Europäische Kulturhauptstadt Chemnitz 2025: Hintergründe zur Debatte um die Kulturhauptstadtvergabe

18. Dezember 2020, 10:59 Uhr

Ende Oktober wurde entschieden, dass Chemnitz die Europäische Kulturhauptstadt im Jahr 2025 sein soll. Einige Wochen später veröffentlichte die "Süddeutsche Zeitung" Recherchen über fragwürdige Verflechtungen von Beratern. Bisher konnten keine Unregelmäßigkeiten gefunden werden, aber die Debatte wirft ein Schlaglicht auf Intransparenz und mangelnde Regeln bei der Vergabe des Titels. MDR KULTUR hat die verschiedenen Punkte zusammengefasst.

Fünf deutsche Städte durften sich nach jahrelanger Vorbereitung Hoffnungen auf den Titel Kulturhauptstadt Europa 2025 machen. Am 28. Oktober wurde dann die Siegerin verkündet: Chemnitz, die Stadt in der Mitte Sachsens, die teils als grau und fremdenfeindlich verschrien ist.

Zweifel kommen auf

Nun fragt man sich nicht nur in Chemnitz, ob der Titel Kulturhauptstadt Europas überhaupt noch gefeiert werden darf. Der Triumph des "underdogs" aus dem Osten hat Kratzer abbekommen, nachdem mehrere Medien investigative Recherchen veröffentlichten. Der Vorwurf: Ein ganzer Klüngel von Kulturhauptstadt-Experten, eine Art Beraterkarussell, das seine Dienste allen Bewerbern auf den Titel anbietet, fülle sich die Taschen mit Honoraren.

Auch Chemnitz vertraute auf externe Berater. Denn wer sich für den Titel Kulturhauptstadt bewirbt, muss ein schlüssiges Konzept vorlegen. "Wenn wir mal den Vergleich zum Fußball nehmen: Wenn ich in die Champions League will, brauche ich auch Trainer und ein Mitarbeiterteam, das in diesem Bereich Erfahrungen hat oder in diesem Bereich tätig ist", erklärt Matthias Nowak, Pressesprecher der Stadt Chemnitz.

Nun geht es im Profifußball um weit höhere Summen. Doch die Kultusministerkonferenz wurde durch die Berichte in den Medien aufgeschreckt: "Wir müssen natürlich aufgrund dieser Vorwürfe das Verfahren genau ansehen. Wir müssen sicherlich auch mit der Europäischen Kommission sprechen, ob das Verfahren so bleiben kann, wie es ist, das werden wir jetzt im Kreise der Kulturminister klären. Aber es gibt Fragen, die beantwortet werden müssen, denn auch Chemnitz hat das Recht darauf, einen Titel ohne Zweifel zu tragen", stellt, Bernd Sibler (CSU), der bayerische Staatsminister für Wissenschaft und Kunst und aktuell Vorsitzender der Kulturministerkonferenz, klar. Denn trotz aller Debatten soll Chemnitz "Kulturhauptstadt" bleiben – auch weil eine Aberkennung ein neues Verfahren nötig machen würde.

Fragwürdige Verbindungen zur Jury

Die offizielle Ernennung wurde dennoch zunächst verschoben. Zuvor soll die Jury-Präsidentin laut einer Presseerklärung der Kulturminister die Gelegenheit erhalten, sich Anfang Januar zu den Vorwürfen in den Medien zu äußern. Denn die Verflechtungen von internationalen Experten, Beratern und Kulturmanagern, die sich gegenseitig die Bälle, in diesem Fall die Aufträge zuspielen, sollen bis in die Jury hineinreichen.

Dass die Bewerbungen auch anderer Städte schon seit Jahren von immer derselben kleinen Gruppe von Experten begleitet werden, ist auch wissenschaftlichen Beobachtern aufgefallen. So hält die Kulturwissenschaftlerin Kristina Jacobsen vom ECoC LAB (ein Institut für Kulturpolitik aus Hildesheim, das Kulturhauptstadt-Bewerber bewertet) Berater zwar für hilfreich, findet die regelmäßigen, nicht-öffentlichen Treffen der selbsternannten European Capital of Culture Family aber für fragwürdig: "Ich habe das Gefühl, sie machen sich das ein bisschen zunutze, dass die ganze Initiative Kulturhauptstadt so ein Transparenzproblem hat."

Von Ideal zu Kapital

Dabei hatte 1985 alles so schön angefangen: Die damalige Kulturministerin Griechenlands, Melina Mercouri aus der sozialdemokratischen PASOK, hatte die Idee der Kulturhauptstadt auf den Weg gebracht. Zur ersten großen Feier in Athen reisten die Staatsoberhäupter Europas an, um zu demonstrieren, dass Europa mehr ist als nur ein Verbund wirtschaftlicher Interessen.

Jetzt aber zeigt sich, dass sich rund um die Vergabe des Kulturhauptstadt-Titels ein Geflecht von Profiteuren entwickelt hat. Das verwundert wenig, denn es geht um viel Geld. Chemnitz zum Beispiel rechnet mit etwas mehr als 50 Millionen Euro für die kulturelle Entwicklung der Stadt.

Um Chancen auf dieses Geld zu erhalten, nutzen Bewerberstädte die Dienste von Beratern. Dabei leiste nicht jeder gute Arbeit und würde "unangemessen viel Geld" verdienen, meint Kulturmanager Ulrich Fuchs. Er war Programmdirektor in Marseille und selbst als Berater für diverse europäische Städte tätig. Von manchen wird er sogar "Mister Kulturhauptstadt" genannt. Eine Vermittlung von Beratern findet er nicht anrüchig: "Wenn ich in einer Stadt gefragt werde, ob ich jemanden auf der europäischen Bühne kenne, den sie für diese und jene Frage heranziehen könnten – und ich kenne in Europa sehr viele Leute, die an dem Projekt gearbeitet haben – dann ist das doch nicht unanständig, wenn ich sage: 'Ich würde mal den fragen, vielleicht kommen Sie mit dem zurecht, oder diese Person kann Ihnen Rat geben.' Letztlich ist es eine Entscheidung der Stadt, den Rat zu befolgen oder nicht", so Fuchs.

Fehlende Sperrfristen

Die Tätigkeiten der Berater sind völlig legal. Doch was unanständig ist und was nicht, darüber gehen die Meinungen auseinander. Ein Beispiel: Jiří Suchánek war 2015 Direktor der tschechischen Kulturhauptstadt Pilsen. Inzwischen ist er dort Leiter eines Kulturzentrums. Außerdem war er Mitglied der Jury, die in diesem Jahr den Titel Kulturhauptstadt vergab. Nun plant Chemnitz eine Fahrradtour ausgerechnet nach Pilsen, zu eben jenem Kulturzentrum Sucháneks. Manche sehen darin einen krummen Deal.

Die EU, die den Titel Kulturhauptstadt verantwortet, verlangt zwar das Einhalten von Compliance Regeln, aber Beobachter fragen, ob das weit genug geht. "In Wirtschaftsunternehmen ist es so, dass es Sperrfristen gibt, wenn man die Branche wechselt, dass man nicht sofort in den nächsten Bereich oder als Berater gehen kann", erklärt Kristina Jacobsen vom ECoC LAB. "Das ist bei der Kulturhauptstadt scheinbar anders. Es ist merkwürdig, dass man erst Kulturmanager, dann Juror, dann Berater ist – ohne irgendwelche Sperrfristen. Zurecht wurde oft darauf verwiesen, dass die EU sich eigentlich nur zurücklehnt und das laufen lässt, weil es eben so gut läuft. Aber jetzt sieht man, es läuft doch nicht so gut und vielleicht ist es auch mal notwendig, dass da gegengesteuert wird."

Was bleibt, ist ein bitterer Nachgeschmack: Chemnitz, die designierte deutsche Kulturhauptstadt 2025, hat verdient, dass die andauernden Diskussionen um die Vergabe des Titels zu einem Ende geführt werden.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | artour | 17. Dezember 2020 | 22:10 Uhr

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