Rechter Terror: 25 Jahre Rostock-Lichtenhagen

11. Juli 2018, 11:29 Uhr

Zwischen dem 22. und 25. August 1992 erlebte das wiedervereinigte Deutschland den ersten rassistischen Pogrom seit dem Ende des Nationalsozialismus. Etwa 1000 Neonazis, Skinheads, betrunkene und gewaltbereite Jugendliche attackierten im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen die Unterkunft für Asylbewerber. Vietnamesische Vertragsarbeiter die noch während der DDR nach Rostock gekommen waren, wurden ebenfalls angegriffen.

Der Mob hatte Reichskriegsflaggen dabei, zeigte den Hitlergruß, brüllte immer wieder nationalistische Parolen wie "Deutschland den Deutschen, Ausländer raus". Es wurden Gehwegplatten zertrümmert, Steine und Molotowcocktails geworfen, Autos angezündet. Der Gewaltexzess wurde von tausenden Anwohnern toleriert und bejubelt.

Ein brennender Wohnblock in Rostock-Lichtenhagen
Ein brennender Wohnblock in Rostock-Lichtenhagen Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Die Polizei und damit der Rechtsstaat waren schlecht organisiert, ohnmächtig und machtlos. Sie waren außerstande die Ausschreitungen zu beenden. In der dritten Nacht wurde ein zehngeschossiges Haus angezündet, in dem sich über hundert Menschen, hauptsächlich Vietnamesen, befanden.  Darunter Babys, Kleinkinder und schwangere Frauen. Polizei und Feuerwehr konnten den Eingeschlossenen nicht zu Hilfe kommen. Mit großer Wahrscheinlichkeit hätte es dort Tote gegeben, wenn den Eingeschlossenen nicht aus eigener Kraft die Flucht übers Dach gelungen wäre.

Situation heute

Die Situation ist immer fragil. Man kann sich nie sicher sein.

Ulrike Seemann-Katz

Das antwortet Ulrike Seemann-Katz, die Vorstandsvorsitzende des Flüchtlingsrates Mecklenburg Vorpommern auf die Frage, ob es heute, nach 25 Jahren, noch einmal ein Lichtenhagen geben könnte. "Der Hass ist da. Wenn die Rechten demonstrieren, spürt man das. Heute sind mehr Menschen da, die einschreiten würden. Aber so lange wie es Menschen gibt, die hetzen, gibt es die Gefahr." Die 61-jährige ist nach den Ereignissen von Lichtenhagen in der Flüchtlingsarbeit aktiv geworden und kennt die Entwicklungen in Rostock seit 25 Jahren.

Die drei Nächte im August 1992 haben Deutschland und seine Nachbarn nachhaltig erschüttert. Die Frage, wie viel rechte, rassistische und nationalistische Gesinnung in den Deutschen steckt, stand im Raum. Dass Ausländer von rechten Jugendlichen attackiert wurden, war nicht neu. Überfälle und Tote hat es zuvor auch schon in Bayern, Rheinland-Pfalz, Niedersachsen, dem Saarland, Berlin, Thüringen und Brandenburg gegeben.

Dass ganz normale, politisch nicht organisierte Bürger fremdenfeindliche Gewalt in diesem Ausmaß dulden und unterstützen, hatte niemand erwartet. Das Nachdenken über die Ursachen und insbesondere darüber, ob sich solche Szenen wiederholen könnten, hat viele Problemfelder offen gelegt und beschäftigt das Land bis heute: das Versagen der Verantwortlichen vor Ort, die besondere Situation der Ostdeutschen nach der Wiedervereinigung und die mögliche Instrumentalisierung der Rostocker Ereignisse in der Asylrechtsdebatte durch die Politik.

Umstände im Sommer '92

In Lichtenhagen, einem Neubauviertel, wie es in allen größeren Städten der DDR existierte, wurde Ende 1990 die Aufnahmestelle für Asylbewerber des Landes Mecklenburg-Vorpommern eingerichtet. Ankommende Asylbewerber wohnten dort ein paar Tage, erledigten die Formalitäten und wurden dann auf andere Unterkünfte verteilt. Im Sommer 1992 kamen dort mehr Menschen an, als aufgenommen werden konnten. Sie campierten über mehrere Wochen ohne sanitäre Anlagen in den Grünanlagen des Wohngebietes. Die Anwohner fühlten sich davon in ihrer Lebensqualität eingeschränkt und beschwerten sich heftigst. An dem Zustand änderte sich jedoch nichts.

Gleichzeitig lief in Deutschland unter den politischen Parteien eine heftige Auseinandersetzung um das Asylrecht. Die Rechtsaußen-Parteien wie die Republikaner und die NPD forderten seit längerem eine Änderung des Grundgesetzes, in dem bisher noch festgeschrieben war, dass Deutschland politisch Verfolgten Asyl gewährt. Auch die CDU und die CSU traten inzwischen nachdrücklich dafür ein. In politischen Debatten wurden Schreckensszenarien gezeichnet in denen eine "Asylantenflut" den wirtschaftlichen Zusammenbruch Deutschlands verursacht. Es war von "Wirtschaftsflüchtlingen", "Scheinasylanten" und "Asylmissbrauch" die Rede. Dies war der größere, gesellschaftliche Kontext in dem die Jagd auf Ausländer durch rechtsradikale Jugendliche in vielen deutschen Städten stattfand.

Suche nach Erklärungen

Bei der Suche nach Erklärungen spielte auch die besondere Situation der Ostdeutschen nach der Wende eine Rolle. In Rostock befanden sich die größten Arbeitgeber rund um den Hafen und die Werft in Abwicklung. Immer mehr Menschen wurden arbeitslos. Der Aufschwung Ost stellte sich erst einmal dar als Abschwung Ost dar. Sozialpsychologen sehen in der offensichtlichen Wut auf die in Rostock lebenden Ausländer, die sich in Lichtenhagen entlud - eine Kompensation für die Gefühle des Betrogen-Worden-Seins mit denen ehemalige DDR-Bürger zu kämpfen hatten.

Die Polizei agierte während der Ausschreitungen ohnmächtig, chaotisch und ineffektiv. Sie war schlecht ausgerüstet. Wasserwerfer waren nicht verfügbar, die Führungskräfte waren nicht vor Ort. Als die Feuerwehr die Unterstützung der Polizei benötigt hätte, um ungehindert das Feuer löschen zu können, zogen sich die Einsatzkräfte zurück.

Von Journalisten im In- und Ausland, Politikern und Forschern ist immer wieder der Verdacht geäußert worden, dass die Situation bewusst nicht entschärft wurde, um auf die Notwendigkeit der Änderung des Asylrechts hinzuweisen. Der am 24. August nach Rostock gereiste Innenminister Rudolf Seiters (CDU) erklärte auf einer Pressekonferenz, dass der Staat nun handeln müsse, um den Missbrauch des Asylrechts zu beenden.

Die Folgen

Neun Monate nach den Ereignissen in Rostock wurde das Grundgesetz geändert und das Recht auf Asyl stark eingeschränkt. Die Annahme, damit ließe sich die rechte Gewalt stoppen, war ein Irrtum. In Rostock legten Polizeichef und Innenminister ihre Ämter nieder. Von den festgenommenen 400 Personen wurden 40 verurteilt.

In den Jahren 92 und 93 hat es die meisten Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland gegeben. Gleichzeitig entstanden viele Initiativen und Netzwerke gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Bürger aller Altersklassen und Schichten schlossen sich mit der Intention zusammen, solche Szenen wie in Rostock nie wieder zuzulassen. Seit 2015 arbeiten viele ehrenamtliche Helfer daran, Flüchtlingen eine Lebensgrundlage in Deutschland zu geben.

Die Lehren

Ulrike Seemann-Katz tut das nun schon seit fast einem Vierteljahrhundert. "In den ersten Jahren ist noch sehr viel sensibler mit der Unterbringung von Flüchtlingen umgegangen worden. Und Lichtenhagen war immer ein starkes Argument, wenn es darum ging, die Lage für Flüchtlinge zu verbessern und Gefährdungen auszuschließen. Aber inzwischen setzt das Vergessen wieder ein."

In der Politik stellt Frau Seeberger-Katz einen Generationswechsel fest. Die Landes- und Kommunalpolitiker, die durch Lichtenhagen sensibilisiert waren, gehen langsam in Rente und ihre Nachfolger agieren unbekümmerter. Vielleicht können die in den nächsten Tagen in Rostock zahlreich stattfindenden Gedenkveranstaltungen diesen Prozess etwas verlangsamen – so die Hoffnung der Mitglieder des Flüchtlingsrates.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | exakt: Vietnamesen | 21. Oktober 2020 | 20:15 Uhr