eine alte Magnetbandkassette aus der DDR
FO32 extra hart arbeitendes rastermaterial für kontakt, Trash Tape Rekords 1988, Archiv Alexander Pehlemann Bildrechte: Archiv Alexander Pehlemann

Politischer Protest durch ästhetischen Widerstand Magnetizdat: Ein Sachbuch beschreibt die Kunstavantgarde der DDR

20. Mai 2023, 04:00 Uhr

Die Kunstavantgarde der DDR hat verschiedene Namen: Punk, Underground oder Magnetizdat. Das Wort ist eine Ableitung von "Samizdat" und "Tamizdat", womit in der Sowjetunion Spielformen der Gegenkultur beschrieben wurden. Magnetizdat steht für die geheim in Umlauf gebrachten Magnetband-Kassetten. Sie waren Ausdruck von ästhetischem Widerstand, Freiheit und künstlerisch gelebten Anderssein: eine Gegen-Kunst. Das Sachbuch "Magnetizdat DDR / Magnetbanduntergrund Ost 1979 bis 1990" arbeitet diese Geschichte nun auf, genauso kenntnis- und materialreich wie unterhaltsam.

Vor allem junge Menschen wollen nun mal Grenzen überschreiten, sich daran stoßen, und deshalb gab es so etwas auch und gerade in der umzäunten DDR: Eine laute und wilde Kunstavantgarde, hieß sie nun Punk oder Underground – oder, nach den im geheimen in Umlauf gebrachten Magnetton-Bandkassetten: Magnetizdat. Das Wort ist eine Ableitung von "Samizdat" und "Tamizdat", womit in der Sowjetunion Spielformen der Gegenkultur beschrieben wurden.

Unter diesem Titel, Magnetizdat, ist nun ein materialreicher, mit vielen Bildern, Analysen und Gesprächen versehenes Buch über den Untergrund Ost/DDR der Jahre 1979 bis 1990 erschienen. Es ist nicht die erste Publikation, die sich dieser DDR-Subkultur widmet – aber es ist eine, die sich viel Platz und Sachkenntnis leistet. In Texten und Gesprächen kommen sie alle zu Wort; Conni Schleime und Annett Gröschner, Christoph Tannert und Bert Papenfuß, Gabriele Stötzer und Bo Kondren – und viele andere der damals Beteiligten.

DDR-Avantgarde von Männern dominiert und von Stasi unterwandert

Die Szeneleute experimentierten in Berlin, in Dresden, Halle, Erfurt, Leipzig, Rostock oder Karl-Marx-Stadt. Klar, das meiste passierte zwar im Prenzlauer Berg, aber gerade die von außen Hinzugekommenen pumpten immer wieder neues Blut in die ostdeutsche Untergrund-Kunst. Diese Szene, auch das wird ausgesprochen, war ein Ort, in dem eine Gegen-Kunst zelebriert wurde, was aber nicht heißt, dass hier nicht auch intrigiert und verraten wurde. Dass auch der Underground von der Stasi unterwandert war, ist inzwischen bekannt. Dass er, bei aller Avantgarde, auch ein von Männern kontrollierter Raum war, spricht zum Beispiel die Erfurter Kunstaktivistin Gabriele Stötzer, früher Kachold, aus:

Ausschnitt aus "Magnetizdat", mit einem Text von Gabriele Stötzer "In ihrem Text »die hosen haben röcke an« schreibt sie rückblickend über ihre akustischen Vorstöße gegen Geschlechterdifferenz und tradierte Zuschreibungen: frauen, die sich gestatten, was männern ihnen innerlich und gesellschaftlich äußerlich verweigerten. das ging gegen ekelgrenzen, gegen schamgrenzen. haßgefühle, eifersucht, verachtung, alles kam heraus und gehörte plötzlich zum leben, auch zu den frauen, die sich als einzel-frau in einem notdürftig aufrecht erhaltenen sozialgefüge flickschusternd verweigernd kastrieren mussten. Mit der Freisetzung von Energie sollte der »weg zur selbstbefreiung durch musik« geebnet werden."

Aus einer frühen Videoarbeit von Gabriele Stötzer
Aus einer frühen Videoarbeit von Gabriele Stötzer Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Flake von Rammstein erinnert an Matthias Baader Holst

Ein ähnliches Konzept, zumindest was die Selbstbefreiung betrifft, hier allerdings aus der Perspektive des Mannes, mag den nach seinem Tod berühmt gewordenen Matthias Baader Holst umgetrieben haben. Wer in Halle in den 1980er-Jahren Baaders Auftritte erlebt hat, erinnert sich bis heute daran – so wie in diesem Buch der heutige Rammstein-Musiker Flake Lorenz.

Politischer Protest durch ästhetischen Widerstand

Und es lassen sich einige grundsätzliche Rahmenbedingungen dieser Parallelwelt herauslesen: Material war meistens knapp, Studiotechnik ebenso wie Film- oder Fotomaterial, also wurde das Improvisieren, das Unfertige, zum Prinzip gemacht. Die von Rosa Extra, den Happy-Straps, der Erfurter Kult-Band Schleimkeim und all den anderen Bands bespielten Kassetten klangen niemals so ausgefeilt wie die LPs von Karat oder Stern Meissen – und eben das war eines ihrer Erkennungsmerkmale. Der politische Protest war hier vor allem ein ästhetischer Widerstand.

Als DDR-kritische Kunst werden inzwischen auch die Literatur der Christa Wolf oder die Lieder des Wolf Biermann verstanden – in Sprache und Form wurden die Grenzen des in der Tradition verankerten guten Geschmacks hier jedoch eher nicht überschritten. Und genau das ist der Unterschied: In Punk und Performance, Sprachspiel und Aktionsmalerei sollte der Widerstand nicht nur beschrieben und behauptet werden, sondern aus dem Material selbst, aus der Verfremdung von Klang, Bild und Sprache erwachsen.

Freiheit und künstlerisch gelebtes Anderssein

Bert Paßenfuß
Der Lyriker Bert Papenfuß (in einer Aufnahme aus dem Jahr 2000) hat einen Beitrag für den Band "Magnetizdat" geschrieben. Bildrechte: picture-alliance / Berliner_Zeitung

Sicher; nicht alle Texte, Bilder, Aufführungen von damals können heute als gelungene Kunstwerke gelten. Aber darum geht es auch nicht; seinerzeit ging es um einen Ausdruck von Freiheit, von künstlerisch gelebtem Anderssein. Und deshalb gehören diese Bestände, die mittlerweile über allerlei Archive oder auf Webseiten zugänglich sind, zum heimlichen Hofschatz des kleinen, untergegangenen Landes. Es ist eine Freude, in diesem Schatz herumzustöbern.

Das Buch "Magnetizdat DDR/ Magnetbanduntergrund Ost 1979 bis 1990"
Bildrechte: Verbrecher Verlag

Angaben zum Buch "Magnetizdat DDR/ Magnetbanduntergrund Ost 1979 bis 1990" Herausgegeben von Alexander Pehlemann, Robert Mießner, Ronald Galenza
Erschienen im Verbrecher Verlag
464 Seiten, 29 Euro, zahlreiche Abbildungen
ISBN 9783957324764

Im Buch enthalten sind z. B. Interviews mit: Interviews mit Arnim Bautz, Das Freie Orchester, Die arroganten Sorben, Else Gabriel, Die Gehirne, Annett Gröschner, Der Expander des Fortschritts, Flake, Frigitte Hodenhorst Mundschenk, Dimitri Hegemann, Herr Blum, Uta Hünniger, Bernd Jestram, Ralf Kerbach, Bo Kondren, Ronald Lippok, Yana Milev, Neu Rot, Carsten Nicolai, Ornament & Verbrechen, Rosa Extra, Cornelia Schleime, Gundula Schulze Eldowy, Gabriele Stötzer, Christoph Tannert, Zwitschermaschine, 6 aus 49

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 17. Mai 2023 | 14:15 Uhr