Illustration: Ein Mann springt über ein Stöckchen. Unter ihm: Ein Schwimmbecken, in dem ein Hai schwimmt.
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Auf die roten Linien achten! Politische Provokation: Wie gehen Medien damit um?

25. Oktober 2019, 09:58 Uhr

Springen Journalisten über zu viele Stöckchen? In manchen Fällen ist es durchaus angemessen, auf Provokationen zu reagieren. Doch gerade, wenn Politiker Falschbehauptungen verbreiten, besteht die Gefahr, dass diese durch eine Berichterstattung noch größere Aufmerksamkeit erhalten. Es ist also Vorsicht geboten.

Wer glaubt, die Online-Community Wikipedia habe für die Menschheit nur lexikalische Einträge parat, liegt damit nicht ganz richtig. Man findet dort unter anderem auch eine Rubrik, die einem empfiehlt, wie man sich auf den Diskussionsseiten von Wikipedia verhalten soll. Einer der 19 "Ratschläge" lautet: "Nicht über ein Stöckchen springen" . Das, so die Wikipedianer, bedeutet, dass es "manchmal sinnvoller sein kann, nicht auf einen als provozierend empfundenen Diskussionsbeitrag zu antworten." Denn:

Gerade bei kontrovers geführten Debatten werden oftmals Emotionen erzeugt, die zu gegenseitiger Provokation der Diskussionsteilnehmer verleiten können.

wikipedia.de

Die Frage, wann es sinnvoll ist, über Stöckchen zu springen, beschäftigt seit einigen Jahren auch die klassischen Medien – spätestens seit 2017. Die Redewendung sei "in Mode gekommen", weil "die Medien ständig über die Stöckchen springen, die die AfD ihnen hinhält", sagte ihrerzeit die Kulturjournalistin Sieglinde Geisel in einem Beitrag für Deutschlandfunk Kultur.

Das Kriterium Menschenwürde

In welchen Fällen ist es aber durchaus angemessen, auf Provokationen zu reagieren – also über Stöckchen zu springen? Volker Lilienthal, Journalistik-Professor an der Universität Hamburg, sagte im August 2019 in einem Interview: Wenn Politiker der AfD in einem Interview zu provozieren versuchten, müsse man das erst einmal "ernst nehmen" – und dann folgende Entscheidung treffen: Handelt es sich um eine "Provokation von neuer Qualität? Sind hier rote Linien überschritten? Wird die Missachtung von Menschenwürde gerechtfertigt?" In diesem Fall müsse ein Journalist, der "sich an das Grundgesetz gebunden fühlt, engagiert widersprechen". Aber: "Man sollte nicht auf altbekannte Provokationen immer wieder einsteigen", das sei kontraproduktiv.

Etwas rustikaler formuliert es Katja Thorwarth, Redakteurin der Frankfurter Rundschau: "Natürlich gehört nicht jeder Rülpser eines Hobby-Adolf mit AfD-Parteibuch medial aufgekocht."  Wenn es aber um "Stöckchen" geht, "die die Verbrechen von Nazi-Deutschland trivialisieren, auf deren Erinnern sich die Bundesrepublik in ihren demokratischen Grundpfeilern stützt" – dann ist es, um im Bild zu bleiben, angemessen zu springen.

Der Ansicht ist auch Lorenz Maroldt, der Chefredakteur des Berliner Tagesspiegel. Er meldete sich zu Wort, als der AfD-Bundestagsabgeordnete Thomas Seitz die Wiedereinreise eines offenbar zu Unrecht ausgewiesenen Asylbewerbers aus Kamerun mit den Worten kommentierte: "Für solche Fälle braucht es einer wirksamen Abschreckung. Dafür darf eine Änderung von Art. 102 GG kein Tabu sein." Der besagte Grundgesetzartikel besteht aus lediglich vier Worten: "Die Todesstrafe ist abgeschafft." Maroldt twitterte daraufhin: Wenn jemand "zur Abschreckung" die "Todesstrafe für die Wiedereinreise" fordere, sei das "eine Forderung, die Verbreitung verdient" – und zwar "zur Abschreckung". Der Gedanke, der dahinter steht: Die Provokation ist so maßlos, dass sie verbreitet werden muss.

Wie man selbstkritisch damit umgeht, wenn man über ein Stöckchen gesprungen ist, über das man nicht hätte springen sollen – das zeigt Stephan Detjen, Chefkorrespondent des Deutschlandradios im Hauptstadtstudio und früher Chefredakteur des Senders. In einer Folge des Deutschlandfunk-Podcasts Der Tag, produziert kurz nach den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen unter dem Titel Der schwere Umgang mit der AfD, blickt Detjen zurück auf seine eigene Berichterstattung über eine Bundestags-Generaldebatte im Mai 2018. Damals hielt die AfD-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel eine Rede, in der sie mit Bezug auf Geflüchtete von "Kopftuchmädchen, alimentierten Messermännern und sonstigen Taugenichtsen" sprach.

Detjen sagt, an jenem Tag habe er während der Produktion für die Sendungen "in der Mittags-Prime-Time" einen Prozess durchgemacht. Zunächst habe er Weidels Auftritt in den Mittelpunkt gestellt, doch im Laufe des Mittags habe er sich gefragt: "Was war denn das Wichtige?" Im letzten von drei Beiträgen entschied er sich dann für eine andere "Dramaturgie". Der Grund: "Das politisch Spektakuläre", so Detjen, sei an dem Tag nämlich keineswegs Weidels Provokation gewesen, sondern dass die damalige SPD-Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles "den Rüstungshaushalt der Großen Koalition in Frage gestellt" habe. In seinem letzten aktuellen Beitrag habe er dann genau das an den Anfang gestellt – und Weidels Auftritt ans Ende.

Die AfD habe ein "Interesse daran, dass wir uns mit dem Oberflächlichen, Schillernden beschäftigen", analysiert Detjen im Podcast. Um im Bild zu bleiben: Er ist über ein Stöckchen gesprungen – und nach relativ kurzer Zeit wieder zurück.

Vermeintliche Verbotsforderungen

Neben Stöckchen, die aus provokanten Meinungen bestehen, gibt es auch irreführende Stöckchen – das heißt, Äußerungen, die auf Falschdarstellungen basieren. Ein relativ bekanntes Beispiel: die Behauptung des FDP-Fraktionsvorsitzenden Christian Lindner, die Grünen wollten "den Fleischliebhabern das Steak wegnehmen", unter anderem geäußert in einem Interview mit der Welt Ende Mai 2019. Die Bild-Zeitung fragte deshalb bei den Grünen nach – und erfuhr, dass die Partei sich nach eigener Darstellung "seit Jahren" dafür einsetze, "die Bedingungen für Landwirte und Tiere zu verbessern" und "regionale Schlachtstätten" zu fördern. Mit anderen Worten: Die Grünen wollen keineswegs keine Steaks, sondern besser produzierte Steaks.

Das hielt Lindner nicht davon ab, den Grünen die Verbotsforderung zwei Wochen später in einem Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit erneut unterzuschieben – in leicht variierter Form, mit einem Schnitzel statt einem Steak. "Die Frage ist: Träumt man wie Robert Habeck von einer Gesellschaft, in der es keinen Fleischkonsum mehr gibt? Ich sage: Wer vegan leben will, soll es gern tun. Das Schnitzel sollte den anderen aber nicht verboten werden." Mit der Headline "Das Schnitzel sollte anderen nicht verboten werden" sprang dann zum Beispiel die Welt über das Stöckchen.

Das Konzept hinter Stöckchen dieser Art: Politiker dichten anderen Personen oder Parteien verzerrte bis weltfremde Maximalforderungen an, um so den politischen Gegner attackieren oder diskreditieren zu können. Den Grünen zum Beispiel haftet ohnehin das Image an, sehr viel verbieten zu wollen – das Portal Volksverpetzer hat entsprechende Falschdarstellungen auf unterhaltsame Art zusammengefasst.

Falsche Zuspitzungen

Auch Politiker anderer Parteien haben schon ähnliche Erfahrungen gemacht wie die Grünen. Ein Beispiel dafür ist der sogenannte Fall Linnemann. Der unfreiwillige Namensgeber: der CDU-Politiker Carsten Linnemann. In seinem Fall ist das Muster einer anderen Variante des "falschen" Stöckchens zu erkennen: Jemand verbreitet Aussagen einer Person, die diese in der Form nicht gemacht hat. In Umlauf geraten solche Stöckchen in der Regel wegen überspitzter Überschriften und manchmal noch weiterer Zuspitzungen in Posts in sozialen Medien – wie es etwa das NDR-Medienmagazin Zapp beschreibt.

Der Ausgangspunkt in der Linnemann-Sache war ein Interview mit der Rheinischen Post, das die Nachrichtenagentur dpa unter der Überschrift CDU-Politiker: Grundschulverbot für Kinder, die kein Deutsch können zusammengefasst hatte. Vertreter verschiedener Parteien, auch der CDU, reagierten empört. Dabei hatte Linnemann tatsächlich etwas gesagt, was weit weniger provokativ war: "Ein Kind, das kaum Deutsch spricht und versteht, hat auf einer Grundschule noch nichts zu suchen."

Linnemann fordere "kein Verbot, sondern bringt sogar eine Vorschulpflicht ins Gespräch, um Kindern früher Deutsch beibringen zu können", analysierte der Faktenfinder, ein Angebot der Tagesschau der ARD, das Falschdarstellungen in den Medien auf den Grund geht, den Fall. "Offenkundig", so die ARD-Faktenchecker weiter, wolle er "Kinder nicht aussperren, so wie es zahlreiche Kommentatoren in sozialen Medien interpretieren", sondern sie "bereits früher in staatliche Schulen bringen".

Warum geraten falsch wiedergegebene Äußerungen wie die Linnemanns so schnell in Umlauf? Das hat auch etwas mit Angst zu tun. Kaum eine Redaktion möchte es riskieren, eine Äußerung, über die vermeintlich "alle" berichten, "zu spät" zu verbreiten. Und ums Geld geht es letztendlich natürlich auch. Dass beim Springen über Stöckchen auch ökonomische Aspekte eine Rolle spielen, betont jedenfalls der Buchautor und Politikberater Johannes Hillje. Er hat zum Beispiel beobachtet, dass kurz vor der Bundestagswahl 2018 "die vier obersten Artikel auf der Startseite von welt.de von der AfD handelten. Der mutmaßliche Grund dahinter: AfD-Artikel werden gut geklickt und spielen deshalb zuverlässig Werbeeinnahmen ein." Hillje wirft den Medien vor, sie ließen sich zu oft "mit Populisten" auf einen "Deal" ein. Das sei "für die demokratische Öffentlichkeit sehr verhängnisvoll".

Diese Kritik lässt sich – zum Beispiel auch mit Blick auf das Scheindebattenthema Schnitzelverbot – durchaus verallgemeinern: Medien versuchen zu oft, von den Provokationen anderer zu profitieren, völlig unabhängig von der Substanz und Relevanz der jeweiligen Äußerungen. Um die Empfehlung der Wikipedia-Community und Hilljes Warnung zu variieren: Im Sinne einer "demokratischen Öffentlichkeit" kann es manchmal hilfreich sein, einen provokanten Diskussionsbeitrag nicht zu verbreiten.