Botschaftsbesetzung von Prag Genschers berühmte Balkonrede - und wie sie wirklich endete
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30. September 1989
30. September 2021, 05:00 Uhr
Prag, Berlin, Bonn, Moskau, New York: Im Herbst 1989 wurde das Botschaftsdrama von Prag zu einem weltpolitischen Ereignis. Auf dem von DDR-Flüchtlingen besetzten Botschaftsgelände drohte eine humanitäre Katastrophe. Es war Hans-Dietrich Genschers große Stunde - er fand, quasi in letzter Minute, eine Lösung. Seine anschließende Rede vom Balkon am 30. September 1989 ist weltberühmt - wie sie wirklich endete, wissen allerdings nur die wenigsten.
Im Sommer 1989 wurde die bundesdeutsche Botschaft in Prag - ebenso wie die westdeutschen Vertretungen in Ost-Berlin, Warschau und Budapest - zum Zufluchtsort von ausreisewilligen DDR-Bürgern. Am 19. August 1989 lebten "nur" 120 Flüchtlinge dort, täglich kamen aber weitere hinzu. Zum Schluss hielten sich mehrere Tausend Ausreisewillige auf dem Botschaftsgelände auf. Im Garten der Botschaft wurden Zelte und sanitäre Anlagen aufgestellt, sogar im Torbogen der Botschaft standen drei- und vierstöckige Betten.
Prager Botschaft platz aus allen Nähten
Die meiste Zeit verbrachten die Flüchtlinge mit dem stundenlangen Schlangestehen - an der Essensausgabe sowie vor den Duschen und WCs. Bei Regen spülte das Wasser Fäkalien aus den überlasteten Chemietoiletten. Obwohl die Prager Stadtwerke tankwagenweise Wasser lieferten und täglich Berge von Müll entsorgten, verschlechterten sich die hygienischen Bedingungen zusehends. Und dennoch wollten die Regierungen der DDR und Tschechoslowakei nicht nachgeben und die Ausreise der Botschaftsbesetzer gestatten.
DDR-Außenminister will sich Zeit lassen
Eine Lösung bahnte sich erst auf internationalem Parkett an. Am 25. September 1989 begann in New York die Vollversammlung der Vereinten Nationen. Außenminister Hans-Dietrich Genscher vertrat die Bundesrepublik Deutschland und nutzte die Gelegenheit, um das Thema der Botschaftsflüchtlinge mit dem DDR-Außenminister Oskar Fischer zu bereden. Genschers langjähriger Büroleiter Frank Elbe, damals "vortragender Legationsrat", erinnert sich:
Der DDR-Außenminister hörte uns zwar zu, und versprach auch etwas zu tun, wollte die Frage aber erst nach der Rückkehr in die DDR aufgreifen. Das wäre dann eine Woche später gewesen. Und deswegen war die Reaktion von Herrn Fischer in einem hohen Maße unbefriedigend, denn uns erreichten inzwischen Nachrichten, dass die Botschaft überlaufe, dass die Statik des Gebäudes es nicht hergeben würde, noch mehr Personen aufzunehmen und dass die Gefahr einer Entwicklung von Seuchen bestehe.
In dieser Situation habe Genscher spontan entschieden, die Sache mit dem sowjetischen Außenminister zu besprechen, erinnert sich Frank Elbe. Sofort habe er sich mit dem Büro von Schewardnadse in Verbindung gesetzt. "Zu unserer sehr freudigen Überraschung, bekamen wir den Termin, schon 20 Minuten später", so Elbe.
Genscher fährt mit Blaulicht zum "Großen Bruder"
Hans-Dietrich Genscher schilderte die Situation in New York immer mit einem Schmunzeln: "Schewardnadse ließ einen anderen Außenminister warten und bat mich sofort in die sowjetische Botschaft zu kommen. Das war insofern noch unter ganz einzigartigen Umständen, als unsere Fahrzeuge nicht vor dem Hotel standen, so dass schließlich Herr Elbe und ich in einen Polizeiwagen der Verkehrspolizei von New York stiegen und mit Blaulicht und Sirene vorfuhren vor der sowjetischen Botschaft. Das war wahrscheinlich auch noch nicht dagewesen. Und ich sagte, 'die Zahl steigt immer weiter an, die Lage wird unerträglich.' Und da sagte Schewardnadse: 'Sind Kinder dabei?' Und ich sagte: 'Viele!'. Und er sagte: 'Ich helfe Ihnen!'" Das war am Donnerstag.
Und tatsächlich: Mit sowjetischer Hilfe kam endlich Bewegung in die Sache. Am Freitag, 29. September 1989, feierte das Politbüro der SED in der Deutschen Staatsoper Berlin den 40. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China. Am Rande des Festaktes traf sich Erich Honecker mit den Mitgliedern des Politbüros. Zwischen 17:00 und 17:20 Uhr gab das Führungsgremium der SED zu Protokoll:
- Dem Vorschlag, die in den Botschaften der BRD in Prag und Warschau befindlichen DDR-Bürger mit Zügen der Deutschen Reichsbahn von Prag bzw. Warschau über das Territorium der DDR in die BRD zu transportieren, wird zugestimmt. Der Minister für Auswärtige Angelegenheiten wird beauftragt, zur entsprechenden Zeit eine Mitteilung zu veröffentlichen.
- Der BRD-Regierung wird anheimgestellt, sich dafür einzusetzen, daß die weitere Aufnahme von DDR-Bürgern in die BRD-Botschaften im Ausland nicht gestattet wird.
- Über diesen humanitären Akt der Regierung der DDR ist ein Kommentar in der Presse in Rundfunk und im Fernsehen zu veröffentlichen.
Die Rede vom Balkon der Botschaft ...
Inzwischen flog BRD-Außenminister Hans-Dietrich Genscher von New York zurück nach Bonn und von dort weiter in die Tschechoslowakei. Am Abend des 30. Septembers erreichte die Bonner Abordnung das Palais Lobkowicz – den Sitz der Bonner Botschaft in Prag. Der Außenminister hielt seine Rede, die wohl berühmteste Rede der Weltgeschichte mit einem unvollendeten Satz. Nur wenige wissen allerdings, dass die Rede an dieser Stelle nicht zu Ende war.
Ich darf Sie im Namen der Bundesregierung begrüßen. (Jubel) Sie werden mir erlauben, dass ich den Hallensern unter ihnen einen besonderen Gruß ... (Jubel) Ich bin zu Ihnen gekommen - (Zurufe im Publikum: 'Ruhe!' , 'Lauter!') - Ich bin zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise..." (Jubel).
... und wie Genschers Rede wirklich endete
Genschers damaliger Büroleiter Frank Elbe gehörte zu den Augen- und Ohrenzeugen: "Wir kennen alle nur das Bild, von der Jubelszene, von dem nahezu unbegreiflichen Freudenausbruch, als Herr Genscher verkündet hat, dass ihre Ausreise bevorsteht. Niemand hat die Szene miterlebt, am Fernsehschirm später, als Herr Genscher den Flüchtlingen eröffnen musste, das sie mit den Zügen noch mal durch die DDR fahren müssten." Als Genscher nämlich erklärte, dass die Züge durch die DDR fahren würden, gab es keine Zustimmung, sondern tiefe Sorge und Ablehnung bei den Flüchtlingen in Prag.
Da gab es einen hellen Aufschrei, ein tausendkehliges: 'NEIN!'
Genscher habe die ganze Kraft seiner Persönlichkeit zur Geltung gebracht, und eindringlich gesagt, dass er auch aus eigener Erfahrung spreche, dass er die Menschen verstehen könne, da er diesen Weg auch einmal gegangen sei, erinnert sich der damalige Büroleiter des Bundesaußenministers. "Diese sehr eindringliche Rede von Hans-Dietrich Genscher wirkte dann vertrauensbildend, und danach war im Grunde genommen alles klar." In Sonderzügen, begleitet von hohen bundesdeutschen Beamten, fuhren die Botschaftsbesetzer über Dresden und durch das Vogtland in die Freiheit nach Bayern.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Thüringenjournal: 30 Jahre Deutsche Einheit | 02. Oktober 2020 | 19:00 Uhr