Dr. Christian Booß
Der Historiker Dr. Christian Booß wertete die bisher unveröffentlichten Filmaufnahmen aus. Bildrechte: MDR

Unveröffentlichtes Filmdokument Stasi-Film belegt: Polizeieinsätze im Herbst 1989 folgten einer großen Strategie

10. Oktober 2022, 14:00 Uhr

Ein bisher unveröffentlichter Film der Bereitschaftspolizei der DDR belegt, dass der Einsatz von Wasserwerfern und Schlagstöcken und die Massenfestnahmen von Demonstranten im Herbst 1989 einer grundlegenden Strategie folgten. Die Polizei war auf Massenproteste vorbereitet und hatte diese Situationen geprobt – auf einem Truppenübungsplatz in Brandenburg. Das sagt Historiker Christian Booß, der den Lehrfilm der Bereitschaftspolizei im Stasi-Archiv gefunden hat. Hier sehen Sie einen exklusiven Ausschnitt.

Die spektakulären Filmaufnahmen aus dem Jahr 1988 entschlüsseln, wie es zu der starken Aufrüstung der Polizei und dem neuen Umgang der Polizei mit Demonstranten im Herbst 1989 kam, so Booß. Nach genau diesen Szenarien wurde zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR verfahren: in Ostberlin, Potsdam, Plauen, Leipzig und Rostock wurden massenweise Demonstranten zusammengeschlagen und festgenommen. Christian Booß ist Historiker und war lange Jahre Mitarbeiter der Stasiunterlagenbehörde.

MDR Geschichte: Was genau zeigen diese Filmaufnahmen aus dem Jahr 1988?

Die Filmaufnahmen zeigen einerseits das Equipment der Bereitschaftspolizei der DDR in den letzten zwei, drei Jahren der DDR. Das war ein neues Equipment, was man sich da beschafft hatte, überall im Ostblock. Aber man hatte offenbar auch ganz genau hingeguckt, wie der Westen vor allen Dingen auch gegen gewaltsame Demonstrationen vorgeht und hatte sich da entsprechende Anleihen geholt: Also Schutzschilde, bessere Helme, die auch ein Visier hatten, andere Schlagstöcke, Schienen für die Beine und Ähnliches. Das gab es in der DDR bei der Bereitschaftspolizei vorher so nicht.

Und zum anderen zeigt dieser Film, dass die Bereitschaftspolizei auch neue Kampftechniken geübt hat. Wie man also Leute unschädlich macht, festnimmt, zurückdrängt und bis hin eben, dass man auch neue Einsatzfahrzeuge hatte. Wasserwerfer beispielsweise. Da wurden teilweise auch selbstgebastelte Wasserwerfer genutzt, wo man Feuerwehrfahrzeuge mit Spritzen nachgerüstet und umgerüstet hat, so dass man das Wasser von der Feuerwehr nehmen konnte, um dann Demonstranten zu bespritzen, teilweise sogar farblich zu markieren.

Und wie wurde geübt – mit Komparsen?

Das kann man in diesem Film sehr anschaulich sehen: ein Teil der jungen Rekruten (die Bereitschaftspolizisten waren ja Rekruten, die – analog zum Wehrdienst, dort dienten) spielte die Demonstranten in verschiedenen Konstellationen in Geisterstädten auf einem Truppenübungsplatz. Und die wurden dann aufgeribbelt, entweder durch traditionelle Polizeimaßnahmen, also Knüppeleinsätze, Festnahmen et cetera, oder eben durch wirklich massive Großeinsätze mit Tränengas und Wasserwerfereinsatz.

Was sind das für Filmaufnahmen? Sind das Trainingsaufnahmen oder ist das ein Lehrfilm?

Ja, das ist ein Lehrfilm der Polizei, von dem ich gar nicht wusste, dass es ihn gibt. Fast durch Zufall bin ich im Stasi-Archiv auf diesen Film gestoßen. Es ist ein Lehrfilm, wo haarklein dieses neue Equipment dargestellt wird. Es wird gezeigt, wie man die Kleidung anlegt. Allein daraus geht ja schon hervor, dass das eben Sachen waren, die nicht üblich waren bis dato im Polizeidienst bei der Bereitschaftspolizei. Und das wird also fast eine Stunde lang im Einzelnen vorgeführt, wie in der Schule, aber schon im Gelände.

Und dann geht es zu einzelnen Übungen über. Das ist dann der nächste Abschnitt, wo also Ketten von Demonstranten aufgelöst und weggetragen werden, wo mit Hundeeinsatz oder auch anders Leute festgenommen werden, bis hin zu klassischen Übungen, wie Überqueren von Hindernissen, Wegrennen und so weiter mit diesen neuen Uniformteilen. Und dann gibt es so eine Geisterstadt. Und da haben die in dieser Geisterstadt für diese Übung Kulissen aufgebaut, die ein bisschen die Anmutung von Plätzen in Potsdam hatten. Denn die Bereitschaftspolizisten waren aus dem Raum Potsdam und da hat man dann also zum Beispiel eine Statue aufgestellt, eine Litfaßsäule, eine Straßenbahn und so weiter, um das alles relativ lebensecht erscheinen zu lassen. Und da wurde wie bei einer großen Inszenierung in einem Film oder bei Indianer-Festspielen dann richtig mit vielen Komparsen gearbeitet, die demonstriert hatten. Die Komparsen waren in dem Falle auch Polizisten.

Welche Szenarien wurden da geprobt auf dem Truppenübungsplatz?

Das waren im Wesentlichen zwei Szenarien: das eine erinnerte so ein bisschen an den 17. Juni, wo Arbeiter protestierten für irgendwelche Verbesserungen vor den Ämtern und das andere war dann so, wie man es damals aus dem Westen kannte: von Demos gegen Kernkraftwerke oder ähnliche Einrichtungen, wo es dann auch von beiden Seiten ziemlich zur Sache geht, die Polizeiketten teilweise angegriffen werden und die Polizei dann mit Knüppeln, aber eben auch mit Wasserwerfern und Massenfestnahmen zurückschlägt.

Warum wurde dieser Film gedreht und wofür wurde er gebraucht?

Diese gesamte Übung und der Film beruhten auf einer Umstrukturierung der Bereitschaftspolizei der DDR. Gorbatschow hat ja eine defensivere Strategie entwickelt, als es seine Vorgänger gemacht haben. Und da hat man dann die Bereitschaftspolizei umgepolt auf eine klassische Bereitschaft zur Absicherung bei Demonstrationen oder Bekämpfung von Demonstrationen und inneren Unruhen und so weiter und dann in dem Zusammenhang anders ausgerüstet und eben auch anders trainiert. Und das ging über mehrere Jahre.

Also ich würde sagen über drei Jahre und wurde dann auch regelmäßig geübt. Und das ist das Interessante: Hier in dem Film ist es zwar der Raum Potsdam, aber das war eine Strategie für die gesamte DDR. Also es gab dann Übungen, wie man das auch von Militärübungen kennt. Wo Tribünen aufgestellt waren, wo dann die Leitung des Innenministeriums aus Berlin anrückte und sich das ansah; wo Leute aus anderen Bezirken eingeladen worden sind, wo Kreissekretäre der SED eingeladen wurden und Bezirkssekretäre. Die waren im Krisen- und Spannungsfall auch die Befehlshaber für die inneren Organe, also für die Polizei, die Stasi und Militär. Insofern musste man die auch ja einweihen und einweisen in neue Möglichkeiten der Feindbekämpfung oder der Bekämpfung von Unruhestiftern, so wie man das damals gesehen hat. Und das haben wir ja dann auch im Herbst 89 gesehen. Das ist ja mehr oder minder überall in der DDR zumindest in Ansätzen zum Zuge gekommen.

Die Gewalt der Polizei gegen Demonstranten im Herbst 1989 beruht also auf einer DDR-weiten Strategie?

Die Geschichten mit den Polizeieinsätzen im Herbst 1989, die werden immer als regionale Geschichten erzählt: dann haben wir das gemacht, dann hat die Polizei das gemacht oder umgekehrt. Es ist bisher eigentlich für meine Begriffe zu wenig beachtet worden, dass es da eine Gesamtstrategie gab, die bloß dann eben lokal je nach Verhältnissen, unterschiedlich ausgegangen ist.

In Plauen und in Leipzig kennen wir das ja vor allen Dingen vom 7. bzw. 9. Oktober, wo die Zahl der Bevölkerung, die da demonstriert hat, so groß war, dass man mit diesen Mitteln dann auch nicht weitergekommen ist und vor militärischen Einsätzen dann zurückgeschreckt ist. In anderen Städten, zum Beispiel Berlin oder Potsdam oder Arnstadt, ist das noch am 7. Oktober noch fast lehrbuchmäßig umgesetzt worden.

Ich bin ja aus West-Berlin. Wir waren harte Sachen von der Polizei gewöhnt, auch dieses Equipment. Mich hat es immer wieder erstaunt, dass die DDR-Bürger vollkommen entsetzt waren, als sie diese martialische Aufrüstung und Ausrüstung der Polizei gesehen haben. Also diese LKW mit großen Räumschildern, solchen Gittern mit weiß-roten Rahmen drumherum, wo man versucht hat, mit mehreren Fahrzeugen nebeneinander ganze Demonstrationskolonnen abzudrängen. Oder diese neuen Schilder und Schlagstöcke - das war man so nicht gewohnt von der Volkspolizei.

Die Volkspolizei ist vor allen Dingen bei Oberligaspielen und ähnlichen solchen Anlässen zum Zuge gekommen, wenn es darum ging, sich mit Hooligans und Skinheads auseinanderzusetzen, aber eben nicht mit großen Demonstrationen. Und das ist schon ungewöhnlich gewesen, und keiner wusste so richtig, wo das herkommt. Und ich finde, dieser Film entschlüsselt das noch mal, wie es zu dieser starken Aufrüstung der Polizei im Vorfeld vom Herbst ‘89 gekommen ist.

Die Polizei sollte also ausgebildet werden, um im Inneren gegen Demonstranten vorgehen zu können?

Es gab Pläne, auch Karten und so weiter, wo lokale Ereignisse vermutet wurden, quasi hinter dem Rücken der kämpfenden Truppe. Und dafür war die Polizei zuständig: für Sabotage, Skinheadattacken, Demonstrationen von kritischen Kirchenmitgliedern und ähnliche Sachen. Das hatten die Polizei und Stasi als Protestpotenzial in der Bevölkerung ermittelt. Das Verrückte ist bloß, dass die Annahmen, die sie hatten, darauf beruhten, dass vielleicht in Potsdam und in Leipzig oder in Berlin ein paar hundert Demonstranten auf die Straße gehen würden. Dass da aber Tausende oder gar Zehntausende auf die Straße gehen, das hatte man nicht antizipiert. Und wo das passiert ist, nämlich vor allen Dingen in Leipzig am 9. Oktober 1989, da ist eben ihr Konzept zusammengebrochen, da hatten sie dann keine richtige Antwort mehr und mussten ja eigentlich kapitulieren.

Zu Dr. Christian Booß Der in (West)Berlin geborene Historiker und Journalist war 2001-2006 Pressesprecher der Stasi-Unterlagenbehörde. 2007-2018 war er ebenda Forschungskoordinator. Nach seiner Promotion zum Dr. jur. über Rechtsanwälte in der DDR arbeitete er seit 2019 als Forschungskoordinator an der Europauniversität Viadrina.