Rumänien: Aufstand der Hobby-Juristen

27. Juni 2018, 12:58 Uhr

Seit nun schon anderthalb Jahren demonstrieren in Rumänien Tausende Menschen gegen die Justizpolitik der Machthaber. Korrupte Politiker, allen voran der Sozialdemokrat Liviu Dragnea, wollen den mit der Korruptionsbekämpfung beauftragten Behörden die Zähne ziehen. Ein Gastbeitrag des Bukarester Journalisten Alex Gröblacher, der wie viele Rumänen selbst gegen die Regierung auf die Straße geht.

In den späten 1980er Jahren waren wir in Rumänien ein Volk von Ärzten. Jeden Abend versuchten wir, am Fernsehbild von Nicolae Ceaușescu abzulesen, ob und wie krank der mächtigste Mann Rumäniens war. Hast du die dunklen Augenringe bemerkt, er hat garantiert Krebs, lange macht er es nicht mehr, tuschelten die Leute angst-, aber auch ein wenig hoffnungsvoll hinter vorgehaltener Hand, während sie in einer der vielen Warteschlangen standen. Er schaffte es bis Ende 1989: "Bleivergiftung", kein Krebs.

Knappe 30 Jahre später wiederholt sich das Szenario - mit Unterschieden. Der mächtigste Mann Rumäniens ist Liviu Dragnea. Er führt die stärkste Regierungspartei PSD und das Abgeordnetenhaus in Bukarest mit eiserner Hand. Wer sich ihm entgegenstellt, wird prompt geschasst - seine Sozialdemokraten gewannen zwar die Wahlen Ende 2016, setzten aber zwei Premierminister aus den eigenen Reihen ab, als sie nicht parieren und Dragneas Träume umsetzen wollten. Er steuert die Regierungsarbeit aus dem Schatten, weil er wegen Wahlbetrugs vorbestraft ist und nicht Premierminister sein darf. Und weil er zwei weitere offene Strafverfahren am Hals hat, versucht er verzweifelt, den Rechtsrahmen so zurechtzubiegen, dass er straffrei davonkommt. Seine juristischen Finten und Kniffe sind zum Alltagsgeschäft geworden, auf Kosten anderer Bereiche, beispielsweise der Wirtschafts- und Fiskalpolitik, die vernachlässigt werden. Wir sind zu einem Volk von Rechtsexperten geworden, ständig auf dem Laufenden über Zuständigkeiten, Instanzenzüge, Rechtsmittel, Verfahrensordnungen.

Nichts und niemand ist bei Dragneas Sturm auf die Justiz verschont geblieben: mit großzügiger Unterstützung des Verfassungsgerichts setzt die parlamentarische Mehrheit die Änderung von Justizverwaltungsvorschriften, Strafprozessordnung und jetzt auch Strafgesetzgebung durch. Einwände aus der Branche selbst, aus der Zivilgesellschaft und von der parlamentarischen Opposition und aus Brüssel werden weitgehend ignoriert.                

Wir halten nicht mehr still

Anders als im Kommunismus flüstern wir aber nicht mehr, sondern protestieren offen und lautstark. Wir passen auf und gehen auf die Straße, wenn Dragnea wieder einmal versucht, die Landesgesetze so umzukrempeln, dass sie ihm passen. Im Februar 2017 wollte er per Eilverordnung den Paragraphen zum Amtsmissbrauch ändern, da trotzten der Kälte mehr als eine halbe Million Menschen in Bukarest und anderen Städten. Und der Demonstrationsfaden ist seitdem nie richtig abgerissen.

Warum tun wir uns das an? Die wenigsten von uns haben das wirklich nötig. Wir könnten seelenruhig als Gutverdiener in unserer Wohlstandsblase leben, mit unserem Urlaub an den Hippie-Stränden Griechenlands, mit unseren Sushi-Restaurants und Weinbars, unseren schicken Wohnungen und Autos. Aber es geht eben um mehr. In den letzten Jahren haben wir das Gefühl bekommen, dass sich etwas bewegt. Dass Korruption nicht mehr ganz so salonfähig ist, dass bestechliche Politiker auch mal ihre gerechte Strafe bekommen. Dass in Rumänien - vielleicht, irgendwann - auch normale Zustände einkehren können.

Dragnea und sein System wollen das Rad der Geschichte zurückdrehen. Präsident Klaus Iohannis und die Opposition leisten zwar Widerstand, aber ihnen sind zumeist die Hände gebunden. Es ist ein zermürbender Krieg und gerade hat Dragneas Lager eine Schlacht gewonnen - das Verfassungsgericht zwingt Präsident Iohannis, die populäre Chefin der Antikorruptionsbehörde DNA, Laura Codruta Kövesi, auf Antrag des Justizministers abzusetzen. Iohannis spielt auf Zeit und prüft noch die Begründung, aber lange wird er das Gericht nicht hinhalten können.

Unterdessen kämpfen Dragnea und seine Mitstreiter munter an der Imagefront. Sie organisierten in Bukarest eine Mammut-Demo gegen den sogenannten Parallelstaat; ihrem Narrativ zufolge würden Geheimdienste Tausende Menschen abhören und Richter zwingen, Unschuldige zu verurteilen. Hinter den Schlapphüten seien dunkle Verschwörer am Werk: Der unagrischstämmige US-Milliardär Soros, der Westen, die üblichen Verdächtigen. Die mit Bussen und Zügen aus dem ganzen Land gebrachten Teilnehmer sahen apathisch und ahnungslos aus, sie schienen nur noch nach Hause zu wollen. Weil wir die PSD als rote Pest bezeichnen, trugen sie plötzlich kein Parteirot mehr, sondern ein weißes Outfit.

Rot ist Weiß, Ignoranz ist Stärke, und jetzt weiß ich auch, warum mir Liviu Dragneas grimmige Figur mit dem Schnauzbart auf den Riesenbildschirmen am Siegesplatz so verdammt bekannt vorkommt: Orwell lässt grüßen.              

Geht es Dragnea nun doch an den Kragen?

16 Monate sind seit Februar 2017 vergangen, es ist der 21. Juni 2018. Nach zwei Vertagungen verkündet der Oberste Gerichtshof das Urteil in einem der beiden Verfahren gegen Liviu Dragnea - er soll 2005 und 2006 die Strippen gezogen haben, damit zwei Mitarbeiterinnen der Partei fiktiv beim örtlichen Jugendamt angestellt werden und der Staat ihnen also den Lohn für die Parteiarbeit bezahlt.

Die Medien bloggen live, während die Urteile verkündet werden, zuerst sind - gekonnt dramatisch - die kleinen Mitläufer dran. Zumeist Bewährungsstrafen. Dann wird der Angeklagte Liviu Dragnea wegen Anstiftung zur Urkundenfälschung freigesprochen. Aber: der gleiche Angeklagte Liviu Dragnea wird wegen Anstiftung zum Amtsmissbrauch zu dreieinhalb Jahren Freiheitsentzug verurteilt, ein vorbestrafter Wiederholungstäter eben, der in den Knast gehört.

Auf Facebook lassen die "Ratten", wie Dragnea seine Gegner nennt, die digitalen Sektkorken knallen. Die Richter haben sich nicht einschüchtern lassen, posten die Menschen. Sie gratulieren Dragnea sarkastisch: La mulți ani - viele Jahre (im Knast) seien Dir beschert. Rund 7.000 Menschen feiern auf dem Siegesplatz vor dem Hauptquartier der Regierung und singen die Ode an die Freude. Die Stimmung ist ausgelassen. Die Gendarmen, die bei den Protesten am Vortag Demonstranten brüskierten und einige Menschen - darunter den deutschen Journalisten Paul Arne Wagner - auf die Polizeiwache brachten, halten sich diesmal zurück.

Dragnea schweigt zunächst zum Urteil. Das PSD-Präsidium kommt am 22. Juni zusammen und stärkt dem Alpha-Männchen den Rücken. Der Strongman übt sich nach der Sitzung in Durchhalteparolen - die Partei will bis zum Ende gehen, der parlamentarische Weg ist zu langsam. Beim Abendessen deuten wir die Teeblätter der Aussagen - wollen sie wieder eine Eilverordnung wagen?

Während die restliche Welt im WM-Fieber steckt, fachsimpeln wir wieder über mögliche Rechtsverdrehungen. Juristenvolk eben.             

Junger Mann mit Oberlippen- und Kinnbart
Bildrechte: Alex Gröblacher / MDR

Unser Autor Alex Gröblacher lebt und arbeitet in Bukarest. Er ist Journalist beim deutschen Dienst von Radio Rumänien International, arbeitet für das Wirtschaftsmagazin "debizz" sowie als Dolmetscher und Übersetzer. Er wurde 1970 in der rumänischen Haupstadt geboren und wuchs dort auf.


Über dieses Thema berichtete MDR AKTUELL auch im: TV | 22.06.2018 | 17:45 Uhr