Ost-Berlin, 10. November 1989 Das SED-Politbüro nach dem Fall der Berliner Mauer

09. November 2022, 05:00 Uhr

Nach dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 versucht DDR-Staatschef Egon Krenz verzweifelt, wieder Herr der Lage zu werden. Seine Generäle beraten, ob die Grenze durch die NVA wieder geschlossen werden sollte.

Die Führung der KPdSU in Moskau ist in hohem Maße verärgert über die am Morgen des 10. November 1989 bei ihnen einlaufende Nachricht von der Öffnung der Berliner Mauer am Tag zuvor. Umgehend fordert sie von SED-Chef Egon Krenz eine Erklärung. Krenz telegrafiert Michail Gorbatschow, dass größere Menschenansammlungen vor den Berliner Grenzanlagen in der Nacht diese Maßnahme erzwungen hätten. Aber seit sechs Uhr sei die Kontrolle wiederhergestellt. Man habe alles im Griff. Die Grenze sei zu. Das stimmt zwar nicht einmal ansatzweise, soll die Genossen in Moskau aber beruhigen.

Grenze mit Gewalt wieder schließen?

Krenz, der erst seit gut drei Wochen im Amt ist, versucht verzweifelt, wieder Herr der Lage zu werden. Er bildet eine siebenköpfige "operative Führungsgruppe" des Nationalen Verteidigungsrates. Die Generäle beraten, ob die Grenze durch die NVA wieder geschlossen werden sollte. Der Chef der Grenztruppen, Generaloberst Baumgarten, rät davon ab: "Kaum machbar ohne Blutvergießen." Stattdessen wird beschlossen, eine motorisierte Schützendivision sowie einige Eliteeinheiten, die im Häuserkampf ausgebildet sind, in "erhöhte Gefechtsbereitschaft" zu versetzen. 

"Katzenjammer" im Politbüro

Um 9 Uhr beginnt eine Sitzung des SED-Politbüros. Unter den Genossen herrscht, so erinnert sich Günter Schabowski, "Katzenjammer". Krenz fragt streng: "Wer hat uns das eingebrockt?" Er sieht Schabowski an. Der schweigt. Aber es bleibt keine Zeit für eine Diskussion über die Schuldfrage, denn bereits eine Stunde später ist eine Sitzung des Zentralkomitees der SED anberaumt. Krenz gibt nur eine kurze Erklärung zu den Vorkommnissen der vergangenen Nacht ab: "Genossen, ich bitte um Verständnis. Der Druck war nicht zu halten. Es hätte nur eine militärische Lösung gegeben. Nur durch das besonnene Verhalten unserer Grenzsoldaten und der Genossen des Ministeriums für Staatssicherheit ist die Sache mit großer Ruhe bewältigt worden."

"Erhöhte Gefechtsbereitschaft"

Am Mittag des 10. November 1989 werden die motorisierte Schützendivision und die Eliteeinheiten wie von der "operativen Führungsgruppe" des Nationalen Verteidigungsrates beschlossen, in "erhöhte Gefechtsbereitschaft" versetzt. Panzer, Artillerie und Munition werden auf Lkw verladen. "Schnell kursierte das Gerücht im Truppenteil", erinnert sich Jahre später ein Soldat, "dass wir mit gepanzerter Technik in Richtung Brandenburger Tor verlegt werden, um dort die Besetzung der Mauer zu beenden." Doch die Einheiten rücken nicht aus. Sie bleiben auf dem Kasernenhof stehen. "Es wurde uns nur befohlen, alle 20 Minuten die Dieselmotoren der Lkw vorzuwärmen." Es wird eine Nachrichtensperre über die Aktion verhängt. Zudem dürfen die Soldaten die Kaserne nicht verlassen und müssen ihre Waffen ständig tragen.

"Richtige, kluge und weise Entscheidung"

In Moskau gibt Außenminister Eduard Schewardnadse am späten Nachmittag des 10. November eine Pressekonferenz. Die neuen Reiseregelungen der DDR-Führung lobt er als eine "richtige, kluge und weise Entscheidung". Sein Chef Gorbatschow ersucht die Regierungschefs der Westmächte, eine Destabilisierung der Situation nicht zuzulassen. Man möge darauf hinwirken, dass die Ereignisse nicht einen Verlauf nehmen, der nicht wünschenswert wäre, fügt er sybillinisch hinzu.

Die SED-Führung, die nach wie vor nicht Herr der Lage ist, hält die beiden NVA-Einheiten auch in der folgenden Nacht in "erhöhter Gefechtsbereitschaft". Erich Mielke, Minister für Staatssicherheit, befiehlt seinen Untergebenen: "Aufgrund der besonderen Situation haben ab sofort alle Angehörigen des Ministeriums für Staatssicherheit bis auf Widerruf in den Diensteinheiten und Einsatzobjekten zu verbleiben." 

Unübersehbare Folgen durch bloße Truppenbewegungen

Einen Tag später, am 11. November 1989, werden die beiden NVA-Einheiten aus der "erhöhten Gefechtsbereitschaft" in eine "ständige Gefechtsbereitschaft" zurückgeführt. Zum einen hat sich die Lage aus Sicht der SED an der Mauer weitestgehend beruhigt. Zum andern verwerfen weitere ranghohe NVA-Offiziere die mögliche Zielstellung, die Grenze mit militärischen Mitteln wieder zu schließen. Dies sei unmöglich, weil bereits bloße Truppenbewegungen im Raum Berlin unübersehbare Folgen hätten. Am 29. November 1989 wird schließlich auch die "ständige Gefechtsbereitschaft" aufgehoben.

Der Artikel wurde erstmals 2014 veröffentlicht.

Mehr zum Thema: