht's den Österreichern nicht zuletzt auch um Tourismus-Förderung?)
§353d auf dem (weiten) Weg nach Karlsruhe
Die "taz", die ja in knapp einem Jahr als erste überregionale deutsche Tageszeitung den Schritt wagen wird, auf werktägliches Gedrucktwerden zu verzichten (Altpapier), hat seit kurzem einen "runderneuerten Webauftritt mit neuen Schriften, neuer Bildsprache und neuem Seitenaufbau". Klicken Sie hier zu taz.de. Wie hieß das früher, als Internetauftritt-Relaunchs noch öfters besprochen wurden? Aufgeräumt ist der Auftritt. Womöglich machen äußerst unterschiedliche Überschriften-Typografien noch gespannter auf das Kleingedruckte darunter. Aus der PM abgespeichert gehört vielleicht die Info, dass rund "70 Prozent der Zugriffe ... über das Smartphone" kommen, "weshalb sich das neue Erscheinungsbild vor allem am mobilen Format orientiert und für dieses optimiert ist".
Die beiden obersten Themen auf der Medien-Subseite gelten auch am Montagmorgen noch dem Berliner Landgerichts-Prozess gegen Arne Semsrott von "Frag den Staat", um das es am Donnerstag hier ausführlich ging. Am Freitag fiel das Urteil im Rechtsstreit um den Strafgesetzbuchs-Paragrafen 353d. Unter der tazzigen Überschrift "Schuldspruch für die Pressefreiheit" fasst Johanna Treblin zusammen:
"Das Strafmaß ist denkbar gering: Das Gericht hat lediglich eine Verwarnung ausgesprochen. Denn Semsrott muss die angesetzten 20 Tagessätze à 50 Euro – die Staatsanwaltschaft hatte 40 Tage gefordert – nur dann zahlen, wenn er sich innerhalb der kommenden zwölf Monate erneut strafbar macht. Geldstrafe auf Bewährung, sozusagen. Möglich wäre eine Strafe bis zu einem Jahr Haft gewesen."
In Berlin wurde und mutmaßlich irgendwann in Karlsruhe wird über etwas Medienrechtliches von grundsätzlicher Natur verhandelt. Im am Donnerstag hier empfohlenen lto.de-Beitrag wird Thomas Fischer, Ex-Bundesgerichtshofs-Richter und selber aufmerksamkeitsstarker Kolumnist, mit der Ansicht "Der Grundsatz ist seit 40 Jahren geklärt" zitiert. Dagegen argumentiert Semsrott,
"dass der Paragraf in einer veränderten Medienwelt nicht mehr zeitgemäß sei. Seit den 1970er-Jahren habe sich die Form, in der öffentliche Debatten geführt werden, verändert. Weil heute Fake News und gezielte Desinformationen auf allen Kanälen ihre Schleifen drehten, seien Originalquellen wichtiger denn je. Denn der Journalismus kämpfe um seine Glaubwürdigkeit – und direkte Zitate könnten dazu beitragen",
erläutert Antonia Groß bei uebermedien.de (Abo) unter der Überschrift "Ein Urteil, das keine Klarheit bringt"
Was zumindest eines der grundsätzlichen Probleme der deutschen und europäischen Medienlandschaft auf den Punkt bringt: Viele Gesetze stammen (mindestens) aus dem vergangenen Jahrhundert, und für die Mühe, sie gegebenenfalls an sich rasant verändernde Bedingungen anzupassen – zu denen die globale, praktisch ausschließlich von außereuropäischen Akteuren getriebene Medienlandschaft ganz besonders gehört –, hat der Gesetzgeber, also die Regierungspolitik, echt keine Zeit. Andere Wege als die selbst im günstigsten Fall jahrelangen Rechtswege, die irgendwann zu einem letztinstanzlichen Urteil führen, gibt es insofern gar nicht.
Nachrufe auf den "Charlie Hebdo"-Webmaster
Islamismus gehörte, als die aktuelle Bundesregierung ihre Arbeit aufnahm, nicht zu ihrem Schwerpunkt. Ganz im Gegenteil.
Seit in Solingen ein abgelehnter, aber geduldeter syrischer Asylbewerber drei Menschen per Messer ermordete und weitere schwer verletzte, ist Islamismus wieder ins Blickfeld der aktuellen Bundesregierung gerückt. Dazu beschloss der Bundestag am Freitag ein "Sicherheitspaket", das auch unter netzpolitischen Aspekten heftig umstritten war und bleibt. Markus Reuter kritisierte das bei netzpolitik.org scharf. Tatsächlich fielen digitale Teile des Paketes (etwa was Befugnisse, Gesichtserkennungs-Werkzeuge einzusetzen, angeht), dann im Bundesrat durch, aber aus genau entgegengesetzten Gründen. Weil Unionsparteien sie für "nach den Abschwächungen, die in den Verhandlungen zwischen SPD, Grünen und FDP vereinbart wurden, wirkungslos" hielten ("FAZ").
Unterdessen wurde ein weiterer geplanter Mordanschlag eines weiteren abgelehnten, aber geduldeten Asylbewerbers, nun eines Libyers, nun auf die israelische Botschaft, verhindert – durch Hinweise ausländischer Dienste, die im Internet mehr Befugnisse als die deutschen haben. Darum soll es jetzt hier aber nicht mehr gehen.
Sondern darum, dass einer der ersten islamistischen Mordanschläge in Europa, der sich dezidiert gegen Medien richtete, sozusagen ein weiteres Todesopfer gefordert hat. Das Massaker in der "Charlie Hebdo"-Redaktion wird sich im Januar zum zehnten Mal jähren.
"Die Nachrufe in den französischen Zeitungen lesen sich wie Hommagen an einen Mann, der mit einer besonderen Kraft und Ironie sein Schicksal trug – und sein Schuldgefühl, überlebt zu haben. Nur knapp zwar, mit schweren Verletzungen, großen Schmerzen und in ständiger Zerrissenheit, aber eben dennoch",
berichtet Oliver Meiler auf der "SZ"-Medienseite (Abo) aus Paris zum Tod des CH-Webmasters Simon Fieschi. Und schildert dann, wie Fieschi später errechnete, "wie viel Geld den Verletzten und den Angehörigen an Entschädigung zustand", und mit seiner Tochter einige der Gerichtsverhandlungen gegen die zahlreichen Mörder verfolgte. "Nouvelle victime de la tuerie de 'Charlie Hebdo'", schreibt liberation.fr. Weil auch gezeichnet nicht nur für frankofone Zeitgenossen interessant, dürfte dieser "Charlie Hebdo"-Beitrag von 2020 sein.
Altpapierkorb ("ZDFmitreden", Wagenknecht/Weidel, Strunz/Euronews, neue X-AGBS, nochmals KI)
+++ Der Sender, der 3sat vor allem steuert, das ZDF, hat ein gar nicht so übles Online-Instrument zur Befragung seines Publikums entwickelt, bzw. einen "Kompromiss aus echter Publikumsbeteiligung und gelenkter Marktforschung", wie Peer Schader bei dwdl.de befindet. Allerdings wird die "ZDFmitreden-Community" wohl nicht gefragt, was sie von 3sat und seiner linearen Programmierung hält, sondern was sie eigentlich von Halloween hält oder ob die AfD verboten werden sollte. +++
+++ Manchmal herrscht in der breiten Mitte der deutschen Medienlandschaft so schöne Einigkeit, wie es sie im echten Leben kaum mehr gibt. Z.B, als alle das "TV-Duell" zwischen Sahra Wagenknecht und Alice Weidel als aber auch gar keiner Aufmerksamkeit wert fanden und damit viel Aufmerksamkeit auf den kleinen Bewegtbildkanal der "Welt" lenkten (Altpapier). Einen schönen Überblick über das "wahrnehmende Ignorieren" der Sendung bietet Timo Rieg bei "Telepolis". +++
+++ Springer-Veteran Claus Strunz übernimmt vorläufig sogar mehrere Chefposten bei "Euronews", also dem ursprünglich öffentlich-rechtlichen Nachrichtensender, der vielleicht die Chance gehabt hätte, eine EU-europäische Öffentlichkeit zu schaffen, aber von den deutschen Anstalten (schon wegen der Vielzahl ihrer eigenen Kanäle) nie gewollt wurde; sie waren ja auch nie dran beteiligt. Inzwischen ist Euronews längst nicht mehr öffentlich-rechtlich, sondern gehört einer portugiesischen Investmentfirma, die es einem ägyptischen Milliardär abkaufte ("Welt"). +++
+++ Neue AGBs, denen Nutzer von Ex-Twitter X zustimmen müssen, könnten damit zu tun haben, dass Wichita Falls in Texas zum Haupt-Gerichtsstandort werden soll, da dort ein Richter tätig sei, der viele Tesla-Aktien besitzt. Und Tesla gehört ja wie X Elon Musk. Die News entnahm spiegel.de US-amerikanischen Medien. +++
+++ "Wir haben unsere Gesellschaft zu einem sehr großen Teil auf öffentlicher Infrastruktur aufgebaut", zitiert netzpolitik.org den für Mozilla, also den Anbieter des unabhängigen Browsers Firefox, tätigen Juristen Kush Amlani. "Die öffentliche Hand hat Straßen, Eisenbahnlinien und Stromtrassen gebaut. Das gleiche könnte sie nun für KI tun, ist Amlani überzeugt", fordert also "eine öffentliche KI-Infrastruktur". Solche Ideen scheinen europaweit gar nicht so aussichtslos, wie sie vor dem Hintergrund der deutschen Infrastruktur-Politik klingen. +++
Das nächste Altpapier kommt am Dienstag auch von Christian Bartels.