MEDIEN360G im Gespräch mit... Jörg Wagner

22. November 2019, 14:51 Uhr

Nach fast 40 Jahren staatlicher Einflussnahme wurden die DDR-Medien während der Friedlichen Revolution zur wichtigen Plattform für Informations- und Meinungsbildung. Der Einigungsvertrag sah jedoch ihre Auflösung zum 31. Dezember 1991 vor. Das betraf auch den populären Jungendsender DT64. Wir haben mit dem freien Journalisten Jörg Wagner gesprochen, der seinerzeit das Jugendradio DT64 (heute MDR Sputnik) moderierte.

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Während der Friedlichen Revolution öffneten sich die DDR-Medien. Auch im Rundfunk wurde nun frei berichtet. Wir haben mit dem freien Journalisten Jörg Wagner gesprochen, der seinerzeit das Jugendradio DT64 moderierte.

MDR FERNSEHEN Di 15.10.2019 11:53Uhr 23:29 min

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Dagmar Weitbrecht: Das Jubiläum "30 Jahre Friedliche Revolution" möchte ich zum Anlass nehmen, um auf die Medien zu schauen, genauer gesagt auf den Rundfunk der DDR. Was hat sich dort (damals) abgespielt? Ich spreche dazu mit Jörg Wagner, der 1987 bei DT64 Radiomacher, Moderator, Redakteur war, und von dem es heißt, er sei der Chronist dieses Senders. Das Jugendradio DT64 hatte im Kanon der DDR-Sender eine gewisse Sonderrolle. Trotzdem hat die Partei kräftig mitgemischt und geschaut, was passierte bzw. was nicht passieren sollte. Vielleicht können Sie mal mit ihrer Erinnerung soweit zurückgehen und beschreiben: wie war das Leben eines Radiomachers zum Ende der Achtzigerjahre?

Jörg Wagner: Also dazu muss man wissen, dass der DDR-Rundfunk generell eine staatliche Einrichtung war. Offiziell hing draußen ein Schild "Einrichtung des Ministerrats der DDR", also der Regierung. Tatsächlich war es eigentlich eine Einrichtung des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), speziell der Agitationskommission, die es dort gab. Und wenn man es genau nimmt, war es eigentlich eine Einrichtung des Politbüros. Denn von da kamen eigentlich immer die Begehrlichkeiten und Wünsche. Das merkten wir zum Beispiel, wenn wir Musik spielten wie Pankow "Langeweile". Da gibt es so eine Zeile drin: "den alten Männern zu lange vertraut", so sinngemäß. Diese alten Männer oder alten Herren haben sich dann natürlich angegriffen gefühlt, weil sie ganz genau wussten, dass sie gemeint waren. Dann wurde der Titel einfach gesperrt, dann durften wir den nicht spielen. Was ich dann zum Beispiel am 6. Oktober 1989 merkte, als ich den - damals noch Filmstudenten - Andreas Dresen interviewte und innerhalb des Interviews fragte, welche Musik er gerade toll findet. Dann wünschte er sich diesen Titel und das ganze Interview wurde dann deswegen nicht gesendet. Das waren so die Kleinigkeiten. Offiziell waren wir schon eher der Freien Deutschen Jugend (FDJ) angegliedert. Also, die hatten uns sozusagen immer im Fokus und es gab auch regelmäßige Absprachen mit dem jeweiligen Leiter des Zentralrats. Also, das war mal Egon Krenz, das war mal Eberhard Aurich, die wechselten natürlich. Interessanterweise muss man sich zurückerinnern: DT64 war gegründet worden als Sonderstudio eines Deutschlandtreffens 1964. Das war natürlich ein von der FDJ organisiertes Treffen mit progressiven, wie es damals hieß, Kräften Gesamtdeutschlands, also nach dem Mauerbau. Diese FDJ-Tradition, die ging nie raus aus DT64. Warum auch? Das war die offizielle Jugendorganisation der DDR und dieses Jugendprogramm - zunächst erst des Berliner Rundfunks, dann in einer Fusion mit dem Jugendprogramm von "Stimme der DDR" "Hallo - das Jugendjournal" war immer darauf orientiert, die Jugend der DDR zu bekommen. Deswegen war es auch natürlich - und wir empfanden das auch so - dass wir mit der FDJ zusammengearbeitet haben. Dann gab es aber für uns versteckt dann doch Begehrlichkeiten. Zum Beispiel, als das Programm ab 13 Uhr anfing zu senden bis Mitternacht, auf einer speziellen UKW-Frequenz, wurde ausgerechnet der 7. März 1986 gewählt. Das war der FDJ-Geburtstag, und zwar der 40. Für einen Radio-Start ist, das sensationell ungünstig, weil wir übertrugen irgendwie vom Marx-Engels-Platz eine Großkampf-Demonstration. Das war nun wirklich nicht geeignet für ein Radioprogramm-Start. Aber, und das ist das Schöne am Radio, Radio versendet sich. Man kann im Schutze der Nacht Dinge senden, die andere nicht hören. Es war immer ein Austesten der Grenzen. Wie weit kann man gehen? Das fing mit der Musik an, hörte dann auf bei Themen wie: "ich bin schwul". Homosexualität war damals in der DDR eher in einer Gesundheitszeitschrift verortet, denn als gesellschaftliches Thema, also unter dem Thema AIDS. Das war schon sensationell. Oder (das Thema) Ausländerfeindlichkeit in der DDR. Das führte dann aber auch dazu, dass es Restriktionen gab.

Dagmar Weitbrecht: Können Sie das mal beschreiben, wie so eine Restriktion aussah?

Jörg Wagner:  Also in dem konkreten Fall kann ich sagen, das wurde von zwei Redakteuren gemacht. Die eine Redakteurin, die wurde auf Parteischule geschickt, also vom Dienst praktisch erstmal entfernt. Dann bekam sie, wie wir, sagten "Rotlichtbestrahlung". Der andere Kollege, der nicht Mitglied der SED war, der wurde in den Abend versenkt, wie es bei uns so intern hieß. Also, der hat das Abendprogramm gemacht, was traditionell auch immer weniger Hörer hatte und wo man auch nicht so viel Schaden im Sinne der Partei anrichten konnte.

Dagmar Weitbrecht: Gehen wir in der Zeit mal ein Stück weiter. Im Sommer 1989 begann sich im ganzen Land die Stimmung zu verändern. Ich spiele an auf die Ereignisse in Peking, die man im Westfernsehen gesehen hat, die aber in der DDR völlig anders interpretiert wurden. Wie war das beim Sender DT64?

Jörg Wagner: Der Sommer war in meiner Erinnerung ziemlich depressiv. Also wir merkten, dass diese Fluchtbewegung einsetzte, aufgrund dieses Paneuropäischen Picknicks, seinerzeit zwischen Ungarn und Österreich organisiert. Wir wussten da geht etwas los, was man nicht mehr so einfach stoppen kann und wir durften darüber nicht berichten. Als dann tatsächlich diese Meldungen auch zeitgleich mit eintrafen vom “Platz des Himmlischen Friedens“ und sich einige Nachrichtensprecher weigerten, diese Meldung vorzulesen, da wurden an extra Dienste getauscht, damit natürlich die Nachrichten zu hören sind. Diese Art der Berufsverweigerung kannten wir auch nicht. Es war eine sehr unbefriedigende Zeit. Honecker verabschiedete sich in die Krankheit. Agonie, Starre oder diese Depression, die übertrugen sich natürlich auf uns. Wir waren ziemlich ratlos.

Dagmar Weitbrecht: Aber trotzdem hat der Sender ja etwas gemacht, was andere Verantwortliche sich nicht getraut haben. Denn sie haben offensichtlich Reporter nach Leipzig geschickt, zu den Montagsdemonstrationen.

Jörg Wagner: Dieses Entsenden von Reportern nach Leipzig haben wir öfter versucht. Allerdings gelang es erst offiziell am 16. Oktober. Das war ja schon eine Zeit nach dem berühmten 40. Geburtstag der DDR. Dazu muss man sagen: also wirklich der Höhepunkt der Stagnation, des eigentlichen Wahnsinns, so zu tun, als wäre nichts passiert, ebbte tatsächlich mit dem Republikgeburtstag ab. Am 8. und 9. Oktober war es schon so, dass wir dachten: "nee, das kann so nicht weitergehen". Am 9. Oktober gab es ja dann auch eine Montagsdemonstration in Leipzig. Ab da war so etwas wie: "wir machen jetzt hier nicht mehr länger mit". Ich war selbst in Neubrandenburg beim Dokumentarfilmfestival. Dort diskutierten die DOK-Filmer, dass das nicht so weitergehen kann. Davon berichtete ich live. Dazu muss man wissen, dass, wenn man etwas live gemacht hat, ging das eher durch, als wenn das aufgezeichnet war und dann noch irgendwie so drei oder vier Bedenkenträger darüber befunden haben, ob man das so senden kann oder nicht. Ich weiß noch, wie ich aus Neubrandenburg wiederkam und man mich fragte: "wie meinst du das mit Demokratisierung der Medien und demokratischer Kontrolle"? Das war eher so ein neugieriges Nachfragen von den Chefs, gar nicht mal so sehr: "was hast du denn da für einen Scheiß erzählt? Das darf man noch gar nicht sagen". Ich behaupte mal, der Umbruch wirklich im "jetzt trauen wir uns", war dann tatsächlich so ab 8. Oktober, und der eigentliche Knackpunkt war am 18. Oktober. Also dieses "Trauen" von DT64 am 16. Oktober bei den Montagsdemos dabei zu sein, war schon eher so etwas wie ein lang vorbereiteter gedanklicher Prozess. Wir hätten das glaube ich auch gemacht, wenn Honecker nicht am 18. Oktober entmachtet worden wäre, was sich irgendwie schon andeutete.

Dagmar Weitbrecht: Das wäre jetzt meine nächste Frage gewesen, dieser 18. Oktober ist ja, wenn man die Medien anschaut, eine Art Marker. Was hat sich denn danach verändert? Ich höre heraus, dass ein gewisses Gefühl der Befreiung auch eintrat?

Jörg Wagner: Ja, weil sich so viel angestaut hatte. Das fing ja noch viel früher an, nicht nur mit dem Verbot der Zeitschrift "Sputnik", sondern auch mit dem Verbot der sowjetischen Filme. Wenn ich mich richtig erinnere, auch so um 1988. Wenn man so will gab es ein Jahr Vorlauf für angestaute Aggressionen, dass man Dinge nicht senden konnte, die wirklich überhaupt nicht nachvollziehbar waren. Also ein Kollege von mir, der hat von der Umgestaltung des bulgarischen Komsomol gesprochen und weil die Bulgaren eine ähnliche Sprache haben wie die Russen, haben die auch das Wort "Glasnost" und "Perestroika" irgendwie übernommen. Er redete eben davon, dass es auch eine "Perestroika" in Bulgarien gebe. Dieses Wort war tabu. Wenn man es öffentlich ausgesprochen hatte, dann musste man mit Verweisen oder zumindest mit Repressionen rechnen. Dieser 18. Oktober war insofern eine wirkliche Befreiung. Ich kann mich noch genau erinnern. Egon Krenz, das war so Tradition in der SED, besuchte nach seiner Wahl zum Staatsratsvorsitzenden und SED-Parteichef als erstes einen Betrieb, um sich mit den Werktätigen auszutauschen. Das war in Marzahn. Warum er das gewählt hat, weiß ich nicht. Vielleicht, weil es im Titel "7. Oktober" trug. Das war das Berliner Werkzeugmaschinenwerk. Dort war auch ein Reporter von uns, um so ein bisschen die Stimmung aufzunehmen. Wie tickt jetzt die Partei? Dadurch, dass Egon Krenz schon immer auch als FDJ-Chef ein gutes Verhältnis zu DT64 hatte, konnte man ihn auch duzen. Er fragte: "sag mal, Egon, wie läuft denn das jetzt mit der Berichterstattung?" und sagte sichtlich genervt: "macht doch, was ihr wollt". Und mit diesem "macht doch was ihr wollt", kam dann der Kollege wieder zurück und sagte: "wir können jetzt machen, was wir wollen. Wir nehmen das jetzt wörtlich. Wir haben es jetzt von ganz oben."  Da war dann das Eis gebrochen.

Dagmar Weitbrecht: “Macht doch, was ihr wollt", greife ich jetzt mal auf. DT64 war der erste Sender, der sich seiner Chefetage entledigte.

Jörg Wagner: Also, das waren ja alles Menschen, mit denen wir auch vertrauensvoll zusammengearbeitet haben. Aber wir wussten, dass nach dieser sogenannten "Wende", wie es auch offiziell hieß, mit dieser Chefetage das Tempo nicht zu machen ist. Wir wollten eigentlich jetzt nicht Leute nach Hause schicken oder sagen: "wir wollen nicht mit euch weiter Radio machen", sondern es gab eine Belegschaftsversammlung am 8. November. Aus dieser Belegschaftsversammlung heraus entstand dann so eine Art Unmut, und dann haben wir der Leitung das Misstrauen ausgesprochen. Aus dieser völlig ungeübten demokratischen Rolle heraus, was ja auch glaube ich, nie in irgendeinem Medium vorher probiert wurde, haben dann auch die Chefs gesagt: "na dann eben nicht". Also das war so ein beiderseitiges eingeschnappt sein, und andererseits wir können so nicht weitermachen und haben dann aus unserer Mitte heraus dann eine neue Leitung gewählt. Was ich glaube eigentlich, hätte gar nicht gehen können. Also, es war damals im DDR-Recht nicht vorgesehen und das war ja noch DDR. Als dann einen Tag später auch noch die Mauer fiel und dann die Berichterstattung sowieso umkippte, so dass wir plötzlich mit anderen westlichen Rundfunkstationen, also in Westberlin und im Altbundesgebiet, Funkbrücken machten, war für uns klar, dass wir jetzt auch gar nicht wieder zurückgehen und wir wurden uns der rechtlichen Situation bewusst. Denn ich glaube, hätte die alte Leitung geklagt oder irgendetwas, dann hätte sie Recht bekommen, weil es wäre gar nicht gegangen.

Dagmar Weitbrecht:  Dann begann eine Phase, die nennen die einen Kollegen: "endlich schreiben, ohne etwas zwischen den Zeilen sagen zu müssen", die anderen haben es als große Freiheit empfunden. Wie ist es Ihnen ergangen?

Jörg Wagner: Also DT64 war schon immer ein Hort für mich der Freiheit. Also immer unter dem Aspekt der anderen DDR-Medien. Man konnte sehr viel sagen, man konnte sehr viel ausprobieren. Man konnte sehr viel auch Live machen. Wo ich manchmal heute staune, wie viel noch aufgezeichnet wird in der ARD, auch aus Angst, teilweise dass die Leute was Falsches sagen. Also, das war ziemlich frei mit den Einschränkungen, die ich vorhin sagte, dass, wenn man also die Grundmauern des Sozialismus erschütterte, dann war es schon ein bisschen problematisch. Aber es ging viel mehr, als man glaubt. Also die Selbstzensur war, glaube ich, bei DT64 am geringsten ausgebildet von allen Radiosendern. Aber es war natürlich deutlich zu merken, mit diesem 18. Oktober keine Grenzen mehr zu haben im Denken. Also keine Rücksicht nehmen zu müssen, hat auch die westlichen Kollegen beeindruckt, die zu uns kamen, auch um sich anzugucken, wie wir so arbeiten und leben. Sie sagten, das könnten wir alles gar nicht sagen, dass das wäre bei uns gar nicht denkbar und das hat mich dann wieder irritiert. Diese Phase hielt tatsächlich dann bis zur Einheit an. Also es war nur eine kurze Zeit, etwa ein Jahr, wo wir alle Formen des Journalismus ausprobierten. Wir waren dabei, als bei den Stasi-Öfen, die Unterlagen brannten und Kasernen meuterten. Das haben wir dann auch übertragen. Wir haben Lesungen übertragen. Am 18. Oktober war Bärbel Bohley sofort live auf dem Sender vom "Neuen Forum". Und das waren so ungewöhnliche Töne im DDR Radio, dass wir da auch durch die Bevölkerung unterstützt, Mut bekamen, so weiter fortzufahren.

Dagmar Weitbrecht:  Gehen wir einen Schritt weiter, schauen wir aufs Jahr 1991. Da wendete sich so ein bisschen das Blatt. Es war unklar, wie geht es weiter mit DT64? Da machte sich auch so ein bisschen Zukunftsangst bemerkbar. Wie ist es Ihnen ergangen?

Jörg Wagner: Den eigentlichen Schock gab es schon weitaus eher. Das war am 7. September 1990. Da beschloss der damalige Funkhaus-Chef Christoph Singelnstein, zusammen mit Helmut Drück vom "RIAS" die Flucht nach vorn anzutreten, weil er wusste: 3. Oktober, da ist die Vereinigung, da ist dann nicht mehr viel zu machen. Er wollte möglichst viel retten vom DDR-Rundfunk und sah nur zwei Möglichkeiten: Privatisierung von DT64 oder/und DT64 zusammen mit dem sogenannten Westradio, in dem Fall mit "RIAS", zu einer gesamtdeutschen Redaktionen zu machen. Man wollte das testen - völlig unsinnig aus meiner damaligen Perspektive schon - in Dresden, wo man gerade DT64 am liebsten hatte. Auch wegen der besonderen geografischen Lage im "Tal der Ahnungslosen" war DT64 dort traditionell beliebt. Da jetzt den "RIAS" aufzuschalten und dann noch "RIAS 1", das ist eher das Klassik-Erwachsenenprogramm gewesen, musste zu einer Rebellion führen und wurde dann auch einen Tag später rückgängig gemacht von Medienminister Müller, lange Zeit dann auch noch Landtagspräsident in Erfurt. Aber da war dann plötzlich schlagartig klar, hier wird über unsere Köpfe hinweg verhandelt. Hier werden auch die Hörer nicht gefragt. Hier kann es dann zu einer Art Funk-Streich kommen, also dass die Frequenzen einfach anderen vergeben werden. Und es war dann auch sehr schnell klar, dass die DDR föderalisiert wird, und das es dann auch so etwas wie Landesrundfunkanstalten geben wird. Am 1. Mai 1990 gründete sich schon Antenne Brandenburg. Dann gab es das Sachsen-Radio und wir wussten, dass es jetzt ans Eingemachte geht, notfalls wird auch DT64 geopfert. Weil die Stimmung war natürlich auch vonseiten der CDU: das sei ein Blauhemd-Sender gewesen. Das war er auch, aber eben nicht nur. Da gab es dann öffentliche Anhörungen, Demonstrationen, Proteste. Aber es ging mir seltsamerweise gar nicht um mein Arbeitsplatz, sondern mir ging es ums Prinzip, weil ich dachte, wenn ein Sender in der Wendezeit bewiesen hat, dass er die Vereinigung einigermaßen glaubhaft mit begleitet - und wir waren ja alle Teil dieses Prozesses. Wir haben uns nicht erhöht und gesagt, wir wissen es besser, sondern wir haben es mit den Hörern zusammen erlebt. Das hat man uns dann wieder mit Dankbarkeit und auch mit Respekt zurückgegeben und hat dann für uns von Hungerstreik bis hin zu Massenbesetzung von Redaktionsräumen oder Sendetürmen zurückgegeben. Diese Wechselwirkung hat es dann schließlich gemacht, was uns dann beim Abschalt-Vorgang, der bis Dezember nicht ganz klar war. Bis zum 13. Dezember 1991 war es nicht klar, was aus diesem Sender wird.

Dagmar Weitbrecht: Dann hat der MDR eingegriffen und hat gesagt, wir geben DT64 jetzt befristete Frequenzen. Am Ende wurde aus DT64 - MDR Sputnik. Wie sehen Sie jetzt, mit dem Abstand von den vielen Jahren, diese Entwicklung?

Jörg Wagner: Also der MDR hat es nicht freiwillig übernommen, und das muss man dazu sagen, weil er auch laut Staatsvertrag gar nicht jeder Lage gewesen wäre, dort noch ein neues Programm aufzunehmen. Es gab auch Proteste von Juristen oder von Menschen, die meinten, das würde gegen das Gesetz verstoßen. Man muss dazu sagen, dass drei Ministerpräsidenten des Sendegebiets vom Mitteldeutschen Rundfunk letzten Endes Udo Reiter diesen Auftrag gegen seinen Willen gegeben haben. Denn er hatte noch dem ZDF zu Protokoll gegeben, dass das unausgegorener Sender sei und da sehe er überhaupt keine Veranlassung, darüber nachzudenken. Dann hörte es sich dann am 13. Dezember anders an. Er sagte, wenn es tatsächlich wirklich die Jugendlichen wollen, dann muss man alles möglich machen, das in die Wege zu leiten. Aber es war ein Abschalten auf Raten, wie ich finde. Mit der Namensänderung war es eher eine Verschlimmbesserung. DT64 - das musste man immer erklären. Es war alles Deutschlandtreffen 64, das war ja nur ein Teilaspekt, dieses erst Sonderstudios, dann Jugendstudios, dann Jugendradios, und das schleppte die Belegschaft immer mit als Kürzel, als Erinnerung an die eigentliche Gründungszeit. Aber wir fühlten uns eher nicht so wie ein Festival-Sender, was es ja damals letzten Endes war. Also die Umbenennung in "Sputnik", die habe ich nie verstanden, weil, wie gesagt, dass eine Verschlimmbesserung war. Sputnik steht ja dann doch eher so für diesen russischen Satelliten und für Kommunismus und Sputnik-Schock und ein Verbot der sowjetischen Zeitschrift seinerzeit. Aber gemeint war - ich kann das nur so wiedergeben, wie ich es damals gehört habe - weil DT64 dann anfing, auf Satellit zu senden, weil es keine terrestrischen Frequenzen mehr gab. Die wurden tatsächlich dann dem Privatfunk übergeben und die Mittelwellenfrequenz gehörte dann wieder MDR INFO. Wir sendeten, so zusagen im Tonunterträger von "Premiere", von diesem Privatfernsehen und über Satellit Astra 1B - das wollte man irgendwie symbolisieren und nannte das Ding dann Sputnik.  Aber letzten Endes war es ein ziemlich schneller Austausch der Belegschaft, sodass (sich) auch die Art und Weise mit dem Personalwechsel dann änderte, das Programm zu gestalten. Ich kann mich noch erinnern: ich war gerade in Leipzig zum Medientreffpunkt Mitteldeutschland und hörte mal einfach rein, wie Sputnik klingt. Das war so 1993, 1994. Da las man aus der BILD-Zeitung vor. Das hätten wir uns früher nie getraut, also unkommentiert. Also, da merkte man auch wie so der Geist, den wir noch in uns spürten, völlig abhandengekommen ist. Dann wurde Sputnik auch sukzessive umgebaut zu einer Experimentierwelle, was ich dann wieder interessant und wichtig fand. Da wurde auch mit Visual-Radio gearbeitet. Aber heute erinnert - ich glaube - nichts mehr an die eigentliche DT64 Geschichte.

Dagmar Weitbrecht: Schließen wir den Kreis. Wir haben jetzt über 30 Jahre Friedliche Revolution gesprochen, was im Rundfunk passiert ist. Es war eine aufregende Zeit, eine prägende Zeit für Sie. Wenn Sie jetzt nochmal in sich reinhorchen, was war für Sie der bewegendste Moment?

Jörg Wagner: Der Moment, wo ich wirklich Gänsehaut bekam, war, als ich unseren Reporter am 10. November früh um 6:35 Uhr vom Ku‘damm hörte, in Westberlin, wo mir klar war: die Mauer ist tatsächlich durchlässig geworden. Ich muss ehrlich gestehen, ich hatte am 9. November die Frühsendung und bin sehr früh ins Bett gegangen. Also ich habe diesen ganzen Trubel um den Mauerfall gar nicht mitbekommen. Ich sah noch abends Schabowski in der Aktuellen Kamera. Mir war dann klar: ah, jetzt muss der Trabi-Fahrer nicht mehr über Prag und was weiß ich ausweichen, sondern kann gleich nach Westberlin. Ich dachte zu dem Moment noch es sei die dauerhafte Ausreise geregelt worden und nicht die besuchsweise Ausreise. Als ich dann den Reporter von DT64 hörte, mit grölenden Massen im Hintergrund, da hab ich echt Gänsehaut bekommen und wusste in dem Augenblick, dass sich absolut viel verändern wird.  Einer der bewegendsten Momente war, als ich plötzlich merkte, ich bin nicht nur Journalist, der irgendein Ereignis transportiert, sondern der auch plötzlich zum Vermittler gesellschaftlicher Kommunikation wurde. Das klingt jetzt sehr abstrakt. Ein Beispiel: ich war gerade dabei, ein Band zu schneiden, als mein Chefredakteur kam und sagte du guck mal, hier ist jemand aus dem Wachregiment, der sucht jemand, der sofort mit ihm kommt, sonst besetzen die die Waffenkammer. Und ich sag noch, was ist los, wie jetzt? Ich war noch nicht so lange aus meinem aktiven Wehrdienst weg und wusste auch, dass man nicht so einfach eine Waffenkammer besetzen kann und dass das extreme Konsequenzen haben wird. Er (der Soldat) sagte tatsächlich: "wenn ich hier keinen mitbringe, dann besetzen wir die, und dann protestieren wir auf diese Art und Weise". Ich ließ mir das dann auf dem Weg dorthin, das war am Rande von Königs-Wusterhausen ein Objekt des Wachregiments, erklären. Es war tatsächlich so, dass dieses Wachregiment in der Bevölkerung immer gleichgesetzt wurde mit dem Ministerium für Staatssicherheit. es entstand aber der Eindruck, dass auch die Leute, die in Uniform vor den Objekten von Partei und Regierung - das war die eigentliche Aufgabe - Wache gestanden haben, verantwortlich gemacht werden für die innere Bespitzelung des Ministeriums für Staatssicherheit. Sie wollten darauf aufmerksam machen, dass sie hier ihren Wehrdienst einfach nur absolvieren, dass sie zwar mit einer Maschinenpistole bewaffnet sind, aber eigentlich so etwas wie eine, ja Wachmannschaft waren. Als ich dann in das Objekt kam - sie müssen sich das vorstellen, so ein Mannschaftsspeisesaal hatte vielleicht bis zu 500 Plätze - alles besetzt mit grau Uniformierten. Dann gab es einen kleinen Tisch, da waren ein General und noch ein paar Offiziere. Als ich kam, war ein riesengroßer Jubel, als wäre ich ein Popstar, und ich wusste erst mal gar nicht, wie ich damit umgehen sollte. Und ich fragte: "was kann ich denn machen in meiner Rolle?" "Einfach mitschneiden", haben die gesagt und "vermitteln, moderieren. Du sollst hier jetzt moderieren." Also ich hatte plötzlich eine extrem große Verantwortung, also Waffenkammer besetzen auf der einen Seite, militärischer Konflikt auf der anderen Seite, plötzlich einen Dialog in einem System zu organisieren, was auf Dialog nie ausgerichtet war. Da war der Befehl, den musste man befolgen. Dann bildeten sich plötzlich Soldatenräte. Das kannte man zu DDR-Zeiten überhaupt nicht. Ich war da mittendrin und spürte plötzlich diese enorme Verantwortung und hatte aber auch das Gefühl, hier etwas im echten Sinne getan zu haben, wo sich gelohnt hat, sich dieser ungewohnten Rolle anzunehmen.

*Dieses Gespräch wurde am 10. Oktober 2019 im ARD Hauptstadtstudio aufgezeichnet.