Frauenmorde im Arbeiter- und Bauernstaat Serienmörder im Sozialismus

16. September 2022, 08:44 Uhr

Vor mehr als 50 Jahren erschüttert eine Mordserie das oberschlesische Kohlerevier, industrielle Kraftkammer in der sozialistischen Volksrepublik Polen. 14 ermordete Frauen – jahrelang tappen die Ermittler im Dunkeln. Ein Ermittler aus der DDR wird hinzu gezogen – denn auch in Ostdeutschland gab es solche Mordserien. 1972 wird ein Mann ferstgenommen, doch bis heute gibt es Zweifel, ob es sich wirklich um den sogenannten "Vampir" handelt.

Es ist fast ein halbes Jahrhundert her, als Frauen im oberschlesischen Kohlenpott meist nur in Begleitung von Männern auf die Straße gingen. Sie hatten Angst, das nächste Opfer des sogenannten "Vampirs" zu werden. Sieben Jahre lang versetzte ein Unbekannter die Bewohner der dichtbesiedelten Bergbau- und Hüttenregion in Angst und trieb die besten Ermittler des Landes in Verzweiflung. Ihn zu finden schien aussichtslos.

Am Wegesrand liegt das Opfer eines Serienmörders. Perspektive auf einen Rockansatz und nackte Beine. Am linken Fuß trägt das Opfer einen Halbschuh, der rechte Fuß ist blutbeschmiert und nackt. 73 min
Bildrechte: MDR/Jan Mammey

Angst vor einsamen Straßen

"Wir hatten alle Angst. Alleine hat man sich als Frau nicht vor die Tür getraut. Keine der Frauen hat den Täter je gesehen, denn er kam immer von hinten und schlug sofort zu", sagt Weronika Kania, damals junge Mutter, die unweit eines der Tatorte wohnte. Ihr ganzes Leben lang und noch Jahrzehnte später schaute sie sich immer wieder um, wenn sie alleine auf der Straße war. Hörte sie Schritte, bekam sie es mit Angst zu tun – so tief hatte sich das Mordgeschehen bei ihr eingebrannt.

Der Tod lauert auf dem Arbeitsweg

Der Täter überfiel die Frauen meistens auf ihrem Arbeitsweg, schlug in der Dämmerung zu. Häufig nutzten sie Abkürzungen, um nach ihrer Schicht schnell bei den Kindern und Ehemännern zu sein und ahnten nicht, dass sie ihren letzten Weg gehen.

"Auch wenn er bereits sicher war, dass das Opfer nicht überleben wird, schlug er weiter zu.(…) Einem der Opfer hat der Täter sogar den Venushügel rausgeschnitten. Die Ermittler waren sich sicher: Er perfektioniert sein Handeln. Das, was er bislang tat, hat ihn nicht mehr befriedigt. Sie ahnten – er wird von nun an immer brutaler vorgehen."

Przemysław Semczuk

Das erklärt Przemysław Semczuk, Autor und Journalist, der jahrelang Archive durchforstete und ein Buch über den "Vampir" schrieb.

Sexuelles Motiv?

Der Täter habe seine Opfer nie vergewaltigt, ein sexuelles Motiv wurde daher schnell ausgeschlossen. Auch Diebstahl soll für ihn kein Anreiz gewesen sein. Was war also sein Motiv?

Der erste Mord geschah 1964, der letzte 1970. Trotz aller Bemühungen, die Mordserie geheim zu halten, sickerten immer mehr grausame Details an die Öffentlichkeit. Weder das Abfangen von Briefen an Verwandte im ganzen Land, in denen die allgegenwärtige Angst beschrieben wurde, noch offizielles Schönreden brachten Ruhe in das "Arbeiter- und Bauernparadies" zurück. 

Serienmorde in der DDR

Als 1966 die Nichte des späteren Parteichefs Edward Gierek ermordet wird, schrillen auch ganz oben die Alarmlocken. Nun geht es nicht mehr "nur" um einen Serienmörder, sondern um einen, der die ganze sozialistische Volksrepublik herausfordert, die Ermittler vorführt und weiter mordet. Die besten Ermittler des Landes werden mit dem Fall betraut, doch auch sie schaffen keinen Durchbruch. Der Vampir tappt in keine der gestellten Fallen. Ähnlich schwer tun sich Ermittler in der DDR mit der Aufklärung von zwei Mordserien. Fast zwei Jahre dauert die Fahndung nach dem Kindermörder von Eberswalde und auch die Spurensuche nach dem Würger von Plauen streckt sich über Jahre.

Eine Million für die Ergreifung des Täters

In Polen wird 1968 eine Belohnung in Höhe von eine Million Zloty ausgerufen. Doch auch das hilft nicht – und erschwert der "Volksmiliz" sogar die Ermittlungsarbeit. "Das war unheimlich viel Geld. Dafür konnte man sich einige Häuser kaufen. Und das hat dann die Phantasie der Leute beflügelt. Es kamen zig tausende Denunzianten-Briefe", erläutert Semczuk. Die Hoffnung auf das große Geld provozierte Versuche, den eigenen Mann zu denunzieren. Ausgezahlt wurde das Kopfgeld nie.

Auch Maria Marchwicka war vorgeworfen worden, nur des Geldes wegen ihren Ehemann angezeigt zu haben. Er neige zu Hause zu gewaltsamen sexuellen Praktiken und komme mit Blutspuren an seinen Schuhen nach Hause. 1972 nehmen Milizionäre den 44-jährigen Zdzisław Marchwicki fest. Für ihn beginnt ein langer Weg an Verhören und späteren Gerichtssitzungen. 

Täter oder Sündenbock

Marchwicki war zwar Nachbar des ersten Opfers und hielt sich in der Nähe einiger Tatorte auf, doch Buchautor Semczuk formuliert in seinem Buch Zweifel daran, dass der Hilfsarbeiter in einer Kohlegrube der wahre Täter war. "Er war ein idealer Sündenbock. Ein einfacher Mensch, dem ein ganzes System gegenübergestellt wurde. Am Anfang dachte er sich: gut, ich gebe alles zu und es wird doch gleich klargestellt. Der Richter wird sagen, dass es alles nicht stimmt, dass ich es nicht getan habe. Aber als er immer mehr in die Enge getrieben wurde, wurde er immer schwächer, hatte keine Kraft sich zu verteidigen. Bis ihm alles gleichgültig war", erklärt er.

In diesem Zustand lernte ihn Mieczysław Chudzik kennen, der bis heute als Kameramann arbeitet und Marchwicki im Gerichtssaal gefilmt hat, der Kulisse wurde zu einem regelrechten Schauprozess mit Publikumsbeteiligung. Später hat er den schon zur Todesstrafe verurteilten Mann Marchwicki in seiner letzten Gefängniszelle getroffen: "Er meinte, er wünsche sich, dass das alles so schnell wie möglich zu Ende gehe. Er sagte, er habe keine Kraft mehr, sei erschöpft vom Leben, frage sich, wieso gerade ihm das zugestoßen sei. Und deswegen sagte er: 'Ich will nicht mehr leben, sollen sie doch schon morgen das Urteil ausführen.' Kurz darauf wurde Zdzisław Marchwicki erhängt." 

Der leitende Staatsanwalt, der sich jahrelang dem Fall widmete, hält bist heute daran fest, dass der richtige Mann überführt wurde. Die Mordserie zwischen den Schloten und Gruben Oberschlesiens war 1970 abgebrochen, zwei Jahre vor der Verhaftung Marchwickis.

"Volksrepublik Polen"

"Volksrepublik Polen" – Bezeichnung für Polen als realsozialistischen Staat, der von der kommunistischen Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei in den Jahren 1944-1989 geführt wurde. In dieser Zeit war das Land durch die Abhängigkeit von der Sowjetunion geprägt. Es litt unter wirtschaftlichen Problemen, die Bürgerrechte waren eingeschränkt. Die Ära endete 1989. Unter bedeutender Beteiligung der Freiheisbewegung "Solidarność" entstand die Dritte Republik Polen. Die Entwicklung in Polen trug zum Fall der Berliner Mauer bei.

"Volkmiliz"

"Volksmiliz“"- so hieß offiziell die Polizei in der Volksrepublik Polen, die nach dem Vorbild der sowjetischen Arbeitermiliz aufgebaut wurde. Zur Miliz gehörten auch ORMO – die sogenannte "freiwilige Reserve der Volksmiliz", und ZOMO – eine paramilitärische Einheit, die Unruhen niederschlagen sollte. Nach dem Systemwechsel 1989 wurden die Miliz und ihre Spiezialeinheiten aufgelößt. Seitdem gibt es in Polen die Polizei.

Interview mit Buchautor Przemysław Semczuk

Przemysław Semczuk über den "Vampir" aus Polen: Dieser Fall ist nicht abgeschlossen. Sein Buch über die Mordserie im oberschlesischen Kohlebecken verkaufte sich tausendfach. Jetzt, nach mehr als 50 Jahren, will die Familie des verurteilten Mannes nochmal vor Gericht ziehen. Ihr Vater sei unschuldig gewesen. 

Sie haben mehrere Jahre ihres Lebens dem Vampir-Fall gewidmet. Wieso? Die Geschichte endete doch vor einem halben Jahrhundert.

Przemysław Semczuk: Dieser Fall ist nicht abgeschlossen. Als ich die Gerichtsakten lass, habe ich gemerkt, dass es eine Geschichte ist, die ein Buch verdient. Als das Buch dann aber fertig war, kamen immer wieder neue "Kapitel" hinzu. Es kamen Menschen auf mich zu, die mir erzählten, sie wüssten mehr zu dem Fall. Andere dagegen waren sehr emotional und empört darüber, dass ich Zweifel äußere und meinten: Der Mann war doch ein Mörder!

Waren Sie die ganze Zeit auch hin und her gerissen, was die Frage angeht, ob der wahre Täter zum Tode verurteilt wurde?

Przemysław Semczuk: So war es. Ich las eine Seite und dachte mir: Zdzisław Marchwicki ist der Täter und beim Lesen der nächsten hatte ich Zweifel. Hinzu kommt, dass ich seine Stimme auf einem Tonband kenne. Es war ein gebrochener Mensch, der von den unendlichen Verhören müde war, der bereit war alles zu sagen, Hauptsache man gibt ihm Ruhe. Diese Stimme wirft alle diese Akten um, zeigt, dass sie manipuliert wurden. 

In den Akten kann man lesen, dass er die Morde zugab. Kann man so etwas tun, wenn man nicht der Täter ist?

Przemysław Semczuk: Er war ein einfacher, ungebildeter Mensch, der sich einer einfachen Sprache bediente. Durch doppelte Verneinung seitens der Verhörenden konnte man ihn zum Beispiel ganz leicht manipulieren. Er sollte zum Beispiel schriftlich eine frühere Aussage bestätigen und sie dann zurückziehen. Er verstand nicht, dass ihn das belasten würde. 

Haben sie jemals versucht die "Gegenseite" zu kontaktieren? Mit Menschen zu sprechen, die von Zdzisławs Marchwickis Schuld überzeugt waren und sind?

Przemysław Semczuk: Ja, mehrmals habe ich telefonisch mit dem damals leitenden Staatsanwalt gesprochen, der bis heute fest davon überzeugt ist, dass der richtige Mann verurteilt wurde. Für mich wäre es sehr wichtig, dass es der Fall nochmal vor Gericht schafft, in einem demokratischen Polen von einem unabhängigen Richter bewertet wird. 

Gibt es denn neue Beweise oder Aussagen?

Przemysław Semczuk: Ja, die Familie hat neu ausgesagt.

Was genau?

Przemysław Semczuk: Ich habe mit Marchwickis Kindern gesprochen, die damals Teenager waren - zwei Söhne und einer Tochter. Ich habe mich gefragt, wieso sie erst jetzt darüber reden. Sie erklärten mir, sie hätten es auch früher getan, aber keiner wollte sich Anfang der 90er diesem Fall annehmen. Es sind einfache Menschen die juristisch nicht versiert sind, aber sie wollen, dass ihr Vater von den Vorwürfen befreit wird.

Erinnern sie sich an ihren Vater aus der Zeit vor der Festnahme?

Przemysław Semczuk: Ja. Sie sagen, solange er in ihrem Leben präsent war, hatten sie eine gute Kindheit. Einer der Söhne spricht über die Mutter als "die Frau" oder nennt sie bei vollem Namen.

Sind sie überzeugt von seiner Unschuld?

Przemysław Semczuk: Ja, aber wir müssen hierbei natürlich immer daran denken, dass es seine Kinder sind. Als Familie werden sie ihren Vater verteidigen. Das aber was sie erzählen, stellt ein neues, komplexes Bild dieses Falles dar. Das ist nicht in Akten zu finden, die sich offizieller Sprache bedienen. 

Welche Schritte unternimmt die Familie des Verurteilten jetzt konkret?

Przemysław Semczuk: Ein Antrag an das Gericht auf Wiederaufnahme des Verfahrens ist in Vorbereitung. Zeugenaussagen der Familie werden dazu eingebracht. Und alle fragwürdigen "Beweise", die das Gericht in Betracht gezogen hatte, will die Familie neu prüfen und sichten lassen. Auch alle späteren Aufnahmen werden dokumentiert. Die Frau des Verurteilten erzählte nämlich hinterher etwas völlig anderes, als sie zuvor zu Protokoll gegeben hatte. Das Leben von Marchwickis Kindern war durch diesen Fall geprägt. Ihre eigenen Enkel fragen: War unser Großvater der Vampir?

Wieso sprach man damals eigentlich von einem "Vampir"?

Przemysław Semczuk: Damals gab es den Begriff Serienmörder noch nicht. Man sprach von Lustmord, aber in der Gesellschaft hatte sich ein anderer Begriff durchgesetzt: wenn es sich um einen Frauenmörder handelte, war es ein "Vampir". Dieses Wort ging so sehr in den Sprachgebrauch ein, dass sogar Ermittler es in offiziellen Dokumenten verwendeten. 

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Phantom - Serientätern des Ostens auf der Spur | 28. März 2023 | 22:10 Uhr

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