Krawalle in Großbritannien Britischer Psychologe: "Soziale Medien sind eine Empörungsmaschine"
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05. August 2024, 22:39 Uhr
Nach der Ermordung von drei kleinen Mädchen durch einen 17-Jährigen mit ruandischen Wurzeln wird Großbritannien von nationalistischen und antiislamischen Krawallen erschüttert. Der Psychologie-Professor Stephan Lewandowsky von der Bristol University macht bei MDR AKTUELL die "Empörungsmaschine" der Sozialen Medien maßgeblich mitverantwortlich für die Eskalation. Was "online" trendet, hat demnach auch "offline" Konsequenzen.
MDR AKTUELL: Warum sind Fake News über die Identität des Täters in den Sozialen Medien so erfolgreich?
Professor Stephan Lewandowsky: Es gibt leider ein sehr weitreichendes Netzwerk von Rechtsextremen in den sozialen Medien – nicht nur im Vereinigten Königreich, sondern auf der ganzen Welt. Sie sind Experten darin, Dinge zu erfinden und falsche Informationen zu verbreiten. Sie finden unter ihren Followern schnell Anklang, weil diese dazu neigen, vor allem über Muslime bestimmte Dinge zu glauben – dass sie gewalttätig sind und dass sie Verbrechen begehen und so weiter. Und wenn man einen Namen erfindet, wie sie es in diesem Fall getan haben, der überhaupt nicht stimmt, dann wird das von den Followern als wahr hingenommen. Denn das ist das, was sie hören wollen. Und die Konsequenz ist, dass die Algorithmen der Plattformen dies noch verstärken. Denn sobald etwas in den sozialen Medien bei einer kleinen Gruppe erfolgreich ist, spielt es der Algorithmus an eine größere Gruppe von Menschen aus. Und dann geht der Inhalt viral und es kann zu einer viralen Verbreitung von Desinformation kommen.
Falschnachrichten lösen Krawalle aus In der nordenglischen Küstenstadt Southport sind bei einem Messerangriff drei Mädchen getötet und acht weitere Kinder verletzt worden. Ein Verdächtiger wurde gefasst. In den sozialen Netzwerken verbreiteten sich aus den rechtsnationalen Umfeld schnell Falschinformationen zum Täter: zu seinem Namen, seiner Nationalität und seiner Religion. Für Details folgen Sie dem nächsten Link zum Tagesschauangebot.
Sind Soziale Medien zu einer Desinformationsmaschine geworden?
Ja, Soziale Medien sind neben vielen Dingen auch eine Desinformationsmaschine. Der Grund dafür ist, dass sie vollständig darauf ausgerichtet sind, Inhalte zu verstärken, die die Menschen ansprechend finden und mit denen sie interagiert haben. Und die Algorithmen werten diese Inhalte auf. Sie kümmern sich nicht darum, ob die Inhalte wahr oder falsch sind. Alles, was die Algorithmen interessiert, ist, ob die Leute diese Inhalte sehen wollen. Das Problem ist – und das wissen wir aus der kognitionswissenschaftlichen Forschung –, dass Menschen Negativem und Empörung hervorrufenden Inhalten ihre Aufmerksamkeit schenken. Das ist einfach die Art und Weise, wie unser Aufmerksamkeitssystem funktioniert. Und wenn ich mich über einen Inhalt empöre, schaue ich ihn mir eher an, als wenn er mich glücklich macht. Das ist das Traurige an der menschlichen Natur. Aber so funktioniert unser Aufmerksamkeitssystem nun einmal. Aus diesem Grund sind die Sozialen Medien eine Empörungsmaschine.
Braucht es ein gewisses Maß an Stereotypen, damit solche Kampagnen erfolgreich sind?
Ja, absolut. Man muss ein Reservoir an Vorurteilen, Stereotypen und rassistischen Einstellungen haben, damit [eine solche Kampagne] erfolgreich sein kann. Wenn es genug Leute gibt, die solche Inhalte verbreiten, setzt sich das durch und taucht bei Twitter oder X im Ranking-Tab (Trends, d. Red.) als neu und trendig auf. Man muss dann kein Rassist oder Mensch mit Vorurteilen sein, um mit solchen Inhalten in Berührung zu kommen. Die Plattformen zeigen einem diese Inhalte, ohne dass man danach fragt. Das Entscheidende ist also, dass der Inhalt irgendwann aus der rechtsextremen Blase ausbricht, weil er für die Plattformen attraktiv genug ist, um höher bewertet zu werden.
Ist es für Sie überraschend, dass sich diese Empörung nicht nur in den Sozialen Medien abspielt, sondern auch das reale Leben erfasst?
Das ist überhaupt nicht überraschend. Es gab vor Jahren eine Zeit, in der sich die Leute etwas vorgemacht haben, indem sie sagten: Naja, es ist nur online. […] Aber das ist längst vorbei. Ich denke, es gibt eine Reihe von Ereignissen, die eindeutig mit den Vorgängen in den sozialen Medien in Verbindung gebracht werden können. Denken Sie nur an den 6. Januar 2021, den Aufstand in Washington DC ["Sturm auf das Kapitol"]. Der wurde offen auf den Plattformen organisiert. Und dann wurde es gewalttätig, weil diese Leute miteinander sprachen und die Gewalt in den sozialen Medien planten. Also, zu sagen, es bleibt nur online, halte ich für nicht mehr haltbar. Ganz im Gegenteil, was online passiert, hat zunehmend auch offline Konsequenzen.
Das Gespräch führte Christian Friedewald.
MDR
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 04. August 2024 | 19:38 Uhr